9punkt - Die Debattenrundschau

Die Bourgeois der Satire

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2022. Der Aufruf Alice Schwarzers und ihrer Weggenossen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine hat eine Menge zorniger Reaktionen ausgelöst: "Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr", schreibt der Musiker Wolfgang Müller in seinem Blog. Armin Nassehi nimmt auf Twitter Schwarzers Idee von einem "Kompromiss", den die Ukraine schließen solle, auseinander.  In der NZZ fragt sich Reinhard Mohr, wie lange das Selbstbild der SPD noch von der Verklärung der Ostpolitik getrübt sein wird. Und ist außer Putin auch Sergej Lawrow verrückt?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2022 finden Sie hier

Europa

Eine Flut meist nicht sehr freundlicher Reaktionen hat der Aufruf Alice Schwarzers und 27 weiterer Intellektueller und Künstler - darunter Martin Walser, Lars Eidinger, Juli Zeh, Robert Seethaler, Alexander Kluge, Antje Vollmer, Harald Welzer und Svenja Flaßpöhler  - zur Einstellung von Waffenlieferungen ausgelöst (unser Resümee).  

Sehr viel retweetet wurde ein Blogbeitrag des Musikers Wolfgang Müller (der dann auch bei Spiegel online übernommen wurde): "Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, respektive das Vergewaltigungs-Opfer als mitverantwortlich für einen drohenden Massen-Mord durch seine provozierende Gegenwehr zu brandmarken, ist zumindest bemerkenswert."

Die Zeit-Journalistin Mariam Lau fasst es kürzer.


Statt so einen dummen offenen Brief zu schreiben, hätten Schwarzer und Co. ja auch Zeichen setzen können, meint Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen, etwa indem sie "nach Kiew oder Mariupol reisen und sich dort auf die Plätze stellen, sich zwischen die Fronten begeben oder friedlich in Moskau gegen den Krieg protestieren... Günter Wallraff hat so in Athen gegen die griechische Militärjunta demonstriert. Petra Kelly solidarisierte sich mit einer solchen Aktion auf dem Alexanderplatz in Ostberlin mit der Opposition in der DDR. Martin Luther King schaffte es mit friedlichem, aber für ihn risikoreichem Marsch auf Washington sogar, den Rassismus in den USA zurückzudrängen. Für all diese Aktionen brauchte es Mut."

Der Soziologe Armin Nassehi, der von den Verfassern des Aufrufs zur Unterzeichnungen eingeladen wurde und dankend ablehnte, schreibt in einem Twitter-Thread:


Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch schreibt im Spiegel: "Nach dem Sieg der Ukraine, den ich diesem Land nicht nur von Herzen wünsche, sondern an den ich auch aus ganzem Herzen glaube, werden die Unterzeichner des Briefes sich bis ans Lebensende für ihre Unterschriften schämen, und die Welt wird ihnen und ihresgleichen nicht vergessen, dass sie im Augenblick der Bewährung für den Stärkeren Partei ergriffen haben - für den Bösen - und gegen diejenigen aufgetreten sind, die ihre Heimat vor Kriegsverbrechern zu verteidigen suchten."

Im Interview mit dem Tagesspiegel warnt der Schauspieler Edgar Selge, einer der Mitunterzeichner des Offenen Briefes, davor, die Ukraine "mit Waffen vollzupumpen ... Wir müssen die Ukrainer eher dazu bringen, sich zu fragen, wie viele Menschen sie in diesem Verteidigungskampf noch opfern wollen. Sie können diesen Krieg gegen Putin nicht gewinnen, auch wenn ihnen das die Amerikaner, die selbst längst vergessen haben, was es heißt, einen Krieg im eigenen Land zu führen, immer wieder suggerieren."

Genau diese Art von Ratschlägen, die der ukrainischen Regierung "die alleinige 'Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit' ihres Verteidigungskampfes absprechen", findet Martin Benninghoff (FR) besonders "ärgerlich": "Ähnlich hatte sich der Publizist Richard David Precht geäußert. Kurzum: Die Ukraine soll ihren Kampf aufgeben und damit Krieg und Blutvergießen beenden. Das fragwürdige Argument unterstellt, dass die Menschen zwischen Lwiw und Mariupol in einer von Russland besetzten Ukraine ihres Lebens sicher seien. Doch der Kriegsverlauf entlarvt solches Denken als bestenfalls naiv: die Morde in Butscha, Vergewaltigungen und Hinrichtungen zeigen, dass der Verteidigungskampf der Ukrainer und Ukrainerinnen nicht nur ein Kampf um territoriale Integrität ist, sondern auch um ihre individuelle körperliche Unversertheit."

Die taz widmet Alice Schwarzers Aufruf ihre Seite 1. Der Brief "zeugt nicht nur von fehlendem historischen Verständnis, er lässt auch Empathie für die Ukrainer vermissen", meint Klaus Hillenbrand, der die Angst vor dem dritten Weltkrieg zwar sehr gut nachvollziehen kann: "Allerdings stellt sich die Frage nach dem drohenden Weltkrieg auch für den Fall, dass die russische Seite ihre laufende 'Spezialoperation' gewinnt. Denn dies könnte die Staatsspitze in ihrem Kurs der Revision von Grenzen und dem Auslöschen von Staaten in Europa noch bestärken - und zu einem zweiten Waffengang reizen."

Der Observer-Kolumnist Nick Cohen greift in Yascha Mounks Blog Persuasion nochmal das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie gegenüber Russland auf und kritisiert vor allem deren "Nie wieder" als heuchlerisch: "dass Distanzierung von Verbrechen der Vergangenheit in der Gegenwart Gewinne bringen kann. Weit davon entfernt, konsequent antifaschistisch zu sein, ahmen die schlimmsten Leute in Deutschland Schröder nach, indem sie den verwöhnten, selbstgefälligen Bourgeois der Satire ähneln. Sie reden tugendhaftes Zeug, während sie sich die Taschen vollstopfen."

In der FAZ beleuchtet Mona Jaeger nochmal das Verhältnis der SPD zu Gerhard Schröder, der zwar in der Partei nicht immer beliebt gewesen sei, allerdings nicht wegen seiner weithin geteilten Russland-Liebe: "Keiner Partei ist einer wie Schröder zu wünschen. Die SPD wird ein Ausschlussverfahren gegen ihn führen müssen." Über Schröder schreibt auch noch mal die New-York-Times-Korrespondentin Katrin Brennhold mit der etwas großkotzigen Unterzeile "Nachdem Gerhard Schröder mit der Times gesprochen hat, könnte er aus seiner Partei ausgeschlossen und von einigen steuerfinanzierten Vergünstigungen, die er als ehemaliger Bundeskanzler genießt, abgeschnitten werden".

Viele fragen sich, ob Putin verrückt ist. Aber wie steht's mit seinem Außenminister Sergej Lawrow? Interviewt vom italienischen Radio Rete 4 hat er laut dem Zitat von Repubblica an der Behauptung festgehalten, die Ukraine werde von Nazis regiert: "Dass Präsident Wolodymyr Selenski Jude ist, hat keine Bedeutung. Meiner Meinung nach war auch Hitler jüdischer Herkunft."Der Guardian zitierte Lawrow kürzlich auch mit Sätzen, die eines A. Dirk Moses würdig wären: "Je eher sich der Westen mit den 'neuen geopolitischen Realitäten' abfinde, desto besser sei es für ihn selbst und die internationale Gemeinschaft, warnte Lawrow. 'Unsere Spezialoperation in der Ukraine trägt auch dazu bei, die Welt von der neokolonialen Unterdrückung des Westens zu befreien, die stark mit Rassismus und einem Exklusivitätskomplex vermischt ist', sagte er." Israel hat wegen Lawrows Hitler-Bemerkung inzwischen den russischen Botschafter einbestellt, meldet Ha'aretz.
Archiv: Europa

Politik

Richard Herzinger fordert in seinem Blog eine Allianz der Demokratien als Reaktion auf Russlands Krieg: "Diese Allianz  muss insbesondere in den Vereinten Nationen aktiv werden, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine faktisch außer Funktion gesetzt ist. Mit einer Vetomacht im Sicherheitsrat, die die UN-Prinzipien aggressiv negiert, gibt es für die Weltorganisation keine Zukunft mehr. Die Allianz der Demokratien müsste daher den Nukleus für eine von Grund auf erneuerte oder sogar neu zu gründende UN bilden."
Archiv: Politik
Stichwörter: Vereinte Nationen

Medien

Die deutschen Talkshows haben eine große Verantwortung in den Jahren seit der Besetzung der Krim für die Stärkung putinistischer Positionen, schreibt Marcus Welsch bei den Salonkolumnisten, der die Gästelisten in Talkshows zum Thema Russland ausgewertet hat: "Vom Zeitpunkt der Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 bis zum Abend unmittelbar vor dem Angriff am 24. Februar sendeten ARD, ZDF und Phoenix über hundert Talkshows und Gesprächsrunden zur Politik Russlands. Unter den über 200 Gästen, die an diesen Runden teilnahmen, konnte sich ausgerechnet der Gazprom- und Putin-Lobbyist Alexander Rahr über die meisten Einladungen freuen. Auch die weiteren Stammgäste leisteten keinen Beitrag zu echter Ausgewogenheit: Unter den Top 10 der am häufigsten vertretenen Studiogäste fallen mit Dietmar Bartsch, Hubert Seipel, Gabriele Krone-Schmalz, Dmitri Tultschinski und Harald Kujat eine Reihe Redner auf, die durch eine dezidiert verständnisvolle und nachsichtige Haltung zur russischen Politik hervorgetreten sind - um es diplomatisch auszudrücken."
Archiv: Medien

Geschichte

In der NZZ beschreibt der russische Autor Nikolai Kononow die "zusammengewürfelte Gruppe von Gehilfen" Putins, die ihm beim Basteln seines Weltbildes halfen. Und Kersten Knipp erinnert angesichts der ausländischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen wollen, an die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. In der FR blickt Arno Widmann 25 Jahre zurück auf den Tag, als Tony Blair Premierminister Britanniens wurde und der "Aufstieg der City of London zum wichtigsten Industriezweig der Insel" begann.
Archiv: Geschichte

Ideen

Russlands Krieg gegen die Ukraine kratzt an den Lebenslügen einer deutschen Linken, die "in weiten Teilen einen verklärten Blick auf die Sowjetunion und ihren deutschen Frontstaat, die DDR" hatte, während sie sich an den USA abarbeitete, meint Eckart Lohse in der FAS. Das prägte auch die Lehren aus der Geschichte, die gezogen werden sollten: "In Westdeutschland wurde die nationalsozialistische Diktatur jahrzehntelang aufgearbeitet; auch heutige Schülergenerationen wurden mit dieser Katastrophe der Eltern, Groß- und Urgroßeltern konfrontiert. Vergleichbares geschah weder in der Sowjetunion noch anschließend in Russland auch nur annähernd in diesem Maß mit dem stalinistischen Erbe. Im Gegenteil: Putin konnte seine auf Expansion angelegte Diktatur auf dem Versprechen errichten, das Erbe des glorreichen Sowjetimperiums zu retten. Weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft war das aber entgangen."

In der NZZ denkt Reinhard Mohr darüber nach, warum es so schwer ist, alte, liebgewordene Überzeugungen zu hinterfragen. "Das verklärende Weltbild aus der Zeit von Willy Brandts Ostpolitik trübt noch fünfzig Jahre später den klaren, analytischen Blick auf die längst tiefgreifend veränderte Wirklichkeit. Der vor allem für die Sozialdemokraten typische Rückgriff auf die Ära der Entspannungspolitik ist zur Ideologie erstarrt. Diese wird angereichert durch eine diffuse Russophilie, Schuldgefühle aus der Nazizeit, die merkwürdigerweise gegenüber Tschechien und Polen geringer zu sein scheinen, und einen tiefen Glauben an die Macht der Verständigung durch Worte und Gesten. Das ebenso wohlfeile wie denkfaule Motto lautet: Wer redet, schießt nicht." Es ist gefährlich, "die Sicherheit eines festgefügten Weltbilds" zu verlieren, "das auch in schwierigen Fragen einfache Antworten liefert - oder sie geschichtsphilosophisch so weit in die Zukunft vertagt, dass sowieso niemand ihre Triftigkeit überprüfen kann. ... Das 'Denken ohne Geländer' (Hannah Arendt) setzt die Fähigkeit zur Selbstkritik voraus, eine Identität als Prozess, der auch ohne ständige Zufuhr von Nestwärme auskommt - dazu das Risiko, neue Irrtümer zu begehen. Eine zuweilen ungemütliche Angelegenheit, die sich geistige Freiheit nennt."
Archiv: Ideen