9punkt - Die Debattenrundschau

Retten, was zu retten ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2022. Die Frage ist nicht, was Russland, sondern was der Westen will, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian. Desk Russie macht auf die massive Welle der Emigration aus Russland aufmerksam. Navid Kermani fürchtet im Gespräch mit der FR, dass der Islam sich selbst vergisst. In der Welt greift Anna Staroselski einen "Aspekte"-Beitrag an, der zum Holocaust-Gedenktag neue Relativierungen des Holocaust stark macht. Der Verlag des neuen Anne-Frank-Buchs mit umstrittenen Thesen zum Verrat an der Familie Anne Franks, hat sich entschuldigt, berichtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die Frage ist nicht, was Russland, sondern was der Westen will, falls es noch ein Ensemble von Staaten gibt, das diesen Namen verdient, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian. Und da gebe es nur zwei Modelle: Helsinki und Jalta, also ein Europa gleicher und möglichst demokratischer Staaten, oder ein Europa, das in strikte Einflusssphären aufgeteilt ist. "Manchmal verkleidet sich Jalta auch als Helsinki. Wenn Sie sich angesichts eines Aggressors, der einen europäischen Staat mit Gewalt zu destabilisieren und zu zerschlagen droht, weigern, der Ukraine Verteidigungswaffen zu liefern, und sich nur auf OSZE-Beobachter und diplomatische Gespräche verlassen, betreiben Sie faktisch Jalta, während Sie so tun, als wären Sie für Helsinki. Sie machen den Krieg wahrscheinlicher, indem Sie den Frieden nicht verteidigen. Die deutschen Sozialdemokraten - einst die Erfinder der genialen westdeutschen Version der Entspannungspolitik, die als Ostpolitik bekannt ist - sind derzeit das globale Paradebeispiel für das verworrene Denken, die Selbsttäuschung und die unverhohlene Heuchelei, die dies mit sich bringt."

Elf Millionen Russen leben im Ausland, schreibt Zoïa Svetova in Desk Russie. Russland ist damit nach Indien und Mexiko das Land mit der größten Zahl von Emigranten. Im letzten Jahr sind mindestens 1.500 Journalisten und Aktivistinnen hinzugekommen, ein wahrer Exodus der freien Öffentlichkeit. Wie das geht, zeigt das Beispiel des Umfelds von Alexej Nawalny: "Mehrere Oppositionsmitglieder, darunter Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmytsch, seine Rechtsberaterin Ludmila Sobol, ein Mitglied von Pussy Riot, Maria Alechina, und Alexejs eigener Bruder Oleg Nawalny, wurden angeklagt, Menschen der Gefahr der Covid-Ansteckung ausgesetzt zu haben, indem sie Demonstranten dazu aufforderten, auf die Straße zu gehen. Die Angeklagten wurden unter Hausarrest gestellt und später unter Auflagen freigelassen, wobei ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Fast alle Angeklagten (insgesamt acht) wanderten später aus, ohne Berufung einzulegen."

Während sein Pate Wladimir Putin an der Grenze zur Ukraine hunderttausend Soldaten massiert, warnt Gerhard Schröder vor "Säbelrassen" aus der Ukraine. Die SPD scheint hilflos an seinen Lippen zu hängen, konstatiert Stefan Reinecke in der taz: "Lars Klingbeil, der neue starke Mann der Partei, ist gut mit ihm befreundet. Kein Wunder, dass Schröder in der Öffentlichkeit als eine Stimme der Sozialdemokratie wahrgenommen wird. Es reicht. Es ist genug. Die SPD muss auf Distanz gehen. Nicht nur einzelne wie der Außenpolitiker Michael Roth, sondern die Führung, nicht verschwurbelt, sondern eindeutig."

Die Ukrainer sind nicht in Panik, aber sie bereiten sich auf den Krieg vor, sagt der Autor Andrej Kurkow im Gespräch mit Alexandra Kedves vom Zürcher Tages-Anzeiger: "Ich bin sechzig Jahre alt, aber ich lerne gerade privat, zusammen mit einer Gruppe von Freunden, notfallmedizinische Basics, damit ich Verwundeten helfen kann. Ich bleibe in Kiew, komme, was wolle. Eine Kapitulation der Ukraine kommt für mich nicht infrage. Und wenn Russland diesen Krieg beginnt, wird es auch mein Krieg."

Wladimir Putin muss nicht mal Krieg führen, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen und all die populistischen Strongmen von Orban bis MBS, die stets auch Putin-Fans sind, noch mehr zu inspirieren, fürchtet Gideon Rachman in der Financial Times (Link über diesen Tweet): "Eine große Gefahr der aktuellen Ukraine-Krise besteht darin, dass Putins Führungsstil, wenn er als Sieger hervorgeht, noch mehr Ansehen und Nachahmer in der ganzen Welt finden wird. Landraub, militärische Drohungen, Lügen und Attentate werden wie Techniken eines Siegers aussehen."

Außerdem: In der taz empfiehlt Patrick Guyton die Ausstellung "Donbas - Krieg in Europa" des Fotografen Till Mayer im Bayerischen Armeemuseum.

Polen lehnt nach Verhandlungen mit EU-Institutionen alle Kompromisse im Asylrecht ab, berichtet FAZ-Korrespondent Thomas Gutschker aus Brüssel. Der EU-Kommission bleibe "nun wohl keine andere Wahl mehr, als in dieser zentralen Frage ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau einzuleiten. Denn die polnische Praxis, die meisten Migranten pauschal abzuweisen, die an der Grenze zu Belarus aufgegriffen werden, verstößt eindeutig gegen den Kern des europäischen Asylrechts."
Archiv: Europa

Religion

Im Interview mit der FR spricht Navid Kermani über sein neues Buch "Fragen nach Gott", die Krise der Religionen in Deutschland im Allgemeinen und des Islam im Besonderen: "Was da gerade wächst, macht mir eher Sorge, weil es oft ein Islam in völliger Unkenntnis der eigenen Tradition ist. Die berühmtesten Autoren der islamischen Theologie, der Mystik, der Poesie wie Ibn Arabi oder Al-Dschurdschani oder auch Rumi spielen im herrschenden religiösen Diskurs kaum eine Rolle mehr. Nicht selten werden sie sogar verketzert. Es sagt sehr viel, dass nicht wenige religiöse Autoren des Islams heute eher in London aufgelegt werden als in Mekka, und zwar heutige ebenso wie klassische. Umso wichtiger ist es heute, dieses Erbe zu bewahren, zu retten, was zu retten ist. Ich komme mir mit meinen Lektüren der klassischen islamischen Poesie und Mystik manchmal vor wie ein Archäologe in einem Kriegsgebiet."

In der NZZ verteidigt der Psychiater und Theologe Manfred Lütz den ehemaligen Papst Benedikt gegen Vorwürfe, er habe zum sexuellen Missbrauch in der Kirche zu lange geschwiegen. Schon 1999 habe sich Ratzinger für die Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe eingesetzt und ließ die Ergebnisse 2004 gegen Widerstand aus der Kirche publizieren: "Natürlich kann man Joseph Ratzinger kritisieren, er selber hat dazu immer wieder aufgefordert. Hier aber entsteht der Eindruck, dass ein Greis, der ausgerechnet zur ihm ursprünglich ganz fremden Missbrauchsthematik Bahnbrechendes geleistet hat, sensationslüstern auf die Bühne gezerrt wurde, anstatt endlich den entscheidenden Fragen nachzugehen: Warum hat bis heute noch kein kirchlich Verantwortlicher in Deutschland offen seine persönliche Schuld eingestanden und ist freiwillig zurückgetreten?"
Archiv: Religion

Medien

In der Welt ist Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, empört darüber, wie die ZDF-Sendung "Aspekte" am Holocaust-Gedenktag "nicht nur die Shoah relativiert, sondern nun auch noch der Vorschlag elaboriert, eine neue Form der Erinnerungskultur müsse politisch die Abkehr von dem Versprechen der Staatsräson und die Anerkennung der sogenannten Nakba bedeuten. Bei der Begriffserläuterung wird vergessen zu erwähnen, dass einen Tag nach der Gründung des Staates Israel die Armeen von fünf arabischen Staaten das Land angriffen mit der Absicht, es zu zerstören, und es zu unzähligen Pogromen gegen Juden in der arabischen Welt kam. Die Folge dessen war nicht nur die Nakba, die heute von Extremisten als Vorwand für den Terror gegen Israel genutzt wird, sondern auch die Vertreibung sämtlicher Juden aus den arabischen Ländern. Während in Israel heute 20 Prozent der Bevölkerung arabisch sind, lässt sich jüdisches Leben in den meisten arabischen Staaten nicht mehr feststellen. ... Mir ist unerklärlich, wieso das ZDF in einer Sendung zum 27. Januar den Holocaust in Relation mit der deutschen Kolonialgeschichte und vor allem mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt stellt, wieso die Shoah relativiert und die Juden zu Tätern stilisiert werden." Online nachlesen lässt sich Artikel Staroselski mit gleichem Tenor in der Jüdischen Allgemeinen.
Archiv: Medien

Kulturmarkt

Der Amsterdamer Verlag Ambo Anthos, in dem das neue Buch über den Verrat an Anne Frank erschienen ist, hat sich entschuldigt, berichten in der SZ Thomas Kirchner und Jens-Christian Rabe. "Eine 'kritischere Haltung' zu den dem Buch zugrunde liegenden Recherchen wäre möglich gewesen, schreibt nun Tanja Hendriks, die Verlegerin von Ambo Anthos, in einer internen E-Mail an die Verlagsautoren, über die niederländische Medien am Montag berichteten. Eine zweite Auflage, so Hendriks, werde deshalb vorerst nicht gedruckt." Auch der deutsche Verlag, ein Ableger von HarperCollins, überprüft das Buch jetzt erst, so Rabe und Kirchner, die sich wundern, "dass so brisante Recherchen von den Verlagen, die sie veröffentlichen wollen, vorab offenbar nicht wirklich geprüft werden. Denn ob nun beabsichtigt oder nicht, bedient das Buch die Erzählung, die Juden selbst seien beteiligt gewesen am Holocaust. Dieses Narrativ war und ist im besten Fall fadenscheinig relativistisch, im schlimmsten blank antisemitisch. Schon deshalb führte das Buch bislang zu viel Entsetzen und Kritik."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Frank, Anne

Gesellschaft

Das rasend schnell populär gewordene Wort-Ratespiel "Wordle" (unser Resümee) ist von der New York Times gekauft worden, meldet diese selbst.
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Wordle

Kulturpolitik

In der Welt verteidigt Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committees (AJC) Berlin, das viel kritisierte (zuletzt von Hubertus Knabe in der Welt) Dossier über Berliner Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen, das der Historiker Felix Sassmannshausen im Auftrag des Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn erstellt hatte. Da sind schon eine Menge Namen dabei, die man nicht mehr sehen will, meint Leemhuis: Treitschke, Wagner, Henry Ford, Charles Lindbergh und auch Luther. "Im Falle Martin Luthers, den Knabe lediglich als 'Vater des deutschen Protestantismus' bezeichnet, wäre es mehr als angebracht, dessen Hass auf Juden, der die deutsche Kulturgeschichte nicht unwesentlich mitgeprägt hat, zumindest zu benennen. Schon anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie komplex die Debatte ist. Wäre es daher nicht sinnvoll, das Dossier zum Anlass zu nehmen, um jeden der aufgeführten Namen individuell zu diskutieren und dann die entsprechenden Straßen und Plätze zu kontextualisieren, sie möglicherweise umzubenennen oder es nach einer entsprechenden Debatte beim Istzustand zu belassen?"

Die Potsdamer Garnisonkirche wird nicht als Ganzes wiederaufgebaut - nur der Turm soll neu wiedererstehen, berichtet Marco Zschieck in der taz: "Die Potsdamer Stadtverordneten haben vergangene Woche auf Vorschlag von Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) einen entsprechenden Beschluss gefasst. Dieser beruht auf einem Kompromiss, den die Stadt mit der Stiftung Garnisonkirche als Grundstückseigner und den Nutzern des benachbarten Kreativhauses Anfang Dezember ausgehandelt hat. Dieser sieht vor, dass statt des Kirchenschiffes ein sogenanntes Haus der Demokratie mit einem neuen Plenarsaal für die Stadtverordneten und weiteren öffentlichen Nutzungen entstehen soll. Das Kreativhaus soll nicht wie bisher geplant abgerissen, sondern weitgehend erhalten werden."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

Vor einem Jahr putschte das Militär in Myanmar gegen Regierung von Aung San Suu Kyi. Seitdem wurden 1.500 Zivilisten umgebracht, und über 11.000 in Gefängnisse gesteckt, Tausende sind geflüchtet, schreibt der burmesische Journalist Min Min in der taz, der auch erzählt, mit welchen Mitteln das Militär seine Herrschaft absichern will: "Der unerwartet breite bewaffnete Widerstand gegen die Armee hat sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Die Junta führte deshalb ein obligatorisches Militärtraining für die Kinder der Soldaten ein. 'Das Militär will unsere Kinder als Reserve behalten', sagt der Deserteur Ko Nge. Seine Tochter im Teenageralter musste schon im April an so einem Training teilnehmen. Bis dahin hatte es das nur für die Ehefrauen der Soldaten gegeben. 'Ich konnte meine Tochter nicht in einem so repressiven System des Militärs aufwachsen lassen,' sagt Ko Nge. Er arbeitet jetzt in einem 'befreiten Gebiet' für eine Gruppe, die Soldaten beim Desertieren hilft."
Archiv: Politik
Stichwörter: Myanmar, Putsch