9punkt - Die Debattenrundschau

Das Andere des Staates

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2022. Gestern stellte die britische Sektion von Amnesty International einen Bericht vor, der Israel in scharfen Worte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Apartheidssystem vorwirft. Jüdische Organsationen protestieren. Das Blog Belltower.net erklärt, warum der Apartheidsvorwurf gegen Israel nicht zutrifft. Aber es gibt auch begeisterte Reaktionen auf den Bericht, etwa in Zeit online. Die FAZ berichtet über neue islamistische Morddrohungen gegen französische Medien. Nicht nur die Katholische Kirche, auch der Staat hat bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe versagt, erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.02.2022 finden Sie hier

Politik

Die britische Sektion von Amnesty International hat einen Bericht veröffentlicht, der Israel beschuldigt, ein "grausames System der Herrschaft und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu betreiben. Es handele sich um ein Apartheidsregime. Die Organisation habe festgestellt, so steht es in dem Papier, "dass fast die gesamte zivile Verwaltung Israels und seine Militärbehörden, sowie seine Regierungs- und Quasi-Regierungs-Institutionen beteiligt sind an der Durchsetzung eines Systems der Apartheid gegen Palästinenser in Israel und in den besetzten Palästinensergebieten und gegen palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachkommen außerhalb des Gebietes."


Jüdische Organisationen auf der ganzen Welt haben scharf gegen das Papier protestiert, berichteten Daniel-Dylan Böhmer und Frederik Schindler schon vorgestern in der Welt. "So werde der Sicherheits-Kontext vieler Maßnahmen ausgeblendet, etwa die Tatsache, dass der Zugang nach Israel aus den Palästinensergebieten beschränkt wurde, um immer wiederkehrenden Terrorwellen Einhalt zu gebieten. Bei der angeblichen Niederschlagung von palästinensischen Demonstrationen erwähne der Bericht nicht, dass immer wieder Protestierer israelische Sicherheitskräfte gewaltsam angegriffen hätten." Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland stuft den Bericht als antisemitisch ein, meldet die Jüdische Allgemeine.

Amnesty Deutschland hat in einer Reaktion erklärt, "zu diesem Bericht keine Aktivitäten planen und durchführen" wollen, denn "im nationalen aktuellen wie historischen Kontext ist eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung nur schwer möglich". Auf eine inhaltliche Stellungnahme verzichtet Amnesty Deutschland.

Der Begriff der Apartheid setzt sich im Blick auf Israel durch, beobachtet Jannis Hagmann in der taz: "Die Kontroverse findet vor dem Hintergrund einer Situation in Israel und Palästina statt, in dem allein die israelische Seite die Kontrolle hat." Es gebe immer mehr eine Einstaatenrealität, ohne Hoffnung auf einen Staat für die Palästinenser: "Aus dieser immer mehr auf Dauer angelegten Souveränität über das gesamte Territorium ergibt sich die Forderung vieler Palästinenser*innen nach gleichen Rechten für alle - was ihnen wiederum als Antisemitismus ausgelegt wird, da die Forderung das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat infrage stellt." Judith Poppe liest den Amnesty-Bericht für die taz.

Lea Frehse stimmt dem Bericht bei Zeit online begeistert zu: "Apartheid, das ist nach internationalem Recht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es verpflichtet alle Staaten, zu handeln." Der Amnesty-Bericht gehe "über die übliche Kritik an Israels Besatzungspolitik weit hinaus, er kommt einer Aufforderung gleich, Israel neu zu sehen: nicht als demokratischen Staat, der auch ein problematisches Militärregime unterhält, sondern als eine im Kern diskriminierende Ordnung. Amnesty fordert den Stopp von Waffenlieferungen an Israel und Prozesse gegen die in Israel Verantwortlichen. Das ist ein echter Einschnitt."

Amnesty disqualifiziert sich mit diesem Bericht selbst, meint Mareike Enghusen im Tagesspiegel: "Bedauerlicherweise hat Amnesty die Schwarz-Weiß-Zeichnung mancher pro-palästinensischer Aktivisten übernommen. Ein scheinbar übermächtiges Israel ist in dieser Welt an jedem Übel Schuld, das den Palästinensern widerfährt, die selbst keinerlei Verantwortung zu tragen scheinen. Die Komplexität, die Nuancen, die moralischen Dilemmata, die diesen Konflikt prägen, kommen darin nicht vor. So sieht kein neutraler Bericht einer seriösen Organisation aus, sondern politischer Aktivismus.

"Besonders brisant an dem neuen Bericht von Amnesty International ist, dass er Israel Apartheid nicht nur in der Westbank und in Gaza vorwirft, sondern auch im Kernland Israels", schreiben Nicholas Potter und Stefan Lauer in belltower.news, dem Blog der Amadeu Antonio Stiftung und erklären, warum Israel nicht als Apartheidsstaat bezeichnet werden kann: "Unter der Apartheid in Südafrika hatten Schwarze weder das passive, noch das aktive Wahlrecht außerhalb von Reservaten und 'Homelands'. Auch kleine Reformen in den 1980er Jahren führten zu keiner Veränderung. Bis zur endgültigen Abschaffung der Apartheid 1994 war die große Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung vom demokratischen Prozess - wenn er im damaligen Südafrika diesen Namen überhaupt verdient hat - ausgeschlossen. Israelische Gesetze hingegen enthalten keine rassischen Unterscheidungen wie damals in Südafrika."

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Kurz vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking, schreiben der Moskau-Korrespondent der FAZ, Friedrich Schmidt und seine Pekinger Kollegin Friederike Böge über historische Koinzidenzen: "Für den Beginn seiner Olympischen Sommerspiele von 2008 hatte China sich ein besonderes Datum ausgewählt: den achten August um acht Uhr acht. Die Acht ist in China eine Glückszahl. Weniger glücklich war Peking darüber, dass ausgerechnet an jenem Tag russische Truppen in Georgien einmarschierten und damit die internationale Aufmerksamkeit von der Eröffnungsfeier ablenkten. Die chinesische Führung fürchtet nun angesichts des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine eine Wiederholung der Geschichte." Putin scheint Xi mit einem höchstpersönlichen Besuch am Freitag beruhigen zu wollen - er ist der erste Gast, der seit Beginn der Coronakrise in Wuhan zu Xi vorgelassen wird.
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Europa

Die Folgen der Inflation in der Türkei nehmen inzwischen seltsame Züge an, erzählt der türkische Schriftsteller Ismail Güzelsoy in der NZZ. Die staatlichen Medien berichten entweder gar nicht darüber oder in sehr seltsamer Form. Wer das Thema öffentlich anspricht, wird oft angemacht, lernt Güzelsoy, während er auf dem Handy eines Freundes ein Straßeninterview anschaut, "in dem ein Student berichtet, wie er täglich drei Stunden lang mit einem Motorroller für einen Kurierdienst fährt. Nur so könne er sich die Bücher für sein Studium leisten. Am Ende tritt ein streng wirkender älterer Mann ins Bild und ruft: 'Hol doch einmal dein Handy heraus!' Bei solchen Straßenreportagen plärrt immer wieder jemand diesen Satz. Er stammt von fanatischen Konservativen; wie eine Untergrundorganisation treten diese Leute immer wieder ins Bild, um zu verhindern, dass die allgemeine Verarmung auch nur erwähnt wird. ... Der Subtext jenes Satzes lautet nämlich: 'Du läufst doch mit einem teuren Handy in der Tasche herum, also kann es der Türkei gar nicht so schlecht gehen. Mit deinem Gejammer willst du doch nur der Regierung schaden.'"

Im Guardian warnen die Ideenhistorikerin Karolina Wigura and der Politologe Jarosław Kuisz davor, sich im Ukrainekonflikt von Putin eine neue Kalte-Kriegs-Logik aufzwingen zu lassen, die die Welt wie früher in Einflusszonen unterteilt: "Das Denken in Einflusssphären führt uns in eine Zeit zurück, in der die Satellitenländer der Sowjetunion nicht frei entscheiden konnten, welchem Militärbündnis oder politischen Regime sie angehören wollten. Wir sollten uns heute daran erinnern, dass es während der Euromaidan-Krise in den Jahren 2013 und 2014 Ukrainer gab, die bereit waren, ihr Leben zu opfern, um sich Europa anzuschließen. Die EU und die Nato wurden gegründet, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt: Wenn sich der Westen wirklich für demokratische Werte einsetzt, sollte er die Ukraine verteidigen."

Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas und Öl ist total, auch dank der Grünen, schreibt Gabor Steingart in seinem heutigen Newsletter: "Der Ausstieg aus der Energiepartnerschaft mit Russland ist - auch wenn er jetzt diskutiert wird - als Option gar nicht real vorhanden. Denn: Russland liefert günstig. Die Energiepreise würden im Falle eines deutschen Russland-Boykotts unverzüglich weiter nach oben schnellen und damit erstens die Inflation befeuern und zweitens die ambitionierte grüne Agenda einer Dekarbonisierung ohne Deindustrialisierung unmöglich machen."
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Internet

Mit dem Check-in per Luca-App ist es zwar bald in Bayern, Berlin und Baden-Württemberg vorbei, aber die App wird deshalb nicht verschwinden, berichten auf Zeit online  Meike Laaff und Jakob von Lindern, die sich fragen, was bleiben wird von in der Pandemie eingerichteten Kontroll- und Überwachungssystemen. Denn Luca hat, wie die Corona-Warn-App, jetzt "etwas, das für App-Entwickler genauso viel wert ist wie Geld: Nutzerinnen und Nutzer. Zu den Millionen Smartphones, auf denen die App installiert ist, kommen auch noch die Gastronomen, Hoteliers und Veranstalter im ganzen Land, die das System nun kennen und in ihren Arbeitsalltag integriert haben. Wer morgen eine Gastro-App starten würde, dürfte es kaum schaffen, innerhalb eines Jahres eine solche Nutzerbasis aufzubauen - oder müsste dafür wohl Zigmillionen Euro ausgeben." In der taz zieht Svenja Bergt eine kritische Bilanz der Luca-App.

In der SZ warnt Andrian Kreye vor den manipulierenden, suchterzeugenden und ausbeuterischen Finessen des kapitalimusgetriebenen Web 3.0, das nur wenigen Profite bringe: "Auch im Web 3.0 wird das Nutzervolk keineswegs die Macht in einem digitalen Raum übernehmen, in dem die Blockchains wie digitale Partisanen den Monopolkonzernen den Garaus gemacht haben. Wie die Firma Chainalysis herausfand, eine Art Ratingfirma für die Blockchain-Wirtschaft, verteilen sich die Reichtümer in dieser Welt jetzt schon eindeutig. So hat der NYU-Professor Scott Galloway auf deren Daten berechnet, dass 95 Prozent der 800 Milliarden Dollar, die die Kryptowährung Bitcoin wert sein soll, von lediglich zwei Prozent der Konten gehalten werden. Im NFT-Markt sieht es nicht besser aus. 80 Prozent der 41 Milliarden Dollar, die auf der Basis von Ethereum generiert wurden, liegen in neun Prozent der Konten."
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Stichwörter: Luca-App, Corona, Nft

Gesellschaft

Dass der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester jahrzehntelang von der katholischen Kirche vertuscht wurde, ist unbestritten. Weniger gesprochen wird darüber, dass auch der Staat bei der Aufklärung versagt hat - was ein starkes Licht auf das Verhältnis von Kirche und Staat wirft, wie der Theologe Friedrich Wilhelm Graf im Interview mit der SZ erklärt: "Wenn Sie staatliches Recht haben und zusätzlich organisationsspezifisches Eigenrecht, dann droht dieses Eigenrecht das staatliche Recht zu relativieren. Nehmen Sie Lorenz Wolf, einen Theologen mit Jurastudium. Er ist stolz darauf, oberster Richter der Münchner Diözese zu sein, und er insistiert darauf, dass ihn primär nur das Kirchenrecht interessiert und dass das staatliche Recht für ihn sekundär ist. Sein Vorwurf gegen die Gutachter, sie hätten keinerlei 'Expertise' im Kirchenrecht, verkennt das Problem: Im Rechtsstaat ist bei Straftaten allein das staatliche Recht gefragt. Die katholische Kirche sieht sich immer noch als das Andere des Staates."

Die Impfgegner sind auch in der Provinz ein Phänomen. Es demonstriert die "bürgerliche Mitte mit Öko-Touch", schreibt Margarete Moulin in der taz: "Im vierzig Kilometer südlich von München gelegenen Wolfratshausen stehen an einem Abend in der Haupteinkaufsstraße über 900 'Spaziergänger' etwa 450 angemeldeten Gegendemonstranten gegenüber. Letztere gehören zur neu gegründeten 'Wolfratshauser Menschenkette', die für solidarisches Verhalten in der Pandemie wirbt. Ihre Teilnehmer haben sich auf der einen Straßenseite aufgereiht. Sie tragen Masken und halten Abstand zueinander. Auf dem Bürgersteig gegenüber zieht die Karawane der Impfgegner schweigend entlang. Einer von ihnen löst sich, geht auf die Gegendemonstranten zu, filmt ihre Reihe betont offenkundig ab, so als wolle er Beweise sammeln."
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Medien

Das Magazin "Zone interdite" des französischen Privatsenders M6 zeigte in einer Undercover-Reportage einige Viertel der Stadt Roubaix nahe der belgischen Grenze, die von radikalen Islamisten beherrscht werden - dort werden als Kinderspielzeug Puppen ohne Gesicht verkauft, weil Allah die Darstellung menschliche Gesichter verbiete. Seit der Sendung habe es mehrere Morddrohungen gegen Verantwortliche der Sender und Amine Elbahi, einen Protagonisten der Reportage, gegeben, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ: Ebahis "Telefonnummer zirkuliert im Internet. Er bekam Anrufe, die ihm seine Enthauptung ankündigten: Es werde ihm wie dem Lehrer Samuel Paty ergehen, der während des Charlie-Hebdo-Prozesses im Unterricht die Mohamed-Karikaturen zum Thema gemacht hatte. Die Polizei nimmt die Drohungen ernst."

Selbstverständlich wird das Phänomen vom rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour (dessen Rang in den Umfragen seiner Medienpräsenz übrigens nicht entspricht) instrumentalisiert, so wie sein linksextremer (und ebenfalls in die Bedeutungslosigkeit absinkender) Widerpart Jean-Luc Mélenchon gleich Rassismus wittert. Aber Le Monde hält in einem ausnahmsweise mal klaren Editorial fest, dass die Sendung von der Pressefreiheit geschützt ist. Die Morddrohung, die auch die Moderatorin der Sendung betrifft, "bedroht einmal mehr die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit. Diese Freiheiten werden in Bezug auf den Islam wie auch auf jede andere Religion nur durch die Strafgesetze eingeschränkt, die Beleidigung, Verleumdung, Aufruf zu Hass oder Diskriminierung unter Strafe stellen. (...) Um die Sackgasse der Identitätspolitik und die politische Instrumentalisierung des Islams in Frage zu stellen, muss man sich ohne Angst mit all diesen Realitäten auseinandersetzen können, wie mit jeder anderen auch."
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