9punkt - Die Debattenrundschau

Kein direktes Geschäftsverhältnis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2022. In der FR fordern Shimon Stein und Moshe Zimmermann, zwischen "echtem Antisemitismus" und nicht per se antisemitischer Israelkritik zu unterscheiden. Der Sinologe Daniel Leese kommt in der FAZ auf die Geschichtsresolution zurück, die der chinesische Parteichef Xi Jinping von seinen treuesten Kadern hat ausformulieren lassen und die ihn unangreifbar macht.  Bei feministgiant.com schreibt Mona Eltahawy über die "Fußsoldatinnen" der Christian Brotherhood, die in Amerika maßgeblich an der Zerstörung des Abtreibungsrechts arbeiten. In der taz erklärt Artur Klinau, warum er Evolution und nicht Revolution für Belarus will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.01.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

In Deutschland können viele nicht so recht richtigen von falschem Antisemitismus unterschieden, glauben Shimon Stein und Moshe Zimmermann im Kontext der jüngsten Documenta- und Antisemitismusdebatte (mehr in efeu) Außerdem drohe über den Streit um linken Antisemitismus das rechte Spektrum aus dem Blick zu geraten: "Eigentlich müssten vor diesem Hintergrund der Bundestag wie auch die vielen Antisemitismusbeauftragten in Deutschland die ersten sein, die sich den Bundestagsbeschluss vom Mai 2019 [der den BDS als antisemitisch einstuft, die Redak.] neu überlegen sollten. Von ihnen ist zu erwarten, dass sie sich gegen die Ablenkung von der wahren Gefahr, die immer mehr aus der 'Mitte der Gesellschaft' kommt, und gegen die unnötige Einschränkung der Meinungsfreiheit in Kunst, Wissenschaft und Forschung positionieren. Denn ein Bumerangeffekt ist auf kurz oder lang eher wahrscheinlich: Der politisierte Fokus auf den so unpräzise definierten israelbezogenen Antisemitismus wird wohl in absehbarer Zeit erodieren, aber genauso auch die Wachsamkeit angesichts des 'echten' Antisemitismus."
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Politik

Der Sinologe Daniel Leese kommt in der FAZ auf die Geschichtsresolution zurück, die der chinesische Parteichef Xi Jinping von seinen treuesten Kadern hat ausformulieren lassen (unser Resümee). Dies Dokument ist von weitreichender Bedeutung - es ist erst die dritte Geschichtsesolution in der Geschichte der KP Chinas: "Mit ihrer Verabschiedung etabliert die Parteiführung eine autoritative Bewertung von Vergangenheit und Gegenwart sowie einen neuen Rahmen des politisch Sagbaren. Das Dokument hat absoluten Geltungsanspruch und wird damit auch für journalistische und wissenschaftliche Textproduktion der verbindliche Referenzpunkt. Zentrale Inhalte werden mit umfangreichem exegetischem Material zunächst von den 95 Millionen Parteimitgliedern einstudiert und dann weiter in die Gesellschaft getragen. Kritik an der offiziellen Deutung ist nunmehr justiziabel, und innerparteiliche Versuche einer Unterminierung von Xis Rolle kämen einem Putschversuch gleich."

Viel retweetet wurde in Amerika ein Artikel der ägyptisch-amerikanischen Publizistin Mona Eltahawy auf der Website feministgiant.com über jene "Schwestern" der "Christian Brotherhood" und anderer evangelikaler Bewegungen, die maßgeblich daran mitarbeiten, das amerikanische Recht auf Abtreibung abzuschaffen. "Um es klar zu sagen: Die Brotherhood ist zwar absolut patriarchalisch, aber dieser tödliche Schlag gegen das staatlich geschützte Recht auf Abtreibung geht auf das Konto der 'Schwestern' - weißer, christlicher Frauen, die ich als Fußsoldatinnen des Patriarchats bezeichne - ein Kampfteam aus weißen, christlichen Terroristinnen, Juristinnen, Staatsanwältinnen, Gouverneurinnen und Richterinnen. 'Wir glauben, dass dies eine hauptsächlich männliche Bewegung ist", sagt Karissa Haugeberg, Autorin von 'Women Against Abortion: Inside the Largest Moral Reform Movement of the Twentieth Century' in der feministischen Zeitschrift Dame. 'Tatsächlich sind die Frauen in den verschiedenen Bereichen der Bewegung weitaus zahlreicher als die Männer.'" Eltahawy schildert die "Christian Brotherhood" in Amerika als einflussreicher als die Muslimbrüder einst in ihrem Herkunftsland Ägypten.
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Europa

Der belarussische Autor Artur Klinau, Autor des Buchs "Acht Tage Revolution", kehrt von einem Deutschlandaufenthalt nach Minsk zurück. Im Gespräch mit Jens Uthoff in der taz spricht er über seine Hoffnung, dass es innerhalb seines Landes, aber auch zwischen Belarus und EU einen neuen Dialog gibt. Seine größte Sorge ist eine "hybride Annexion" durch Russland, das sich als neues Imperium gebärdet. Eine Perspektive sieht er dennoch: "Ich war und bin eher der Ansicht, dass die Revolution keine Aussicht auf Erfolg hatte, solange Putin im Kreml sitzt. Für Belarus gibt es meines Erachtens nur einen Weg: keine Revolution, sondern Evolution. Ein langsamer Prozess, sich von dem Bären zu lösen, um es metaphorisch zu sagen. Es gab vor der gescheiterten Revolution eine langsame, lautlose Liberalisierung in verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Wenn dieser Prozess 2020 nicht unterbrochen worden wäre - und damit sind die Wahlen und die Ereignisse danach gemeint -, hätte es einen stetigen Demokratisierungsprozess gegeben."

Jonas Mueller-Töwe erzählt in einer viel retweeteten Recherche für t-online.de, wie Manuela Schwesig schon seit einigen Jahren alles tut, um Nord Stream 2 zu verwirklichen, bis hin zu vielen nicht protokollierten Gesprächen mit Gerhard Schröder und anderen und natürlich zur Gründung jener "Stiftung Klima- und Umweltschutz Mecklenburg-Vorpommern", die nur dazu konstruiert wurde, mögliche Sanktionen der USA abzufedern. "Theoretisch könnte das Konstrukt so funktionieren: Eine Firma, die Teile zu Nord Stream 2 zuliefern will, verkauft diese an den Betrieb der Klimastiftung, der ihn schließlich weiterreicht. Somit besteht offiziell kein direktes Geschäftsverhältnis zwischen der Firma und der Pipeline."
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Ideen

Der Klimawandel erfordert neue, nicht kapitalistische Wirtschaftsweisen, findet die Theologin Gudula Frieling in der taz. Und was hindert uns daran? "Die deutsche Gesellschaft hält sich zwar für aufgeklärt, trägt jedoch bis heute schwer daran, dass seit Kriegsende der Antikommunismus als Teil der nationalsozialistischen Ideologie nicht problematisiert und bekämpft wurde. Als Deutschland im Kalten Krieg vom Feind der USA zu deren Verbündetem avancierte und infolgedessen seine Wiederbewaffnung anstand, wurde das antikommunistische Feindbild der Nazis unreflektiert auf die kommunistisch regierte Sowjetunion übertragen."

Im Guardian erinnert Kenan Malik daran, dass der Kampf für Meinungsfreiheit immer auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit war, der geraden den Unterprivilegierten helfen sollte. Und heute? Ist es oft andersherum: "Eine Ironie des Schicksals ist es, dass viele Argumente, mit denen heute Redebeschränkungen als Schutz für die Machtlosen verteidigt werden, oft dieselben sind, die einst von den Mächtigen verwendet wurden, um ihre Interessen vor Angriffen zu schützen. Als der amerikanische abolitionistische Zeitungsredakteur Elijah Lovejoy 1837 von einem sklavereifreundlichen Mob in Illinois ermordet wurde, gab ihm eine Südstaatenzeitung die Schuld an seinem eigenen Tod, da er 'die Gefühle einer großen Mehrheit der Bevölkerung dieses Ortes völlig missachtet' habe. Anderthalb Jahrhunderte später hörten wir dieselben Argumente in den Forderungen nach einem Verbot der 'Satanischen Verse' oder in der Behauptung, die Karikaturisten von Charlie Hebdo seien für ihren eigenen Tod verantwortlich, weil auch sie 'die Gefühle' vieler Muslime missachtet hätten."
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Medien

In China werden Journalisten immer stärker eingeschüchtert oder gleich in Haft genommen, je näher die olympischen Spiele rücken, berichtet Spon. "'Eingesperrt oder rausgeworfen' überschreibt der Foreign Correspondents Club of China, die inoffizielle Vertretung der Auslandskorrespondenten in der Volksrepublik, ihren Jahresbericht. Für den Report befragte die Organisation im Dezember ihre fast 200 Mitglieder, die für Medien aus 30 Ländern und Regionen arbeiten. 127 Personen nahmen demnach an der Befragung teil. ... Wegen der Schikanen durch die chinesischen Behörden gegen sie und ihre Familien haben manche Korrespondenten bereits demoralisiert aufgegeben und das Land verlassen. So berichtete etwa John Sudworth von der BBC in dem Report, Polizisten in Zivil hätten auch seine Frau und ihre beiden kleinen Kinder bei der Abreise auf dem Weg zum Flughafen verfolgt. Er hatte seinen Arbeitsplatz in Peking im vergangenen März nach Drohungen der Behörden aufgegeben." Schlecht ist das nicht nur für die Journalisten, sondern auch für China, meint ein amerikanischer Journalist: "Wenn der Personalbestand ausländischer Medien auf das aktuelle Niveau schrumpft, geht eines der bemerkenswertesten Dinge verloren, Nuancen. Alles wird mehr schwarz-weiß."
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Stichwörter: China, Olympische Spiele