9punkt - Die Debattenrundschau

Sehr bedeutende Schwesterkirche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2022. Viel Rätseln um Twitter: Seine libertären Vorstellungen von total freier Rede wird der neue Besitzer Elon Musk in der EU kaum verwirklichen können, meint Netzpolitik. Macht speiste sich in der SPD aus guten Beziehungen zu Russland, sagt Marina Weisband in der FAZ - und darum ist jetzt der Katzenjammer so groß. Frederik Stjernfelt erinnert im Perlentaucher an den Aufklärer Johann Friedrich Struensee, der vor 250 Jahren hingerichtet wurde. In der Welt erklärt Pater Nikodemus Schnabel, warum der Papst so nett zu Kyrill ist. Bayern hat einen Totalschaden vor dem Bundesverfassungsgericht erlitten, zu Recht, findet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2022 finden Sie hier

Europa

Unter Druck gesetzt vor allem von den internationalen Partnern konnte Olaf Scholz auf der von den Amerikanern einberufenen Konferenz in Ramstein nicht mehr ausweichen: Die Bundesregierung liefert demnächst Gepard-Panzer an die Ukraine, also schwere Waffen, und das ist richtig so, schreibt Tobias Schulze in der taz: "Solche Sätze schreiben sich nicht leicht. An dieser Stelle wären sie noch vor wenigen Wochen höchstens als Außenseitermeinung denkbar gewesen. In der Politik hätten die Exporte keine Mehrheit gefunden, in der Bevölkerung erst recht nicht. Aber die Situation ist nun mal eine sehr spezielle. Der Ukrainekrieg ist viel eindeutiger als etliche andere Konflikte: Aggressor und Opfer sind klar unterscheidbar, ein auch nur halbwegs legitimer Kriegsgrund ist nicht gegeben und die Souveränität einer einigermaßen funktionierenden Demokratie in Europa ist in Gefahr."

Bei weitem die meisten Waffenlieferungen kommen aus den USA berichten Lorenz Hemicker und Thomas Gutschker in der FAZ von der Ramstein-Konferenz. Aber auch die Niederlande liefern etwa die Panzerhaubitze 2000 aus deutscher Produktion mit einer 155-Millimeter-Kanone, deren Reichweiter bis zu 80 Kilometer erreicht: "Die Haubitze bekommt ihre Zielkoordinaten idealerweise von einem Beobachter im Feld übermittelt. Das kann ein Soldat sein, der das Ziel mit einem Lasergerät markiert, oder eine Drohne. Deutschland und die Niederlande setzen dafür das Kleinfluggerät Zielortung (KZO) ein. So sollen Ziele bis auf einen Meter genau getroffen werden können, und das auch noch, wenn sie sich bewegen."

Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung internationalisiert sich, kündigt Nawalnys Mitarbeiter Leonid Volkov auf Twitter an. Auf ihrer Website will die Stiftung sämtliche Personen benennen, denen westliche Sanktionen gelten sollten.


Eine interessante These zu den störrischen SPD-Politikern, die jetzt wegen ihrer innigen Russlandbeziehungen auf dem falschen Fuß erwischt wurden, entwickelt die ehemalige Piratin Marina Weisband im Gespräch mit Elena Witzeck von der FAZ: "In einer Organisation steigen diejenigen zu Macht auf, die Zugang zu knappen Ressourcen haben. So ist etwa in der SPD politische Macht durch gute Beziehungen nach Russland zustande gekommen. Eine Kehrtwende bedeutet für diese Leute, dass sie ihre Macht und ihre Privilegien verlieren, weil ihre guten Beziehungen zu Russland nichts mehr wert sind. Das erklärt nicht nur, warum die Energiewende in den letzten Jahren so effizient verhindert wurde."

Weiteres: Ebenfalls in der FAZ berichten Tobias Schrörs über die Frage, welche Rolle sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg spielt, und Michaela Wiegel über das Gerücht, dass Olaf Scholz und Emmanuel Macron gemeinsam nach Kiew reisen.

In der SZ berichtet Kai Strittmatter über den immer wahrscheinlicheren Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens: "Die finnische Zeitung Iltalehti meldete am Dienstag als erste, die schwedische Regierung habe Finnlands Führung gebeten, im Falle des erwarteten positiven Beschlusses zur Nato in Helsinki doch bitte noch ein wenig auf Schweden zu warten, damit man gemeinsam den Antrag einreichen könne. Die schwedische Zeitung Expressen bestätigte die Bitte. Es könnte alles eine Sache von wenigen Wochen sein". Und Cathrin Kahlweit fragt: Wird Transnistrien zum nächsten Ziel der russischen Aggression? Ein hochrangiger russischer "Militär sagte in Swerdlowsk, die angestrebte Kontrolle über die Südukraine eröffne den russischen Streitkräften auch Zugang zu Transnistrien, wo es Hinweise auf eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung gebe. Die Befreiung russischsprachiger Bürger ist eines der zahlreichen Narrative des Kremls für die Rechtfertigung des Überfalls auf das Nachbarland."
Archiv: Europa

Internet

Elon Musk hat für 44 Milliarden Dollar Twitter gekauft. Twitter muss künftig viel Gewinn machen, erläutert eine Autorengruppe in der taz, denn aus diesem Gewinn will Musk den Kaufpreis refinanzieren. Und was folgt inhaltlich? "Musk hatte in den vergangenen Wochen mit seinen Tweets Unmengen an Fragen aufgeworfen. Immer wieder betont er, dass er Twitter zu einer globalen Plattform für Redefreiheit umbauen will. Dazu möchte er bestehende Moderationsrichtlinien, die Gewaltandrohung, Belästigung oder das Spamming verbieten, abschaffen - und eventuell eine Authentifizierung der Nutzer oder eine Klarnamenspflicht einführen. Außerdem will er den Algorithmus offenlegen. Er sieht Twitter als 'Marktplatz' an, auf dem jeder seine Meinung frei sagen dürfe. Was Musk dabei ignoriert: Zwar gibt es in den USA keine so strengen Gesetze wie hier in Deutschland, aber auch Plattformen wie Twitter dürfen nicht einfach tun und lassen, was sie wollen."

Da ist auch das neue Digitale Dienste Gesetz (Digital Services Act) vor, auf das sich die EU am Freitag geeinigt hat, meint Alexander Fanta bei Netzpolitik. Tatsächlich hat Twitter längst Meldesystem für illegale Inhalte. Auch Musks Vorschlag, die Timeline Twitters als Open Source den Nutzern in die Hand zu geben, wäre im Sinne des neuen Gesetzes. Eine große Einschränkung für Twitter wäre allerdings, wenn es als "sehr große Online-Plattform" mit mehr als 45 Millionen Nutzern eingestuft wird (ob es so viele hat ist laut Fanta unklar). Dann könnte Twitter seine Moderation von Inhalten nicht wie geplant herunterfahren: "Sehr große Plattformen müssen in der EU künftig Risikoeinschätzungen sowie konkrete Pläne vorlegen, wie sie die Verbreitung illegaler Inhalte und gefährlicher Desinformation bekämpfen sowie Grundrechte schützen wollen. ... Die EU schreibt in ihrer neuen Verordnung vor, dass unabhängige Stellen überprüfen müssen, ob die selbstgewählten Maßnahmen einer Plattform wirklich ausreichen. Sollte das nicht der Fall sein, erlaubt das Digitale-Dienste-Gesetz den EU-Behörden, den Plattformen eine Stärkung ihrer Maßnahmen anzuordnen und notfalls auch Strafen zu verteilen."

Eine interessante Meinungsäußerung zu dem Kauf findet sich von Amazon-Boss Jeff Bezos, der sich damit begnügt, die Washington Post zu besitzen.

Der EuGH hat gestern eine Klage Polens gegen das umstrittene neue Urheberrechtsgesetz der EU abgewiesen, berichtet Zeit online, und den Einsatz von Uploadfiltern zur "Vorauswahl" möglicherweise rechtswidriger Inhalte erlaubt. Das Gesetz sehe immerhin "präzise Grenzen" für den Einsatz vor, begründet der EuGH seine Entscheidung: "Der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken sieht in dem Urteil einen Pyrrhussieg für die Befürworter von Uploadfiltern. Der EuGH habe die Filter zwar grundsätzlich für rechtmäßig erklärt. Gleichzeitig hätten die Richter jedoch klargestellt, dass dies nur der Fall sei, 'weil das Sperren oder Filtern rechtmäßiger Inhalte explizit ausgeschlossen ist'. Unzuverlässige Filter dürften somit nicht eingesetzt werden. Der Piraten-Politiker Patrick Breyer sprach von einem 'Teilerfolg gegen Internetzensur'. Der EuGH habe 'hohe und von den bisherigen unzuverlässigen Filteralgorithmen kaum zu erfüllende Anforderungen' gestellt. Die Verfahren von Konzernen wie Facebook oder Google genügten diesen Anforderungen nicht."
Archiv: Internet

Geschichte

Das denkmalsüchtige 19. Jahrhundert hat den Aufklärer Johann Friedrich Struensee vergessen, kein Denkmal, nirgends, auch nicht etwa in Hamburg-Altona, der damals zweitgrößten dänischen Stadt, wo er vor Kopenhagen wirkte. Geboren wurde er in Halle. Und im Jahr 2010 wurde ihm am Contor-Gymnasium eine Plakette gewidmet.
Vor 250 Jahren wurde in Kopenhagen der Altonaer Arzt und Aufklärer Johann Friedrich Struensee  hingerichtet. Er hatte als Regent des dänischen Königs Christian VII. als erster in Europa Pressefreiheit eingeführt und eine Menge andere Reformen angestoßen. Doch eine Affäre mit Königin Caroline Mathilde wurde ihm zum Verhängnis. Mit der Hinrichtung wurden seine Reformen einkassiert, und doch waren sie mit ihm in der Welt. Frederik Stjernfelt erzählt die Geschichte im Perlentaucher: "Was von vielen als blutiger, grausamer und altmodischer, ja obsoleter Bestrafungsritus empfunden wurde, trug im April nur zur internationalen Aufmerksamkeit für die politischen Umwälzungen in Kopenhagen bei. Der Hamburgische Correspondent, eine der wichtigsten Zeitungen Europas, berichtete im Frühjahr 1772 sehr ausführlich über die Struensee-Affäre, und zwar in Form einer von einem lokalen Korrespondenten verfassten Serie auf der Titelseite, die dafür sorgte, dass die Struensee-Affäre und der Machtwechsel in Dänemark-Norwegen in den deutschsprachigen Ländern ein breites Publikum fand. Die Berichterstattung war gut informiert und ging weitaus mehr ins Detail als die zaghafte Kopenhagener Presse, die sich vor der neuen Putschregierung fürchtete. Das war professioneller Journalismus."

Außerdem: Josefine Rein und Rosa Budde unterhalten sich in der taz mit dem israelischen Historiker Tom Navon, der über die Jugendbewegung im Warschauer Ghetto forscht.
Archiv: Geschichte

Religion

Im Interview mit der Welt erklärt der Liturgiewissenschaftler und Ostkirchenkundler Pater Nikodemus Schnabel den Unterschied zwischen orthodoxer Ost- und Westkirche und warum der Papst immer noch mit dem Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, redet, obwohl der dem russischen Angriffskrieg seinen Segen gegeben hat: "Der Papst ist sehr interessiert am Dialog. Er versucht deswegen auch, nicht Ross und Reiter zu nennen. Er ist zwar schon sehr klar in seinen Worten, er verurteilt den Krieg, aber er vermeidet es, Putin zu nennen. ... Ich denke, dass Kyrills Verhalten momentan einen ernsthaften Dialog verunmöglicht. Gleichzeitig möchte der Papst den ökumenischen Gesprächsfaden mit dieser sehr bedeutenden Schwesterkirche der katholischen Kirche nicht völlig abreißen lassen. Die Gläubigenzahl der russischen orthodoxen Kirche übertrifft die Zahl etwa aller Lutheranerinnen und Lutheraner weltweit deutlich. Hier geht es um einen der wichtigsten Player im innerchristlichen Dialog überhaupt, auch wenn dieser Dialog gerade mehr als schwierig ist."
Archiv: Religion

Überwachung

Bayern hat einen Totalschaden vor dem Bundesverfassungsgericht erlitten - und das zu Recht, findet Wolfgang Janisch in der SZ. Sein Verfassungsschutzgesetz kannte offenbar kaum noch Grenzen bei der Verletzung von Bürgerrechten. Dem hat Karlsruhe jetzt einen Riegel vorgeschoben: "Das Gericht bindet die - notwendige - Kooperation zwischen Diensten und Polizei an verbindliche Vorgaben zum Schutz der Bürgerrechte, es sorgt für Transparenz und Kontrolle, wo gern Geheimhaltungsbedürfnisse vorgeschoben werden. Und es errichtet hohe Hürden, wenn die staatliche Überwachung eine menschliche Existenz komplett durchleuchten will." Jetzt sollten andere Bundesländer, die ihren Diensten ähnlich überschießend weite Befugnisse gegeben haben, diese überprüfen bevor auch sie vom Bundesverfassungsgericht einkassiert werden, fordert Janisch.

Das hofft auch Bijan Moini, Prozessbevollmächtigter des Beschwerdeführers Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), berichtet Markus Reuter bei netzpolitik: Moini sehe in der Entscheidung des Gerichts "das erhoffte Grundsatzurteil: 'Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus', so Moini in einer Pressemitteilung. 'Denn viele andere Verfassungsschutzbehörden in den Ländern und im Bund haben ähnliche Befugnisse. Sie müssen nun ihre Gesetze kritisch prüfen und überarbeiten.' Neben dem bayerischen Verfassungsschutzgesetz reichte die GFF 2020 auch Beschwerde gegen Regelungen aus Hamburg ein, auch dort bekam der Länder-Geheimdienst die Befugnis zum staatlichen Hacken."
Archiv: Überwachung