9punkt - Die Debattenrundschau

Dreißigmal so viel Gemüse und Obst

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2019. Der Ökonom Simon Wren-Lewis geht im New Statesman noch mal alle Lügen der Brexiteers durch, darunter die gemeinste. Der Guardian fragt, ob das House of Commons die Krise lösen kann. Globalgeschichte ist keine Absage an Nationalgeschichte, versichert Historiker Jürgen Osterhammel in der NZZ. In der SZ erklärt der Zukunftsforscher Daniel Dettling, was am Populismus gut ist.Neben Paragraf 11 und 13 sollte auch über Paragraf 12 der EU-Urheberrechtsreform diskutiert werden, finden die Freischreiber.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.01.2019 finden Sie hier

Europa

Der Wirtschaftswissenschaftler Simon Wren-Lewis geht im New Statesman nochmal all die Lügen durch, mit denen sich die Brexit-Befürworter abspeisen ließen, gerade jene, die sich "links liegen gelassen" fühlten: "Die alte Ordnung, die sie sich zurückwünschen, ist eine industrialisierte Wirtschaft mit starken Gewerkschaften und einem starken Wohlfahrtsstaat, während ein von den Brexiteers geführtes No-Deal-Britannien eine reine Dienstleistungsgesellschaft mit wenig Gewerkschaften und Wohlfahrt wäre. Dies ist die Ironie von No Deal: Seine Anhänger ersehnen eine Vergangenheit, die noch nicht neoliberal war, während seine Anführer ihnen gerade davon noch mehr davon geben wollen."

Auch Jeremy Corbyn steckt in einem Brexit-Dilemma, schreibt Tom McTague in politico.eu. Er habe zwei Ziele: "Eine allgemeine Wahl erzwingen, um Macht zu gewinnen, und nicht als Anführer derjenigen auserkoren zu werden, die in der Europäischen Union bleiben wollen." Die Ironie sei jedoch "für Labour, dass Corbyn, wenn er erfolgreiche eine Wahl erzwingt, sofort gezwungen ist, jene Entscheidung zu treffen, gegen die er sich bisher mit allen Mitteln wehrt."

Rafael Behr glaubt im Guardian nicht daran, dass es die Abgeordneten des House of Commons aus eigener Kraft schaffen, das Brexit-Problem zu lösen: "Brexit hat einen parteiübergreifenden Dialog, ja sogar Freundschaften geschaffen. Es gab gemeinsame Änderungsanträge und koordinierte Rebellionen. Aber hier geht es vor allem um das Verfahren und Einigkeit darüber, was nicht passieren sollte. Die Ablehnung von No Deal ist nur das Hügelland der Kooperation. Sich positiv darauf festzulegen, was passieren sollte, ist schon ein höherer Berg. Wer Parteigrenzen lange genug auflösen will, um die notwendigen Gesetze zu verabschieden, muss noch dünnere Luft atmen."
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Urheberrecht

Bisher wurden bei der EU-Urheberrechtsreform der Paragraf 11 (Leistungsschutzrecht) und der Paragraf 13 (Uploadfilter) thematisiert, aber nicht der Paragraf 12, der auf europäischer Ebene wieder die Verlegerbeteiligung an Einnahmen durch Verwertungsgesellschaften einführen soll - gegen diese Praxis, die in Deutschland fälschlich aufrechterhalten worden war, hatte Martin Vogel erfolgreich gestritten. Gegen die Wiedereinführung durch die europäische Hintertür plädieren die Freischreiber auf ihrer Website: "Freischreiber lehnt eine pauschale, gesetzlich verankerte Beteiligung der Verleger an den Einnahmen aus Verwertungsrechten ab. Wir erwarten von der Politik, dass sie sich - auch auf europäischer Ebene - dafür einsetzt, dass solche Vergütungen aus Kopien etc. weiterhin ausschließlich an die Urheber ausgezahlt werden. Verlage sollten daran, wenn überhaupt, nur mit Zustimmung der Autoren beteiligt werden können, wie es etwa der aktuelle Verteilungsplan der VG Wort vorsieht. Mit dieser Position sind wir nicht allein: Autorenverbände aus 18 EU-Mitgliedsstaaten fordern in einer Petition die Abschaffung des Artikels 12."
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Ideen

Populismus ist gut für die Demokratie, glaubt Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Süddeutschen. Plötzlich wird diskutiert, welches Europa wir wirklich wollen. Und es geht dabei in die richtige Richtung: "Die Zustimmung zur Europäischen Union ist auf einem Rekordniveau (Eurobarometer 2018), vor allem bei den Jüngeren. Der nahende Brexit wird den pro-europäischen Parteien bei der Europawahl im Mai erhebliche Stimmenzuwächse bringen. Die globalen Zukunftsfragen Klimaschutz, Migration, Handel und Digitalisierung führen zu mehr Einigkeit innerhalb der EU als je zuvor." Dettling setzt auf die "Neodemokraten" wie Macron, Robert Habeck und Jesse Klaver. "Ihr Ziel ist eine bessere Zukunft, in der wir das Morgen nicht durch ein ideologisches Programm gewinnen, sondern durch ständiges Experimentieren und Improvisieren, Lernen und Verändern, Navigieren und Korrigieren."

Der Wien lehrende Romanist Georg Kremnitz plädiert im Interview mit dem Standard für mehr Demokratie in der EU und eine stärkere Beteiligung der Regionen. Der Nationalstaat hat für ihn eigentlich abgedankt: "Es war gefährlich, vorschnell Staaten in die EU aufzunehmen, die sich, vereinfacht gesagt, ihre Hörner noch nicht abgestoßen hatten. In anderer Hinsicht bedeutete die Europäische Union einen Rückfall in vordemokratische Zeiten. Sie besitzt weniger demokratische Kontrolle als irgendeines ihrer Mitglieder. Es wird wohl nötig sein, auf europäischer Ebene die Französische Revolution nachzuholen." Ohne Guillotine, versichert Kremnitz.

In der NZZ sieht das Thomas Risi ganz anders. Echte Demokratie ist für ihn nur in einem kleineren, überschaubaren Gebilde, eben einem Nationalstaat möglich: "Die Vorstellung, nichts behindere Europa mehr als das Festhalten an den Nationalstaaten, ist ein fataler Irrtum. Sie verkennt das, was den Kontinent im Kern ausmacht: Europas Identität liegt nicht in großräumiger Einheitlichkeit, sondern in der Vielfalt regionaler Kulturen, die sich auf engem Raum entwickelt haben. Europäer definieren sich noch immer in erster Linie als Deutsche, Franzosen oder Engländer, auch wenn Europa durchaus einen Aspekt ihres Selbstverständnisses spiegelt. Das heißt allerdings nicht, dass es eine europäische Identität nicht gäbe. Es gibt sie."

Globalgeschichte ist keine Absage an Nationalgeschichte, versichert der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel im Interview mit der NZZ, solange letztere einen Blick für größere Zusammenhänge behält. Eigentlich ergänzt sich das ganz gut: "Sie werden überrascht sein, wenn ich dafür plädiere, dem 20. Jahrhundert mehr Interesse zu schenken; es wird im Allgemeinen ja keineswegs vernachlässigt. Es ist aber auffällig, dass die intellektuell anspruchsvollsten globalhistorischen Arbeiten bisher im Zeitraum zwischen etwa 1500 und 1900 angesiedelt waren. Für das 20. Jahrhundert muss ein deutlicherer Begriff von Globalität entwickelt werden, der nicht mit wirtschaftlicher und kommunikationstechnischer Globalisierung identisch ist. Auch müssen die beiden Weltkriege plausibel einbezogen werden. Sie werden bis jetzt - für den Ersten Weltkrieg beginnt sich dies gerade zu ändern - als Ausnahmezeiten sui generis den Spezialisten überlassen, wo sie doch eigentlich 'Globalgeschichte pur' sein sollten."
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Gesellschaft

Es führt kein Weg drum herum, wir müssen unsere Ernährung ändern, wenn wir das Klima retten wollen, schreibt in der FAZ Joachim Müller-Jung und bezieht sich auf Studien aus Nature und Lancet: "Ihr Rezept für eine 'planetenfreundliche, gesunde Ernährung': hauptsächlich pflanzenbasierte Nahrungsmittel, wenig Zucker, nur noch halb so viel rotes Fleisch, Hülsenfrüchte und Nüsse statt Rindersteak, dreißigmal so viel Gemüse und Obst, am Ende womöglich auch Stammzell-Burger aus dem Labor."

"Der Feminismus hat sich von einer politischen Bewegung zu einem sentimentalen Popphänomen verschoben, ist mehr Beyoncé-Konzert als Butler-Lesekreis", meint Laura Dshamilja Weber, die in den USA als Literaturscout arbeitet, auf Zeit online, aber eigentlich ist das okay: "Obwohl sich nur die wenigsten mit den historischen und soziokulturellen Strukturen des Patriarchats auseinandersetzen wollen, spüren doch mehr Amerikanerinnen denn je den Frust, nicht gleichberechtigt an der Gestaltung des gesellschaftlichen und privaten Lebens beteiligt zu sein. Und selbst wenn Kritikerinnen wie Jessa Crispin zu Recht besorgt sind um die Banalität und Kommerzialisierung der aktuellen popfeministischen Debatte, so können sie den Erfolg dieses Mainstreamfeminismus unmöglich leugnen: Frauen haben sich ein neues Selbstverständnis erkämpft, das in der nächsten Generation wachsen kann."

In der Welt wehrt sich Slavoj Zizek heftig dagegen, dass Männlichkeit neuerdings das Beiwort "toxisch" erhält. Mit ähnlichen Äußerungen wird er beim Kreml-Propagandasender RT Deutsch zitiert: "Was diese Aussage wirklich gefährlich macht, ist die Mischung aus Ideologie und scheinbar neutraler Expertise: Eine starke ideologische Geste des Ausschlusses als inakzeptabel erachteter Phänomene wird als unparteiische Beschreibung medizinischer Fakten dargestellt. Wie kann man sich hier nicht an das berüchtigte Serbski-Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie in Moskau erinnern (das bis heute blüht!), das zu Sowjetzeiten dafür bekannt war, Dissidenz als eine Form der Geisteskrankheit zu kategorisieren? Und genau das Gleiche geschieht, wenn wir Männlichkeit unter dem Deckmantel des medizinischen Fachwissens als 'toxisch' bezeichnen. Es geht um die Auferlegung einer neuen Normativität, einer neuen Figur des Feindes."
Archiv: Gesellschaft