9punkt - Die Debattenrundschau

Die vierte narzisstische Verletzung des Menschen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2022. Verhandlungen mit Russland ja, aber erst wenn es auf die Linien vor dem 24. Februar zurückgedrängt ist, schreibt die  Historikerin Liana Fix in Zeit online.  In der Welt geht Thomas Schmid der italienischen Russland-Liebe auf den Grund. Verschiedene Medien berichten über den "Schlesinger-Filz" beim RBB. In der Welt erinnert der Historiker Thomas Weber die russischen Eliten an die deutschen am 20. Juli: "Es braucht regimetreue Persönlichkeiten, die sich gegen Putin wenden und zur Tat schreiten."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.07.2022 finden Sie hier

Europa

Vor Verhandlungen mit Putin muss klar sein: Putin will die völlige Vernichtung der Ukraine, die USA aus Europa drängen und eine neutrale Pufferzone im Osten errichten, hält die Historikerin Liana Fix auf ZeitOnline fest. Voraussetzung für einen Waffenstillstand sei deshalb die Sicherung der "Existenz der Ukraine als politisch, wirtschaftlich und militärisch unabhängiger Staat innerhalb seiner international anerkannten Grenzen", fährt sie fort: "Das Ziel für einen realistischen Waffenstillstand muss es sein, Russland so weit wie möglich zu den Frontverläufen vor Ausbruch des Krieges zurückzudrängen - idealerweise zu den Linien des 23. Februar, aber zumindest in die Nähe. Die Ukraine kann dies jedoch nicht allein erreichen, sondern nur, wenn westliche Waffenlieferungen und Training auf dieses Ziel kalibriert werden, statt tröpfchenweise und eklektisch einzutreffen. So paradox es klingt: Für einen realistischen Waffenstillstand müssen zuerst mehr Waffen geliefert werden. Nur so kann eine angemessene Verhandlungssituation entstehen."

Sollte Mario Draghi am heutigen Mittwoch gehen, könnten die linken und rechten Populisten auftrumpfen und die Russlandliebe vieler Italiener ausnutzen, schreibt Thomas Schmid in der Welt und auf seinem Blog: "Diese italienische Russophilie hat mehrere Gründe. Sicher spielt die ehemalige Stärke der kommunistischen Partei eine Rolle, die in ihren besten Zeiten mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen konnte, also eine wirkliche Volkspartei war. Auch wenn sie sich - langsam, langsam - von der Sowjetunion abgewandt hat, ist wohl in weiten Teilen der Bevölkerung eine gewisse Zuneigung zu Russland geblieben. Und diese hat zuletzt auch aufs rechte Spektrum übergegriffen. Heute sind es nicht nur, aber vor allem die zahlreichen Rechtsradikalen Italiens, die Putin wegen seiner völkischen und kompromisslos antidemokratischen Haltung bewundern. Es könnte gut sein, dass eine Mehrheit der Italiener die Haltung der EU zum Ukraine-Krieg für falsch hält. Die einstige Stärke der KP wie auch das unkritische Verhältnis zu Russland haben vermutlich viel mit einer alten Crux des Landes zu tun: mit der Tatsache, dass Italien keine wirkliche Auseinandersetzung mit seiner faschistischen Vergangenheit betrieben hat."
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Medien

Wütend attackiert Georg Diez in seiner taz-Kolumne die FAZ und Springer-Medien und deren Artikel gegen Emily Dische-Becker (unsere Resümees). Lena Bopp hatte der Organisatorin der "Hijacking Memory"-Konferenz in der FAZ vorgeworfen, in einer hisbollah-nahen Zeitschrift publiziert zu haben (Dische-Becker wirft der FAZ Falschinformation vor, worauf diese bisher nicht reagiert). Diez sieht darin und allgemein in der Kritik an BDS eine Tendenz, "wie in der Kommunistenjagd des US-Senators McCarthy in den 1950er Jahren, das Persönliche und das Politische mit dem Geopolitischen" zu vermischen. "Zerstört werden Leben, zerstört werden Karrieren, zerstört wird aber auch der Diskurs in einer offenen, freien Form - genau von denen, die immer überall Zensur schreien, wenn sich Minderheiten oder einfach Menschen mit anderer Meinung melden, angereichert mit Springer-typischem Doppelstandard: Dische-Becker wird mit einer Serie schlecht recherchierter Texte bedacht, dem ukrainischen Botschafter, Anhänger des Faschisten und Antisemiten Bandera, wird huldvoll zum Abschied gedankt." Mehr zum Thema in der Jüdischen Allgemeinen.

Vom "Schlesinger-Filz" berichtete unter anderem der Tagesspiegel - nach Recherchen des Magazins Business Insider: Gerhard Spörl, der Ehemann von RBB-Intendantin und ARD-Chefin Patricia Schlesinger bekam durch Vermittlung des RBB-Verwaltungsratchefs Wolf-Dieter Wolf einen lukrativen Beratervertrag. (Unser Resümee) Gestern kam es zur Anhörung im Landtag in Brandenburg, Patricia Schlesinger ließ sich ohne Angabe von Gründen entschuldigen. Von einem weiteren "Hammer" berichtet Georg Altrogge in der Welt: Der Sender lege "alle Planungen für das Mega-Projekt Digitales Medienhaus auf Eis. … Nur Stunden vorher hatte Welt die Pressestelle mit prekären Details zur Finanzierung über einen vom RBB angebahnten Millionenkredit bei einer Privatbank zur Finanzierung des Neubaus konfrontiert." Laut Welt-Recherche plante der Sender eine Kreditaufnahme in Höhe von 31 Millionen Euro. "Laut der Beschlussvorlage 38/2022, so der interne Titel, verweist die Intendantin darauf, 'in nicht unerheblichem Umfang mit eigenen finanziellen Mitteln für das Bauprojekt in Vorleistung getreten' zu sein. (...) Wäre die Kreditaufnahme wie von Schlesinger gefordert bis zum Mittwoch kommender Woche (27. Juli) durch das Gremium beschlossen worden, hätte dies für die Beitragszahler erhebliche Folgen nach sich gezogen. Die unterschriftsreif vorliegenden Vertragsentwürfe sahen eine Laufzeit von 30 Jahren vor, der Sender kalkulierte demnach mit einem Zinssatz von bis zu 3,25 Prozent und Finanzierungskosten von bis zu einer Million Euro pro Jahr."
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Geschichte

Im großen ZeitOnline-Interview mit Johannes Böhme erklärt der in Yale lehrende Rechtshistoriker Samuel Moyn, weshalb es Russlands Zustimmung braucht, um Putin in Den Haag wegen des Angriffskrieges zu belangen und warum die Humanisierung des Krieges Kriege "moralisch akzeptabel" werden ließ: "Direkt nach der französischen Revolution versuchten Aktivisten, beides gleichzeitig abzuschaffen: den Krieg und die Sklaverei. Beides waren grausame, scheinbar vermeidbare Praktiken. Mit der Sklaverei waren sie erfolgreich, mit dem Krieg nicht. Es ist in Vergessenheit geraten, wie absurd die Abschaffung der Sklaverei vielen damals erschien. Es gab Menschen, welche die Sklaverei deshalb vor allem humaner machen wollten, etwas weniger grausam. Heute sehen wir, wie diese Anstrengungen eher dazu beigetragen haben, die Institution der Sklaverei zu festigen, zu bewahren, zu legitimieren." In den letzten Jahrzehnten habe auch die Friedensbewegung an Kraft verloren, meint er.

Nehmt euch ein Beispiel an Stauffenberg, ruft der Historiker Thomas Weber Moskaus Eliten in der Welt zu: "Es braucht regimetreue Persönlichkeiten, die sich gegen Putin wenden und zur Tat schreiten, wenn wir einen langen und brutalen Zermürbungskrieg und Jahre des Elends, der Armut und des Todes vermeiden wollen. Deshalb ist Stauffenberg ein Vorbild dafür, wie Regimetreue in Russland - und in allen Staaten, die sich der Tyrannei zuwenden - auf ihr Gewissen hören und einen Regimewechsel einleiten könnten. Die Einschätzungen westlicher Geheimdienste deuten darauf hin, dass unter den Regimetreuen in Russland die Unzufriedenheit mit dem Krieg wächst, weshalb der 20. Juli 2022 ein guter Zeitpunkt ist, um die Lehren des 20. Juli 1944 zu nutzen und die Menschen zu inspirieren, damit sie aktiv werden und erkennen, dass sie mit ihrer Unzufriedenheit nicht allein sind." Sein Rat: Kein Attentat, sondern auch mal "njet" sagen und die Regierungsstruktur untergraben.

In der SZ nimmt Joachim Käppner den Jahrestag indes zum Anlass, Extremisten jeder Couleur in Erinnerung zu rufen, was Widerstand eigentlich bedeutet: "Die Rückkehr des Krieges nach Europa durch Putins mörderischen Überfall auf die Ukraine lässt diejenigen im Westen, die sich berufen fühlen, 'Widerstand' gegen freiheitliche Rechtsstaaten zu leisten, als die Scharlatane erkennen, die sie sind, egal ob Brandsätze schleudernde Linke in Paris oder Rechtspopulisten in Deutschland, die 'Freiheit' rufen, wenn sie Unfreiheit meinen. Rechte wie linke Extremisten fordern gern 'Meinungsfreiheit' und beschimpfen den demokratischen Rechtsstaat als 'das System', klagen die 'die Mainstream-Medien' oder 'die Eliten' als geistige Unterjocher an, gegen die man sich wehren müsse. Selten wurde der Widerstandsbegriff auf durchsichtigere Weise instrumentalisiert. Die Meinungsfreiheit erlaubt es ihnen ganz selbstverständlich, auf den Straßen und im Netz nach Meinungsfreiheit zu schreien - auch wenn sie darunter vor allem die Freiheit verstehen, keine andere andere Meinung mehr hören zu müssen als die eigene Ideologie."
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Ideen

Bei der Frage, ob Biologie stützende Argumente für die Idee der Geschlechterfluidität bietet, sind Evolutionsbiologen wie Axel Meyer, mit dem sich Sonja Kastilan für die FAZ unterhält, regelmäßig eine Enttäuschung! "Als Naturwissenschaftler würde ich sagen, die Sache ist klar: Es gibt zwei Geschlechter. Punkt. In unserer Art wie in den anderen rund achttausend Arten von Säugetieren. Wie jemand angesprochen wird, mit welchem Pronomen, das ist wiederum eine sehr kulturelle Sache. Natürlich bin ich dafür, dass jeder Mensch nach seiner Façon leben kann, stets mit Toleranz und Respekt behandelt wird, ganz gleich, wie das Individuum sich empfindet, ohne dass eine Wertung stattfindet. Und das sind kulturelle, politische oder gesellschaftliche Fragen, die nicht mein Arbeitsgebiet betreffen."

Auch die Philosophin Bérénice Levet beschäftigt sich in ihrem Buch "L'Ecologie ou l'ivresse de la table rase" (Editions de l'Observatoire) kritisch mit der Ideologie der Geschlechterdifferenzen. Es ist allerdings ein Buch über die Grünen in Frankreich, die nie mit ihrer Fundi-Moral gebrochen haben und einiges von ihr auf Bürgermeisterposten durchsetzen wollen. Jürg Altwegg stellt Levet heute in der FAZ vor. Die Philosophin vergleiche  den Umbruch hin zu den neuen linken Ideologien "mit der Erschütterung, die Kopernikus, Darwin und Freud auslösten. Sie nennt es die 'vierte narzisstische Verletzung' des Menschen. Die Auflösung der Geschlechter geht mit seiner Abwertung zum 'Lebewesen' einher. Die Natur ist gut und der Mensch, dessen Tod die postmodernen Philosophen verkündet hatten, ihr Feind. Die Tiere haben in die 'Konkurrenz der Opfer' Einzug gehalten. In Tours ist eine Straße nach dem Elefanten Fritz benannt worden. Fritz brach 1902 aus einem Zirkus aus und wurde auf brutale Weise getötet."

"Ist die Entkolonialisierung der russischen Kultur möglich?", fragt der Historiker Andrii Portnov in der NZZ: "Es gibt in der Ukraine eine anhaltende Diskussion über Inhalt und Bedeutung einer neuen Politik gegenüber der russischen Kultur. Interessanterweise wird in dieser Diskussion oft auf die deutschen Erfahrungen verwiesen. Der Historiker Jaroslaw Hricak merkte an, dass die Ukrainer weiterhin Puschkin und Dostojewski lesen sollten, aber sie müssten lernen, deren 'Giftigkeit' zu verstehen. (…) Aus den Äußerungen von Hricak und anderen vernünftigen Stimmen wird deutlich, dass es nicht um ein vollständiges Verbot oder die Abschaffung der russischen Kultur geht, sondern um die Überwindung einer jahrhundertelang bestehenden Asymmetrie - der Folgen der Russifizierungspolitik des russländischen Reiches sowie der Sowjetunion. Deren Politik, einschließlich der Tabuisierung von Namen unerwünschter Autoren und des Verbots der Verwendung von ukrainischen Wörtern, die sich zu sehr vom Russischen unterscheiden, ist im Westen noch weitgehend unbekannt."
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Politik

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Stichwörter: Tokio