9punkt - Die Debattenrundschau

So aufgeladen, so zentral

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2021. Die Krise in Tunesien ist ein Zeichen, schreibt Dominic Johnson in der taz: "Von Iran über Nigeria bis Brasilien zittern die Mächtigen, sobald die Pandemie außer Kontrolle gerät." Die taz berichtet auch über das blutige Sisi-Regime in Ägypten. China benutzt westliche Medienleute und Prominente, um seine Menschenrechtsverstöße in Xinjiang zu beschönigen, notiert die Politologin Mareike Ohlberg im Tagesspiegel. Stefan Laurin weist bei den Ruhrbaronen einige faktische Fehler in Per Leos Buch "Tränen ohne Trauer" nach. Und Edward Snowden rät von Iphones ab.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2021 finden Sie hier

Politik

In Tunesien hat der Präsident den Regierungschef entlassen, die Armee umstellt das Parlament. Das Land gehört zu den von der Corona-Pandemie am stärksten betroffenen (unser Resümee). Und die Pandemie ist Auslöser der jüngsten Krise, die Dominic Johnson in der taz als beispielhaft ansieht und etwa in Beziehung zu den Unruhen in Südafrika setzt. "Eines ist sicher, über Tunesien hinaus: Je länger die Pandemie dauert, desto weniger Geduld haben die Menschen und desto leichter zerbricht politische Legitimität. Heute ist es Tunesien, morgen kann es überall sein. Von Iran über Nigeria bis Brasilien zittern die Mächtigen, sobald die Pandemie außer Kontrolle gerät."

In Ägypten werden unterdessen Prozesse gegen führende Islamisten geführt, die der einstigen, weggeputschten Regierungen der Muslimbrüder angehörten und nun von Hinrichtung bedroht sind, berichtet Jannis Hagmann in der taz. Mit dem Prozess soll auch das Massaker von Rabaa al-Adawiya, einem Platz am Rande Kairos, gerechtfertigt werden, bei dem mindestens 817 Protestierende von Polizeikräften des jetzigen Autokraten Abdel Fattah al-Sisi getötet wurden. Unter den Getöteten waren ebenfalls viele Muslimbrüder, die ihre Macht verloren hatten: "Was Ägypten heute für ein Land wäre, hätten die Demonstrierenden damals Sisis Restauration der Militärherrschaft verhindert, weiß niemand. Das Experiment wurde beendet, bevor der Kurs der Islamisten klar war: Mursi hatte versprochen, demokratisch zu regieren, und angekündigt, Verträge wie den Friedensvertrag mit Israel nicht anzurühren. Gleichzeitig hatte er per Dekret seine Macht ausgebaut und ein Referendum über eine von Islamisten ausgearbeitete Verfassung durchgepeitscht, was seine autoritär-islamistische Gesinnung offenbarte." Die Muslimbrüder, die als stärkste Kraft aus den Tahrir-Protesten hervorgegangen waren, stoßen im Westen nicht gerade auf Solidarität, so Hagmann, aber auch gegen andere Strömungen begeht das Sisi-Regime schlimme Menschenrechtsverbrechen.

China benutzt westliche Medienleute und Prominente, um seine Menschenrechtsverstöße in Xinjiang zu beschönigen, berichtet Mareike Ohlberg, Senior Fellow im Asia Program des des German Marshall Fund, im Tagesspiegel. Youtuber schwärmen aus, um fröhliche Trachtengruppen abzufilmen, staatliche Medien bieten Ausbildungsprogramme für willfährige westliche Journalisten. Aber es gibt noch viel prominentere Influencer: "Herbert Diess, der CEO von Volkswagen, des Automobilkonzerns, der in Urumqi ein Werk betreibt, verkündete noch 2019 in einem Interview, er wisse nichts von den Umerziehungslagern in der Region - eine Lüge, wie ein Volkswagen-Sprecher später einräumte. 'Wir stehen zu unserem Engagement in China, auch in Xinjiang', erneuerte Diess 2021 seine Aussage... Auch BASF hat ein Werk in Xinjiang, ganz in der Nähe von einem Umerziehungslager. Verstöße gegen Menschenrechte sehe der Konzern bei sich aber keine, wie ein Manager vor Ort vor Kurzem gegenüber dem ARD-Korrespondenten Steffen Wurzel beteuerte."
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Europa

Die EU-Kommission und viele einzelne EU-Länder haben entschlossen gegen die LGBT-Gesetze in Ungarn protestiert. Das wäre vor wenigen Jahren noch nicht möglich gewesen, schreibt Isolde Charim in ihrer taz-Kolumne und konstatiert zugleich, dass dieses Thema eine "Trennlinie zwischen West- und Osteuropa (zieht), die nahezu entlang der alten Grenze des Kalten Kriegs verläuft": "Warum wird ein sogenanntes Minderheitenthema so aufgeladen, so zentral? Warum wird ausgerechnet an dieser Frage ein europaweiter politischer Kampf ausgetragen? Und da könnte man sagen: Es ist den Schwulen- und Lesben, späterhin auch den Queerleuten gelungen, nicht nur zum 'Teil einer Normalität' zu werden (was das ungarische Gesetz ja abwehren möchte). Sie sind vielmehr zu exemplarischen Individuen geworden. Sie stellen eine besondere, eine paradigmatische Form von Individualität dar."
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Stichwörter: Ungarn, Lgbt, Normalität

Internet

(Via Netzpolitik.) Russland räumt in Medien und Internet weiter auf, meldet die "Tagesschau". Besonders betroffen sind die Websites, die Alexej Nawalny nahestehen: "Gesperrt worden sind demnach auch alle Seiten Nawalnys, darunter jene in den Regionen. Nicht mehr ohne Weiteres zugänglich sind zudem die Portale der Oppositionellen Ljubow Sobol (die Masha Gessen letzte Woche im New Yorker porträtierte), von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung und der unabhängigen Allianz der Ärzte, die etwa Missstände in der Corona-Pandemie in Russland aufgedeckt hatte."

Diskriminierung bei Instagram, wo bekanntlich Nacktfotos von Frauen unter strenger Beobachtung stehen, notiert Adrian Lobe in der taz: "Nach Angaben der Adult Performers Actors Guild, einer Gewerkschaft, die unter anderen SchauspielerInnen, Webcam-DarstellerInnen und StreamerInnen vertritt, meldet der Instagram-Algorithmus Fotos, auf denen über 60 Prozent Haut zu sehen ist - was in der Praxis dicke Menschen diskriminiert. Denn ein dicker Mensch hat eine größere Körperoberfläche als eine dünne Person und zeigt damit - bei gleicher Bekleidung - vergleichsweise mehr Haut. Die KI von Instagram hält das für obszön und schlägt Alarm."

Außerdem: Im SZ-Feuilletonaufmacher fragt Andrian Kreye, ob sich noch irgendjemand an den Hype um die Clubhouse-App erinnert.
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Ideen

Im Historikerstreit 2.0 sind es Akademiker von links, die den Holocaust in größere globalgeschichtliche Kontexte integrieren wollen - im Namen "antirassistischer" und postkolonialer Ideen. In diesen modischen Diskurs reiht sich nun auch Per Leo mit seinem Buch "Tränen ohne Trauer" ein, kritisiert Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Laurin deckt einige faktische Fehler bei Leo auf, die Geschichte passend machen: "An dem Satz 'Nicht von ungefähr jedenfalls fanden die ersten rassistischen Pogrome nach dem Nationalsozialismus nicht in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen statt, sondern in Solingen und Mölln' ist nahezu alles falsch: Die Pogrome von Hoyerswerda (17. September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (22. und 26. August 1992) fanden vor den Morden in Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993) statt. Und letztere waren Anschläge von Neonazis und keine Pogrome, die von der Bevölkerung der beiden Ost-Städte zumindest teilweise unterstützt wurden."

Außerdem: In der NZZ erinnert Zsuzsa Breier die Verfechterinnen einer gegenderten Sprache daran: "Ohne Sprachnormen gibt es keinen Sprachgebrauch, ohne Sprachgebrauch keine Kommunikation." Und in der Welt kritisiert Jan Küveler die neuen "Lifestyle-Linken": "Während sie sich moralisch überlegen dünken und andere Leute aufgrund ihrer Konsumentscheidungen oder -möglichkeiten verachten, zementieren sie in Wahrheit eine gesellschaftliche Spaltung, die einer wahren Linken, die gerade das Gegenteil anstrebt, niemals genehm sein dürfte. Das Vertrauen auf die eigene Tugendhaftigkeit lässt sie die wachsende Ungleichheit um sie herum ignorieren."
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Medien

Joshua Benton freut sich beim Mediendienst niemanlab.org über eine Kulturrevolution in amerikanischen Zeitungen: "Nachdem ich sie alle zusammengetragen hatte, war ich angenehm überrascht zu sehen, wie viel weniger weiß und männlich die Leitungspersonen der amerikanischen Zeitungsredaktionen in relativ kurzer Zeit geworden sind. Von den zwanzig größten Zeitungen werden nur sieben von weißen Männern geleitet. Zwölf werden von einer Frau, einer farbigen Person oder beidem geleitet. (Ein Spitzenposten, beim Honolulu Star-Advertiser, ist unbesetzt.)"
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Stichwörter: Kulturrevolution

Überwachung

Die sogenannten Sicherheitsfirmen wie NSO mit seiner Spyware "Pegasus" werden zum größten Unsicherheitsfaktor in den Nationen, schreibt Edward Snowden in seinem Substack-Blog. Und er erklärt nebenbei, warum NSO besonders Iphones so gerne hat. "Da Iphones per se geschlossener und aus einer Sicherheitsperspektive in Punkten sogar besser durchdacht sind als Googles Android-Betriebssystem, stellen sie auch eine Monokultur dar: Wenn man einen Weg findet, eines davon zu infizieren, kann man (wahrscheinlich) alle infizieren, ein Problem, das durch Apples Blackbox-Politik verschärft wird, die es den Kunden verbietet, irgendwelche sinnvollen Änderungen an der Funktionsweise von iOS-Geräten vorzunehmen. Kombiniert man diese Monokultur und das Blackboxing mit Apples nahezu universeller Beliebtheit bei der globalen Elite, werden die Gründe für die iPhone-Fixierung der NSO Group offensichtlich."
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