9punkt - Die Debattenrundschau

Objektfeld der Bekämpfung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2019. Italien ist ein Laboratorium der politischen Krise, schreibt der Politologe Francesco Grillo im Guardian, und es hat herausgefunden, dass Politik nicht ohne Bürger funktioniert. Auch die SZ fragt, was aus einer Demokratie wird, wenn der Common Sense dahin ist. Die Hongkonger dagegen sind laut Guardian heute vor allem auf eines stolz: "Hong Kong Core Values". Le Monde macht sich Sorgen um das von vielen Medien verfochtene Online-Abomodell, das zu stagnieren scheint. Und in der Welt verzweifelt Cis an Trans.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2019 finden Sie hier

Europa

Irgendetwas scheint schiefgelaufen zu sein im russischen Machtapparat. Der Journalist Iwan Golunow wurde nach massiven Protesten und Solidarisierungen freigelassen - der investigative Reporter war zuvor unter den üblichen fadenscheinigen Vorwänden unter Hausarrest gestellt worden. Die Proteste hatte eine neue Qualität in Putins Russland, berichtet Christina Hebel in Spiegel online: "Das Klima wird im Land als immer repressiver empfunden. Manipulierte Verfahren gelten in Russland als probates Mittel, Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen. Das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden ist minimal, der Golunow-Fall hielt vielen vor Augen, wie rücksichtslos Polizisten im Land vorgehen." Mehr zum Fall hier und hier.

Die SPD sollte ihr Selbstbild überprüfen, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in einem Essay über den Niedergang der Partei: "Sie hat es bis in die jüngste Zeit hinein gut verstanden, die Fiktion zu verbreiten, sie allein sei der Motor der sozialstaatlichen Einhegung der Industriegesellschaft gewesen." Am Ende ist sie ihr vielleicht zu sehr erlegen, so Schmid: An der Verbesserung der Lebensverhältnisse "war während der Weimarer Republik die konservative Zentrumspartei ebenso beteiligt wie die Sozialdemokratie. Und später galt das besonders für die Nationalsozialisten. Den breiten Massen den Widerstandsgeist auszutreiben und ihnen den politischen Schneid durch Wohlstandsmehrung abzukaufen, war eine erklärte Strategie des NS-Regimes. Eine erfolgreiche, wie unter anderem das Überlaufen vieler Arbeiter zur NSDAP beweist."

Der Autor und taz-Kolumnist Ilija Trojanow hat als Schüler Zeit in einem britischen Internat in Kenia verbracht. Was er dort erlebte, erscheint ihm in Brexit-Zeiten seltsam aktuell: "Am Ende meines ersten Schuljahres, als die Zeugnisse ausgeteilt wurden, erklärte der Klassenlehrer: 'Wie könnt ihr zulassen, dass ein Ausländer besser ist als ihr?' Der Ausländer, das war ich, die anderen Schüler offenbar Teil einer imperialen Einheit, auch wenn viele darunter Afrikaner und Inder waren. Ein Jahr später verkündete derselbe Lehrer: 'Es gibt zwei Arten von Menschen, Engländer und solche, die es gerne wären.'"

Die Fünf Sterne haben auf voller Linie versagt, schreibt der italienische Politologe Francesco Grillo im Guardian. Dabei hatte er durchaus Hoffnungen auf sie gesetzt, etwa auf eine ökologische Umgestaltung der Stadt Rom durch die Sterne-Bürgermeisterin. Aber alles ist beim alten geblieben. Italien sei ein Laboratorium der politischen Krise in Europa, und die Italiener seien bereit gewesen, radikale neue Lösungen auszuprobieren. "Das Dumme ist nur, dass wir den Fehler machten zu denken, dass Politiker einer Gesellschaft Wandel bringen können, während es jetzt offen zu Tage liegt, dass der Wandel nur dann kommen kann, wenn eine ausreichend große Zahl von Menschen Verantwortung dafür übernimmt."
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Ideen

In der SZ denkt Thomas Steinfeld über das "Volk" nach, das angeblich im Gegensatz zu den "Eliten" steht: "In dieser Radikalisierung gibt sich ein Grundwiderspruch des Demokratischen zu erkennen: Es hat nur Bestand, wenn sich eine deutliche Mehrheit des Wahlvolks in den wesentlichen Anliegen einig ist. Ist es mit der Wertegemeinschaft vorbei, wird offenbar, dass es keine inhaltliche Bestimmung der Demokratie gibt und ihr vielmehr rein mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Anders formuliert: Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende 'Common Sense' von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird. Sie kann, weil sie sich über den Willen des 'Volkes' definiert, nur mitmachen."

In der NZZ ist Klaus-Rüdiger Mai entsetzt über den undemokratischen Geist, den er an deutschen Universitäten ausmacht: "An den Aktionstagen unter dem Hashtag #wessenfreiheit rufen eine Reihe von Kunsthochschulen ... zu nicht weniger als zur Abschaffung der Freiheit der Kunst auf, wenn sie unterstellen, dass mit der Forderung nach Freiheit in der Kunst die 'Facetten institutioneller und gesellschaftlicher Macht im System Kunst' verdeckt werden, und behaupten, dass '... die sogenannte Freiheit der Kunst zum Freibrief für eine Einschränkung der Freiheit von Frauen in der Kunst' geworden sei. Man muss nur einmal Lenin oder Stalin lesen, um das Muster zu erkennen, um die Sprache zu verstehen, welche die Sprache von Zensoren ist."
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Politik

Die Hongkonger unterscheiden sich nicht mehr durch ihren Reichtum von den Festlandchinesen, sondern durch ihre Werte, die "Hong Kong Core Values", schreibt Antony Dapiran im Guardian mit Blick auf die erfolgreichen Proteste von Hunderttausenden gegen ein Abschiebungsgesetz, mit dem sich Hongkong dem Festland gebeugt hätte (die Entscheidung ist jetzt zumindest verschoben worden): "Ein Stolz, der auf Materialismus beruhte, ist einem tieferen Stolz gewichen, der auf den 'Hong Kong Core Values' beruht, Rechte und Freiheiten, durch die sich die Hongkonger vom Rest Chinas unterscheiden. Hong Kong Core Values sind: die Freiheit, die Regierung zu kritisieren, Rechtsstaatlichkeit, lebendige, unbeeinflusste Medien, das Recht an Walhen und an der Regierung teilzunehmen, unabhängige Justiz und natürlich das Demonstrationsrecht."
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Gesellschaft

Wo ist eigentlich die Atomlobby, fragt Anna Veronika Wendland, eine Verteidigerin der Atomkraft, bei den Salonkolumnisten. Ihre Gegner waren wohl stärker: "Wir lernen es in Schule, Kirche und Parlament. Die Atomkraft ist unbeherrschbar, Landschaften werden unbewohnbar, und Atommüll gibt über Millionen Jahre tödliche Strahlung ab. Dieses Bild steht im sonderbaren Gegensatz zu sechzig Jahren realer Atomkraft in Deutschland. Die Anlagen dampfen in idyllischen Landschaften vor sich hin, Flugzeuge sind bislang noch nie auf sie gefallen, Terroristen lassen sich nicht blicken, die Castoren stehen in Zwischenlagern, ohne dass die Dorfbewohner in der Umgebung in Angststarre fallen. Statistisch gesehen hat keine Form von Energieumwandlung in Deutschland so wenige Opfer gefordert und so wenige Umweltschäden produziert wie die Kernkraft."

In der Welt erkennt taz-Redakteur Jan Feddersen, dass er als Homosexueller und Cis-Mann nicht mehr "opferig" genug ist, in Gender-Diskursen das Wort zu ergreifen. Das dürfen eigentlich überhaupt nur noch Trans-Personen. Führt das weiter oder führt es zur Entsolidarisierung? "Weshalb sollte unsereins gegen die Diskriminierung von Trans*menschen sein, wenn diese doch zugleich einen selbst zum größten Übel erklären? Wozu führt es gesellschaftlich und politisch, die Mehrheit schlechthin zum Objektfeld der Bekämpfung zu machen? Welchen Sinn stiftet es, zwar die gefühlte Mehrheit in einem Seminar für Queer oder Gender Studies zu haben - aber schon in der Universitätsmensa kein Bein mehr an Land zu kriegen, von Arenen wie Fußballstadien, Landfrauentagen oder Demonstrationen gegen den Klimawandel zu schweigen?"
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Medien

(Via turi2) Im Journalistenverband DJV rumort es. Unter anderem wegen der CDU-nahen Position des Vorsitzenden Frank Überall in der Debatte zur EU-Urheberrechtsreform, die von dem Mitglied Peter Welchering in einem offenen Brief kritisiert wird, berichten Vinzenz Neumaier und Eirik Sedlmair bei kress.de: "In Sachen EU-Urheberrechtsreform veröffentlichte der Bundesverband im März diesen Jahres eine Pressemitteilung, die die geplante Reform verteidigte und ihre Vorteile lobte - zum Ärger vieler Mitglieder. Auf Twitter folgte ein Shitstorm, mehrere Journalisten erklärten, sie würden aus dem DJV austreten, andere wie Welchering distanzierten sich öffentlich."

Könnte es sein, dass das Online-Abomodell für Medien an seine Grenzen gelangt? Alexandre Berteau liest für Le Monde eine große Studie, die wenig Dynamik erkennt: "Nach einer Umfrage unter 75.000 Personen in 38 Ländern führen Forscher der Universität Oxford aus, dass die Zahl der Abonnenten zwar steigt, der Teil der Leser, die bereit sind zu bezahlen, um sich im Internet zu informieren, seit sechs Jahren stabil bei 11 Prozent bleibt. So dass mehrere Forscher fürchten, dass der Sektor an ein Plafond gestoßen ist. Diese Sorge ist umso begründeter, als 'wenige Menschen aktuell bereit sind, mehr als ein Online-Medium zu abonnieren', betont die Studie."

Außerdem: Stefan Niggemeier erzählt in seinen Uebermedien, wie sich der FAZ-Redakteur Jasper von Altenbockum komplett verrannte, als er seine Kritik an dem angeblich gekauften Youtuber Rezo ausgerechnet mit dem Video eines dubiosen Islamisten belegte - und dann nur widerwillig zurückruderte.
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Internet

Die Künstliche Intelligenz, die zum Beispiel autonome Elektroautos in umweltschonenden Netzen bewegen soll, hat einen Nachteil, schreibt Joachim Müller-Jung in der FAZ. Sie ist ein Energiefresser ohnegleichen. Ein anderes Beispiel: "Der Münchener Energiemarktspezialist Christian Stoll hat in einer Arbeit über den weltweiten bargeldosen, rein digitalen Markt der Kryptowährungen den gewaltigen Appetit der Computer nach Strom in Zahlen gefasst: 45 Terawattstunden Energieverbrauch pro Jahr, das entspricht gegenwärtig fast 23 Milliarden Tonnen Kohlendioxid-Emissionen weltweit - damit liegt der Handel mit den Bitcoins auf Höhe des Energieverbrauchs ganzer Kleinstaaten wie der Schweiz oder Jordaniens."
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