9punkt - Die Debattenrundschau

Kant würde Waffen liefern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2023. Der Guardian fürchtet, die amerikanischen Geheimdienste sind zu aufgebläht, langsam und komplex, um ihr Wissen unter Kontrolle zu halten. In der FR nimmt der Philosophieprofessor Markus Tiedemann Immanuel Kant gegen die Pazifisten in Schutz. Die FAS widerspricht Alexander Kluges Idee vom Krieg als großem Gleichmacher. In der taz opponiert die Feministin Luise F. Pusch gegen das Selbstbestimmungsgesetz. In der NYTimes fordert Thomas Friedman die Journalisten auf, nach China zu gehen: If you don't go, you don't know.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2023 finden Sie hier

Europa

Dass ein wichtigtuerischer Anarcho wie der nun ageklagte Jack Teixeira die hochgeheimen Pentagon-Dokumente an die Öffentlichkeit bringen konnte, macht den Guardian fassunglos: Es stellen sich sofort zwei große politische Fragen. Wie konnte jemand, der in der Nahrungskette der Geheimdienste so weit unten steht wie Teixeira an solches Material herankommen? Ein Teil der Antwort liegt in der unüberschaubaren Menge an Material, über die die US-Regierung verfügt. Jahrzehntelang wurde behauptet, die Geheimdienste seien zu aufgebläht, zu langsam und zu komplex, um sich selbst darüber im Klaren zu sein, was geheim sein muss und wer Zugang dazu haben sollte. Die digitale Revolution hat diesen Prozess noch schwieriger gemacht. Aber wie die Ereignisse von WikiLeaks bis hin zu den Pentagon-Leaks zeigen, sind die Regierungssysteme nicht unbedingt zweckmäßig. Die andere Frage ist das Ausmaß des Schadens. Der wichtigste Aspekt aus europäischer Sicht sind die dokumentierten Zweifel an der Fähigkeit der Ukraine, sich gegen russische Luftwaffe zu verteidigen. Diese Informationen hätten niemals in dieser Form an die Öffentlichkeit gelangen dürfen."
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Ideen

Ja klar, auch FAS-Autor Tobias Rüther bewundert Alexander Kluge für seine geistreichen Aperçus und mitreißende Gedankensprünge. Aber dass er mit seiner "Kriegsfibel 2023" einen Neuanfang behauptet, ohne sein Denken zu verändern, bemerkt Rüther auch: "Wann immer es konkreter zu werden droht, wechselt Kluge aufs nächste Feld, in den Mythos, zu Alexander dem Großen - und einmal zu Anna Wilde, einer Freundin seiner Mutter, die beim Luftangriff auf Kluges Heimatstadt Halberstadt 1945 mit ihren Kindern in den Wald floh: 'An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat, sie soll nur aufhören', habe die gesagt. Da ist sie wieder, die Idee des Kriegs als großer Gleichmacher von Angreifer und Angegriffenem. Kluge sagt, in dieser Fibel und in Interviews, dass er sich schon jetzt lieber mit der Frage beschäftige, was nach dem Ukrainekrieg kommen werde. Sehr nachvollziehbar, aber was soll das für ein Frieden werden, wenn er damit beginnt, die Frage nach Verantwortung auszuklammern? Im Geiste einer 'Generosität' (Kluges Wort), die so verlogen ist? Was soll die Ukraine eigentlich noch alles leisten und ertragen?" Dagegen stellt Rüther Marcel Beyers Poetikvorlesungen "Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha", in denen Beyer ein Ezählen stark macht, das auf die Fiktion verzichte, nicht aber auf die Imagination.

Die Friedensmärsche, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen, können sich nicht auf Immanuel Kant berufen, stellt der in Dresden Philosophie lehrende Markus Tiedemann in der FR klar, was Immanuel Kant seiner Ansicht nach von Waffenlieferungen an die Ukraine gehalten hätte: "Ein Aggressor darf nicht triumphieren. Auch Kant befürwortet ein Verteidigungsrecht von Personen und Staaten. Zudem ist es legitim, wenn die Völkergemeinschaft Aggressoren sanktioniert und Überfallenen militärisch zu Hilfe eilt. Das Recht muss verteidigt werden. Auch Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Ukraine militärisch siegen muss. Dieses Ergebnis mag wünschenswert sein, moralisch alternativlos ist es nicht. Frieden, nicht Sieg ist ein Gebot der praktischen Vernunft. Kant würde Waffen liefern, aber diese Unterstützung an mindestens eine Bedingung knüpfen: auch der Verteidiger muss zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand bereit sein."

In der NZZ hält der Philosoph Konrad Liessmann nichts von einer verbalen Dramatisierung in Sachen Klimawandel. Begrifflichkeiten wie "Klima-Krise" oder "Klima-Katastrophe" führen in die Irre: "Solch eine drastische Überzeichnung ist bedenklich, da sie sich auf einen imaginierten Klimakollaps bezieht und dabei die Realität des Klimawandels aus den Augen verliert. Denn dieser führt zunehmend zu vielen kleinen Katastrophen. Sie sind zwar nicht so spektakulär wie das Weltende, aber man kann sie lokalisieren und versuchen, ihnen auf mehreren Ebenen zu begegnen. Entscheidend ist nicht ein einmaliges katastrophales Ereignis, der große Zusammenbruch, sondern sind die zahlreichen, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen stattfindenden Auswirkungen eines sich rapide wandelnden Klimas. Der vermeintlich schwache und beschönigende Begriff des Klimawandels erweist sich bei genauerer Betrachtung als der realistische und damit eigentlich starke Terminus. Im Begriff des Wandels steckt eine Unerbittlichkeit, die ziemlich präzise beschreibt, was in Klimafragen auf uns zukommt."
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Gesellschaft

In einem berührenden Gespräch mit Jan Feddersen spricht die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch über ihre lesbische Liebe, ihre Romane und mögliche Varianten für den Genderstern. Dass sie mit ihrer Kritik am geplanten Selbstbestimmungsgesetz als transfeindlich diffamiert wird, kann sie aushalten, wie sie sagt: "Das geplante Gesetz ist nicht genügend durchdacht und lädt zum Missbrauch ein. Diese Erkenntnis setzt sich international immer mehr durch, ausgehend von Großbritannien, wo das Selbstbestimmungsgesetz ohne sorgfältige Rechtsfolgenabschätzung zu einer Regierungskrise in Schottland geführt hat. Ein rechtskräftig verurteilter Vergewaltiger hatte sich zur Frau erklärt, um in ein Frauengefängnis zu kommen. Das hat die Gesellschaft einfach nicht mehr hingenommen, und die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon musste abdanken. Frauen haben ein Recht auf Schutzräume vor Männergewalt, sei es in einem Gefängnis, auf einer Krankenstation, in einem Frauenhaus oder in einer Sauna."
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Politik

Im taz-Interview mit Stefan Reinecke und Sabine am Orde blickt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher auf die Krise des Konservatismus, der etwa in den USA und in Frankreich von der autoritären Rechten überrollt werde. Kulturkämpferische Anti-Wokeness sei verführerisch, aber eine Falle für den Konservatismus, glaubt Biebricher: "Es ist eine billige Art, Politik zu machen - sie kostet wenig Geld. Und man holt sich weniger blutige Nasen, als wenn man sich an einer Rentenreform oder Sparpolitik versucht. Und es ist als politische Kommunikation potent, weil es vermeintlich unkompliziert ist, leicht verfängt und ein enormes Empörungspotenzial hat. Allerdings ist dieser Feind für gemäßigte Konservative auch ein vergiftetes Geschenk. Denn bei diesem Diskurs verschwimmt der Unterschied zum rechten Rand. Das ist eine Falle, in die Konservative - etwa in Frankreich und Großbritannien - oft getappt sind."

Es muss ja nicht gerade ein Totalverbot für E-Roller sein, wie es in Paris droht, aber einige Einschränkungen würde auch Tim Niendorf in der FAZ dringend empfehlen - angesichts hohler Versprechen, Elektroschrottberge und zugestellter Bürgersteiger: "Da vor allem betrunkene Jugendliche und junge Erwachsene Unfälle verursachen, hat etwa Oslo ein Nachtfahrverbot verhängt, in Helsinki wurde nachts die Höchstgeschwindigkeit deutlich reduziert. Das ist sinnvoll, wie auch der Plan mancher Stadtverwaltungen, die Zahl der Leihroller zu begrenzen. Andere Städte setzen auf feste Abstellflächen. Machte dies Schule, nähme das den Rollern manchen Reiz. Denn niemand möchte erst 500 Meter laufen, um dann einen Kilometer zu fahren. Eine mögliche Lösung wäre es, wenn Städte zumindest an Bahnhöfen sowie S- und U-Bahn-Stationen feste Parkplätze für E-Scooter auswiesen. Für jeden Falschparker könnte es - wie bei Autos auch - einen Strafzettel geben."
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Medien

In der New York Times kehrt Kolumnist Thomas Friedman von einer Reise nach China zurück, wo er einen völlig unerwarteten und verstörenden Mix aus Überwachungsstaat, ökonomischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wohlbehagen erlebte. Diese Fremdheit ist das Problem: "Die Rückkehr nach Peking erinnerte mich an meine oberste journalistische Regel: If you don't go, you don't know. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern haben sich so schnell so gravierend verschlechtert und unsere Kontakte so stark reduziert - es gibt nur noch sehr wenige amerikanische Reporter in China, und unsere Politiker sprechen kaum noch miteinander -, dass wir jetzt zwei riesigen Gorillas ähneln, die einander durch ein Nadelöhr betrachten. Daraus wird nichts Gutes entstehen."

In der FAZ huldigt Marc Zitzmann dem Pariser Kunstmagazin La Tribune de l'Art von Didier Rykner, das sehr erfolgreich als reines Onlinemedium mit engagierten, oft investigativen Recherchen gegen Unverstand und Ausverkauf im Kunstbetrieb angeht: "Rykner geißelt rechte wie linke Kulturminister; er schilt die 'Kaprize' des rechtszentristischen Präsidenten Macron, Notre-Dame so übereilt wiederaufbauen zu wollen, dass darob archäologische Grabungen vernachlässigt werden, trotz sensationeller Funde; er ist aber auch die Nemesis der sozialistischen Bürgermeisterin von Paris, deren Raubbau am Bauerbe er in Dutzenden von Artikeln anprangert. Kraft profunder Recherche, solider Quellen und stringenter Argumentationsführung ist La Tribune de l'Art inhaltlich kaum je angreifbar."

In der Welt porträtiert Mara Delius die britische Journalistin Hella Pick, die 1939 mit einem jüdischen Kindertransport nach London gerettet wurde und als Erwachsene zum Guardian ging: "Als eine der ersten Frauen überhaupt berichtet sie aus den um ihre Unabhängigkeit verhandelnden Kolonien in Afrika, von der Bürgerrechtsbewegung in Amerika, spät er von den Umschwüngen in Osteuropa."
Archiv: Medien