9punkt - Die Debattenrundschau

Und du hast vier Tage Zeit, dir einen Anwalt zu besorgen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2021. Die Hohenzollern hören nicht auf: Immer noch behelligen sie Historiker mit Klagen. Stephan Malinowski schildert in der SZ den Effekt dieser juristischen Einschüchterung. Langsam, sehr langsam lösen sich auch einige der am stärksten mit der Sackler-Familie verbundenen Museen vom Namen der Familie, so jetzt etwa das Metropolitan Museum, berichtet die New York Times. Italien war immer schon ein politischer Trendsetter, nun also der "Technopopulismus", beobachtet politico.eu. Selbst im Bundestag gibt es jetzt vereinzelte Konfessionslose, notiert hpd.de, und in der Regierung natürlich den Kanzler.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2021 finden Sie hier

Geschichte

"Würde man die Kriterien, die hier unter extremer Ausnutzung des deutschen Äußerungsrechts angewandt werden, als generelle Praxis einführen und jeden Halbsatz auf seine potentielle Angreifbarkeit durchleuchten - ich weiß nicht, welche Formen der streitenden und offenen Diskussion dann noch übrig blieben", sagt der Historiker Stephan Malinowski, den Alex Rühle für die SZ in Edinburgh besucht hat. Malinowski erscheint Rühle zermürbt und er ist nicht der einzige der in Folge der Abmahnungen und Klagen der Hohenzollern inzwischen eingeschüchtert ist (Unsere Resümees): "Spricht man mit einigen der Beklagten, so wird eindrücklich klar, welche Schockwirkung die Abmahnungen des Prinzen in jedem einzelnen Fall hatten. (…) Der Historiker Winfried Süß, Abteilungsleiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF), der am Telefon eine robuste bayrische Gemütspolsterung ausstrahlt, bekommt eine ganz andere, enge Stimme, wenn es um diese rechtliche Auseinandersetzung geht. Süß bekam seine Verfügung kurz vor Weihnachten zugestellt. Den Ton der Anwaltsschreiben habe er als 'bedrohlich und sehr bedrängend' empfunden. Die Historikerin Karina Urbach war gerade in Princeton, 'dann kommt dieses wahnsinnig aggressive Schreiben und du hast vier Tage Zeit, dir einen Anwalt zu besorgen.' Der Medienanwalt, den sie fand und der eigentlich dafür bekannt ist, recht robust und offensiv vorzugehen, riet ihr, zu unterschreiben."
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Kulturpolitik

Langsam, sehr langsam lösen sich auch einige der am stärksten mit der Sackler-Familie verbundenen Museen vom Namen der Familie, die ihre Milliarden von Dollar mit der legalen Droge Oxocontin gemacht hat - bis heute sind die Folgen dieser Drogenepidemie in den USA spürbar. Das Metropolitan Museum, berichtet Robin Pogrebin in der New York Times, wird sieben nach den Sacklers benannte Flügel umbenennen. Nicht alle Museen folgen dem Beispiel: "Unmittelbar nach der Ankündigung des Met erklärten mehrere andere Museen mit nach Sackler benannten Räumen, dass sie derzeit keine ähnlichen Pläne hätten, darunter die National Gallery in London - wo der Sackler-Saal einige der wertvollsten Werke des Museums enthält - und das Victoria & Albert Museum, dessen Eingang den Namen 'Sackler Courtyard' trägt."
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Politik

Marokkanische Hausfrauen geben in freizügigen Youtube-Videos Tipps, "wie Frauen ihre Männer nicht nur am Esstisch, sondern auch im Bett bezaubern können", berichtet Kacem El-Ghazzali in der NZZ. Die Frauen zeigen sich aber keineswegs in Dessous, sondern lediglich in privater Kleidung - Konservative und Islamisten sehen die "Männerehre" dennoch verletzt und fordern Haft, aber auch westliche Feministinnen üben Kritik, fährt El-Ghazzali fort: "Die muslimische Frau, so die Perversion der postkolonialen Ideologie à la Fanon, sollte lieber konservativ und verschleiert sein. Andernfalls würde sie 'die westliche Mittelschichtsfrau als Maßstab der Befreiung nehmen'. An diesem Punkt erscheinen die Islamisten, die die Youtube-Frauen in den Kerker werfen wollen, und die neuen Linken, die die Befreiung fremder Kulturen von der westlichen Hegemonie anstreben, als Brüder und Schwestern im Geiste. Die Islamisten verschleiern die Frauen, und die, die sich gerne progressiv geben, liefern ihnen Argumente dafür."

Die Bekämpfung der Pandemie "wäre nur erfolgreich, wenn Instrumente zur Anwendung kämen, die seit Jahrzehnten unterentwickelt sind", schreibt Nils Minkmar in der SZ: "Die internationale Kooperation ist eines davon, sie führt ein politisches Schattendasein. Man schwelgt in wirtschaftlicher Globalisierung, aber diese Entwicklung auch diplomatisch und politisch zu begleiten, wurde aus ideologischen Gründen versäumt. Ein weiterer Aspekt ist die Planung: Eine gerade veröffentlichte Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health zur weltweiten Gesundheitsvorsorge ergab einen krassen Mangel an langfristiger Planung im Hinblick auf diese und andere mögliche Krisen. Da auch in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, in jedem Unternehmen die Ansage gilt, langfristige Belastungen zugunsten von kurzfristig erfreulichen Ergebnissen abzuschreiben, wird diese Bilanz niemanden erstaunen."

Ebenfalls in der SZ drängt der Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz darauf, "die Erfinder der Covid-Impfstoffe zu zwingen, ihre Patente freizugeben": "Während Mitte November etwa 53 Prozent der 7,9 Milliarden Menschen weltweit mindestens eine Impfdosis erhalten haben, sind es in Ländern mit niedrigem Einkommen weniger als sieben Prozent. Die Impfraten sind in Afrika besonders niedrig. In Kenia beispielsweise sind nur 2,6 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Schon bevor das Boostern notwendig und die Impfung von Kindern freigegeben wurde, benötigte die Welt, je nach Schätzung, zwischen 11 und 15 Milliarden Dosen - was die derzeitigen Produktionskapazitäten weit übersteigt. Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage kann in den nächsten Monaten sogar noch größer werden."
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Gesellschaft

In der Welt platzt dem Allgemeinmediziner Wolfgang Schneider-Rathert der Kragen angesichts der erneuten politischen Fehlplanungen: "Der Politik scheint nicht klar zu sein, was die erneut mangelhafte Impfstofflogistik für uns bedeutet. Wir Hausärztinnen und Hausärzte sind nur noch fassungslos, wenn unsere Medizinischen Fachangestellten Hunderte Impftermine absagen oder wegen des Wechsels zu Moderna umlegen müssen. Der Beratungsbedarf der Patienten ist dabei enorm. Er wäre vermeidbar gewesen, wenn vor der Terminvergabe klar gewesen wäre, dass Moderna als gleichwertiger Impfstoff zur Verfügung steht. Kaum einer weiß, dass wir mitten in der Pandemie mit nicht ausgereiften Digitalprojekten wie der elektronischen Patientenakte, der elektronischen Krankschreibung und dem elektronischen Rezept von der Arbeit abgehalten werden."
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Stichwörter: Impfen, Impfkampagne, Corona

Medien

Der Deutsche-Welle-Chef Peter Limbourg will die jüngsten Antisemitismusvorwürfe gegen Mitarbeiter und Partnermedien (unsere Resümees) durch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Ahmad Mansour klären lassen und recht schnell Ergebnisse vorlegen, sagt er im Gespräch mit turi2: "Am Freitag der kommenden Woche wird es eine Sondersitzung des Vertriebs-Ausschusses des Rundfunkrats geben. Dort wollen wir erste Ergebnisse vortragen und auch eine erste Diskussion über mögliche Folgen führen."

In der NZZ kommentiert Jonas Hermann: "Der bundesrepublikanische Konsens gegen Antisemitismus war nie so unverbrüchlich, wie es in Sonntagsreden gerne dargestellt wurde. Vor allem rechts, aber auch links der politischen Mitte lebte der Judenhass nach dem Ende der Nationalsozialisten weiter. Dass ihm jedoch ausgerechnet der öffentlichrechtliche Rundfunk einen Nährboden bietet, ist besonders bedenklich."

"Die Zahl der weltweit in Haft sitzenden Reporter erreichte der amerikanischen Journalistenorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ) zufolge einen Höchststand", meldet Zeit Online: "Mit 50 Fällen wurden die meisten inhaftierten Journalisten in China gezählt. Dahinter folgt Myanmar mit 26 Fällen, wo sich nach dem Militärputsch Anfang des Jahres eine feindselige Stimmung gegen Berichterstatter etabliert hat. Im autoritär regierten Ägypten waren 25 Reporter eingesperrt, in Vietnam 23 und in Belarus 19. Dahinter folgen die Türkei, Eritrea, Saudi-Arabien, Russland und der Iran. Erstmals taucht auf dieser Liste auch Hongkong auf. Hintergrund dürfte das neue Sicherheitsgesetz sein, mit dem die chinesische Führung ihren Zugriff auf die Sonderverwaltungszone verstärkt hat, um gegen die Demokratiebewegung vorzugehen. Mindestens 24 Journalisten wurden in Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung getötet, 18 weitere starben unter nicht genau geklärten Umständen."
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Europa

Italien war immer schon ein politischer Trendsetter, man denke an Silvio Berlusconi als Modell aller von Medien gesteuerten Populisten. Das neueste Modell, verkörpert von Mario Draghi, bezeichnet Jacopo Barigazzi in politico.eu als "Technopoulismus" (in Deutschland würde man vielleicht eher von "Expertokratie" sprechen): "Die Mischung ist nicht offensichtlich. Technokraten (blutarme unpolitische Verwalter) und Populisten (pöbelnde Demagogen, die behaupten, für 'das Volk' zu sprechen) werden gewöhnlich als polare Gegensätze betrachtet. (…) In einem kürzlich erschienenen Buch argumentieren die Politikwissenschaftler Christopher J. Bickerton und Carlo Invernizzi Accetti jedoch, dass Technokraten und Populisten tatsächlich viel gemeinsam haben: Beide sind Produkte des Verblassens der rechten und linken Ideologien, verursacht durch Faktoren wie die schwindende Rolle der religiösen Zugehörigkeit und den Zusammenbruch der Sowjetunion, der den Eindruck erweckte, dass es 'keine Alternative' zur liberalen Demokratie gibt."

Das Problem ist vielleicht gar nicht Eric Zemmour, berichtet Harriet Wolff für die taz aus Frankreich, sondern die Porosität der bürgerlichen Rechten, aber auch der Medien, die Zemmour so gerne eine Plattform gaben: "Seit über 20 Jahren ist Zemmour mit Buchtiteln wie 'Der französische Selbstmord' oder 'Z wie Zemmour' in der Öffentlichkeit präsent. Sein jüngstes Werk heißt 'Frankreich hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen'. Seit Mitte dieses Jahres hat er mit Vincent Bolloré einen Unternehmermilliardär an seiner Seite, der sich gerade ein Medienimperium zusammenkauft. Das sendet auf Kanälen wie CNews, das den US-amerikanischen Fox News nachempfunden ist, rauf und runter: Eric Zemmour." Mehr zu Bolloré hier.

Das Videogespräch zwischen Joe Biden und Wladimir Putin hat zwar nichts gebracht, aber für Putin war es trotzdem ein Erfolg, meint Nikolas Busse in der FAZ: "Er kann sich einen kleinen Fortschritt an der diplomatischen Front zugutehalten, weil er es endlich geschafft hat, direkt mit Amerika über die Ukraine zu verhandeln. Berlin und Paris, die das heikle Dossier seit Obamas Zeiten federführend für den Westen betreuten, sind fürs Erste draußen. Biden informierte die europäischen Mittelmächte erst nach dem Gespräch, das Normandie-Format tritt nun in den Hintergrund."

Innerlich aber, schreibt die Kulturjournalistin Irina Rastorgujewa ebenfalls in der FAZ, ist Russland maroder denn je. Es gibt kaum noch ein Recht,das respektiert wird, Menschenrechtsorganisationen und Medien werden als ausländische Agenten abgestempelt, Journalisten landen im Gefängnis. Und überall herrscht eine beschönigende Sprache, die die Misere zudeckt: "In diesem Sommer wurde die Steuererhöhung in den Medien als 'steuerlicher Überbau' bezeichnet, um 'neue strategische Initiativen' zu realisieren. Worum es bei diesen Initiativen geht, ist bislang nicht bekannt, in der Regel handelt es sich um eine verschleierte Bezeichnung für den Diebstahl großer Summen aus dem Haushalt. Die flächendeckende Korruption wird liebevoll als 'einige finanzielle Unregelmäßigkeiten' bezeichnet."
Archiv: Europa

Religion

Sämtliche MinisterInnen der Grünen verzichtet bei ihrem Eid auf den Gottesbezug, sämtliche Minister der FDP beschworen Gottes Hilfe, staunt Gis Bodenstein bei hpd.de: "Neben einem konfessionsfreien Kanzler und mehreren Minister:innen ohne religiöses Bekenntnis gibt es auch im Parlament eine kleine Entwicklung in Richtung gesellschaftlicher Realität, der zufolge in nicht allzu ferner Zukunft die Hälfte der deutschen Bevölkerung religionsfrei sein wird: Der Anteil der konfessionsfreien Abgeordneten stieg auf 10 Prozent."
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Stichwörter: Bundestag, FDP