9punkt - Die Debattenrundschau

Der Krieg wird auch in der Unwirklichkeit geführt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2022. Die russischen Truppen rücken auf Kiew vor. Le Monde trifft den ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow, der sich ihnen an einem Checkpoint entgegenstellt. In der taz beklagt Regisseur Sergei Loznitsa die kolossale Trägheit des westlichen Geistes. In der FAZ fordert Karl Schlögel ein Einschreiten der internationalen Gemeinschaft gegen die Zerstörung der Städte. In der NZZ  kann sich Michail Schischkin noch nicht vorstellen, wie man das Obrigkeitsdenken aus Russland vertreibt. Und die Welt meldet, dass Jonathan Franzen und andere prominente Schriftsteller den Rowohlt Verlag verlassen.  
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2022 finden Sie hier

Europa

Tag siebzehn im zermürbenden Krieg gegen die Ukraine. Die russischen Truppen weiten ihre Offensiven gegen die großen Städte, vor allem Kiew und Odessa aus.

Für Le Monde trifft der Kiew-Korrespondent Rémy Ourdan den ukrainischen Autor, Filmemacher und Sacharow-Preisträger Oleg Senzow, der nach der Krim-Annexion vom russischen Geheimdienst gefangenen genommen war und fünf Jahre lang in einem sibirischen Straflager inhaftiert war. Jetzt steht er bereit zum Kampf an einem Checkpoint in Kiew, obwohl er keine militärische Ausbildung hat: "Der Regisseur glaubt nicht an Verhandlungen in letzter Minute und bereitet sich, wie alle in der Verteidigung der Stadt engagierten Kiewer, auf einen Angriff der russischen Armee vor. 'Selbst wenn unser Präsident Wolodimir Selenski, ein Abkommen mit Wladimir Putin aushandeln sollte, wird die Bevölkerung es nicht akzeptieren, glaubt Senzow. Zu einem möglichen Abkommen gehörten, wie er meint: Erstens, dass das Territorium unseres Landes befreit wird; zweitens dass Putin und seine Clique für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werdn; und dritten dass Russland für den Wiederaufbau der Ukraine zahlt."

In der taz macht der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa dem Westen schwere Vorwürfe, dass er nicht mehr zur Unterstützung der Ukraine tut. Eine Flugverbotszone wäre für ihn das Minimum. Die Ignoranz treibt ihn zur Verzweiflung: "Wir bekommen die kolossale Trägheit des menschlichen Geistes nicht in den Griff. Allzu oft sehen wir, dass insbesondere europäische Politiker immer zu spät kommen. Die erst unter Druck erfolgten deutschen Rüstungslieferungen, die Verweigerung jeglicher Hilfe für die Ukraine über lange Zeit, auch in Frankreich. Nur in den Ländern, in denen man sehr gut weiß, wozu das alles führt, sind alle aktiv: In Litauen, Lettland, Estland und Polen. Diese Trägheit ist unüberwindbar. Wir können noch so oft darüber diskutieren. Jetzt wird zum Beispiel mein Film 'Donbass' gezeigt. Ich habe ihn 2018 gedreht, als Warnung. Der Film wurde nur wenig in Deutschland gezeigt, lief nur kurz im Kino, niemanden kümmert er." Mehr zu Loznitsas "Donbass" hier.

Ossip Mandelstam hat Kiew die "zählebigste Stadt der Ukraine" genannt, weiß der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in der FAZ und kann ihre Bombardierung dennoch nicht ertragen: Was würden wir tun, wenn Bomben auf den Vatikan fielen? "Kiew, das im Bürgerkrieg neunzehn Machtwechsel, die Sprengung seiner Straßenzüge und Kathedralen erlebt und den Kreschtschatik wieder aufgebaut hat, kämpft nun gegen den Einmarsch von Putins Truppen. Wie viele Baudenkmäler, Museen, Kirchen müssen in Flammen aufgehen, bis die internationale Gemeinschaft sich für das in Bewegung setzt, was man als 'Weltkulturerbe' bezeichnet. Wie viele Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kindergärten müssen noch getroffen werden, wie viele Menschen werden von Scharfschützen und einer angesichts des unerwarteten Widerstands kopflos gewordenen Soldatenmasse noch getötet werden, bis die internationale Gemeinschaft - oder das, was man dafür zu halten gewohnt ist - 'einschreitet'. Putin hat in Grosny gezeigt, dass er eine Großstadt in eine Ruinenlandschaft verwandeln kann. Er hat gezeigt, dass ihm das Schicksal Aleppos und seiner Bewohner ganz gleichgültig ist. Mit dem Kampf um die Atomkraftwerke von Tschernobyl und Saporischschja hat Putin die Tür zum Ökozid geöffnet. Die menschengemachte Katastrophe braucht keine Atombombe."

Für Unsinn mit Methode hält der Historiker Timothy Snyder in der taz das Moskauer Gerede über all die Massenvernichtungswaffen, an deren Beschaffung die Ukraine angeblich arbeite, egal ob Atom, Bio oder Chemie: "Nichts von dem, was der Kreml über die russischen Kriegsziele gesagt hat, macht wirklich Sinn. Es ist Unsinn. Doch der Krieg in der Ukraine ist nur allzu real. Aber der russische Krieg wird auch in der Unwirklichkeit und für die Unwirklichkeit geführt, um seinen Einfluss auf unsere Köpfe so weit wie möglich auszudehnen. Wenn sich die Unwirklichkeit ausbreitet, wird die Wirklichkeit mörderischer."

Russland bräuchte eine umfassende Entputinisierung, seufzt der Schriftsteller Michail Schischkin in der NZZ, aber wer sollte sie in die Hand nehmen können? Die meisten Russen hoffen noch immer auf einen guten Zaren: "Darin besteht das Drama Russlands und der Russen: Nur ein kleiner Teil meiner Landsleute ist für das Leben in einer demokratischen Gesellschaftsordnung bereit, die überwältigende Mehrheit jedoch kniet noch vor der Macht und findet sich mit der allgemeinen Bevormundung ab. Wenn im Verlauf von Generationen alle ausgemerzt werden, die selbständig denken, wenn es ums nackte Leben geht, setzen sich einzig jene Qualitäten durch, die das Überleben sichern: schweigen, Zufriedenheit mit der Obrigkeit mimen. Aber kann man Menschen solches vorwerfen, wenn dies die einzige Überlebensstrategie war?"

In der NZZ sieht Andreas Rüesch zwar Wladimir Putin fest im Sattel sitzen, doch werde die Lage des Kremlherren prekärer: "Zum einen hat sich Russlands Militär vor der Weltöffentlichkeit blamiert. Das sorgsam aufgebaute Image einer durch Reformen modernisierten, agilen und gut geführten Armee erweist sich als Fata Morgana ... Zum anderen wird dem russischen Volk eher früher als später bewusst werden, dass das Vertrauen in die Urteilskraft seines 'Zaren' übertrieben war. Putins Ansehen beruhte auch darauf, dass er kluge Entschlossenheit ausstrahlte."

Psychiatrische Ferndiagnosen sind unseriös, betont Jan Schroeder in der taz und ahnt auch aus einem anderen Grund, warum man sich nichts auf "Putins Wahn" geben sollte. Er spielt nur verrückt: "Ursprünglich stammt die Theorie des verrückten Mannes ('Madman-Theorie') von Henry Kissinger, dem Strategen hinter Nixons Außenpolitik. Bei der Taktik soll dem Gegner vorgespielt werden, dass man ungeachtet der Opfer zu allem fähig ist. Nixon und Kissinger wendeten die Taktik erstmals im Vietnamkrieg 1969 an. Mit einem rücksichtslosen Flächenbombardement und der Ankündigung, nötigenfalls Atombomben einzusetzen, sollten die Nordvietnamesen verunsichert und so zu Verhandlungen bewegt werden." Allerdings lasse Putin - im Unterschied zu Nixon oder auch Donald Trump seinem Gegenüber keine Verhandlungsoption.

In der SZ möchte Andrian Kreye den Glauben an die Soft Power des Westens nicht so schnell aufgeben, auch wenn er einräumt, dass Putin von Kultur, Konsum und Hilfe im Moment nicht besonders beeindruckt scheint. Trotzdem: "Durchhalten ist ein bitteres Wort aus Kriegen, das oft Opfer fordert, wo nichts mehr zu gewinnen ist. Aber erstens sind die Opfer in Deutschland nicht so groß. Und zweitens hat sich nach 2015 gezeigt, dass der Durchhaltewille viel erreicht."
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Kulturmarkt

Jonathan Franzen, Martin Mosebach und weitere namhafte Autoren verlassen den Rowohlt Verlag, meldet Mara Delius in der Literarischen Welt, sie alle gehen zu dtv und damit zur früheren Rowohlt-Verlegerin Barbara Laugwitz. Delius geht ausführlich den Verwerfungen nach, die Rowohlt erschüttern, seit der Holtzbrinck Konzern seine Verlage nach dem Vorbild von Randomhouse auf mehr Effizienz und Zentralismus trimmen möchte: "2018, in jener Zeit kurz bevor Barbara Laugwitz Rowohlt verließ, war Joerg Pfuhl bei Holtzbrinck der für die Bucherlage zuständige CEO, Chief Executive Officer, davor hatte er dieselbe Position bei Random House innegehabt. Als Pfuhl begann, die jeweiligen Führungskräfte von Rowohlt, S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch und Droemer Knaur zu einer übergeordneten Leitungsgruppe zusammenzustellen, gefiel Laugwitz das nicht. Sie pochte auf die grundsätzliche Eigenständigkeit des Verlags und stellte sich damit auch gegen Bestrebungen ihres kaufmännischen Geschäftsleiters Peter Kraus vom Cleff, der gleichzeitig, von Pfuhl eingesetzt, auch als COO, Chief Operating Officer, der Leitungsgruppe agieren sollte. Pfuhl gab dabei auf einer Mitarbeiterversammlung die Losung aus, man möge nicht mehr von den Verlagen Rowohlt oder Fischer im Einzelnen sprechen, sondern bitte von 'HBU', den Holtzbrinck-Buchverlagen. In einem Informationsnewsletter der Geschäftsleitung schrieb Pfuhl 2018, die gemeinsame Geschäftsleitung sei 'für die Koordination und strategische Entwicklung'der Verlagsgruppe 'von hoher Bedeutung', trete aber 'nicht nach außen in Erscheinung'."
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Kulturpolitik

In diesem Jahr sollen 1100 Benin-Bronzen nach Nigeria zurückgehen, in einen Staat, der Homosexualität unter Todesstrafe und auch den Einsatz für LGBTQ-Rechte unter Strafe stellt, schreibt Boris Pofalla in der Welt. Die Restitution ist richtig, aber die sich auf die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit berufenden Verhandlungen über eine Neugestaltung der kulturpolitischen Beziehungen wären ein Anlass gewesen, über das Thema zu reden, so Pofalla: "Statuen rein, Schwule raus, das scheint der Deal zu sein zwischen Nigeria und Europa. (…) Über ihre Menschenrechtspolitik wird dann keiner mehr reden, so wie jetzt schon nicht. Das ist schlecht. Und es muss nicht so sein. Wenn Deutschland mit Nigeria verhandelt, dann tut es das nicht mit einer Herkunftsgesellschaft oder einer Königsfamilie, sondern mit einem souveränen Staat. Ein solcher Staat aber kann sich, wenn es um internationale verbriefte Menschenrechte geht, nicht auf Bräuche oder angeblichen Volkswillen berufen. Er muss Mindeststandards erfüllen. Die Strafbarkeit von Homosexualität in Afrika, übrigens als solche ein koloniales Relikt, ist kein Schicksal. Botsuana, Angola und Mosambik haben sich bereits davon verabschiedet, in anderen afrikanischen Ländern existierte sie nie."
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Gesellschaft

And now to something completely different: In der NZZ offenbart Clemens Setz sein Leiden an einer verpfuschten Operation: "Schon als Jugendlicher hatte ich bemerkt, dass meine Vorhaut zu eng war. Sie rutschte bei Erektion nicht zurück, sondern blieb vorne hängen. Ich war mir nicht ganz sicher, was das bedeutete. Schmerzen hatte ich nie, auch bei Erektionen nicht, aber ich musste mich manchmal konzentrieren, um beim Masturbieren nicht schon nach wenigen Minuten fertig zu werden, da der Reibedruck immer recht stark blieb. Außerdem sah es, wie man mir versicherte, vollkommen unmöglich aus. Wie der vorne zugezogene Kapuzenkopf von Kenny in 'South Park'."
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