9punkt - Die Debattenrundschau

Raum der Stille

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2018. Zur Restitutionsdebatte äußert sich jetzt auch Hermann Parzinger von der Preußen-Stiftung und stimmt den Forderungen mit Einschränkungen zu. In Frankreich gibt es einen kritischen Museumsdirektor in dieser Frage, berichtet die Zeit. Aber der wird sowieso pensioniert. Im Philomag ruft Nancy Fraser im Namen eines linken Populismus zu einer Politik der Spaltung auf. Vollends demontiert ist Tariq Ramadan, nachdem er nun auch die Unterstützung von Katar verliert, weiß Libération.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.11.2018 finden Sie hier

Kulturpolitik

Jetzt ist die Restitutionsdebatte in weiteren Leitmedien wie der Zeit und der nun doch erwachten FAZ angekommen.

Deutsche Politik und Kultureinrichtungen sind längst mit der Rückgabe von kolonialem Raubgut, der Zusammenarbeit mit Herkunftsländern und der Erforschung der Objektbiografien beschäftigt, schreibt Hermann Parzinger in einem watteweichen Aufmacher des FAZ-Feuilletons - und ergänzt den Katalog um weitere Forderungen. Ein Raum der Stille zum Gedenken an die Opfer kolonialer Verbrechen soll etwa im Humboldt-Forum geschaffen werden, zudem müsse eine internationale Ethikkommission einen Handlungsrahmen schaffen. Und: "Wir haben uns an unseren Partnern in Afrika, Asien oder Ozeanien zu orientieren, nicht umgekehrt. Die wahre Komplexität des Themas ist ihnen bewusst. Auch sie wollen wissen, welche Geschichten hinter den Objekten stehen, das hören wir in unseren Gesprächen immer wieder."

Auch in der Zeit fasst Georg Blume die seit einer Woche geführte Debatte um den von Benedicte Savoy und Felwine Sarr vorgelegten Bericht zur Rückerstattung von Kunst aus kolonialem Kontext (unsere Resümees) zusammen. Außerdem macht er auch auf die wenigen Gegenstimmen aufmerksam: "Nach Monaten des Schweigens zur Initiative Macrons meldete sich am Montag dieser Woche erstmals der Direktor des Pariser Völkerkundemuseums, Stéphane Martin, zu Wort. Er schalt den Sarr-Savoy-Bericht als das Werk zweier Außenseiter. 'Rückerstattung ist nur eine Möglichkeit', hielt Martin gegen das Kernanliegen des Berichts - denn er will seine Kunst lieber behalten, gerne ausleihen, austauschen und mit allen kooperieren. Aber der Besitzer bleiben. Martin wusste, dass er mit seiner Stellungnahme seine Entlassung betrieb. Wer in Paris die großen Museen leitet, bestimmt immer noch der französische Präsident. Aber Martin erwartet ohnehin die Pensionierung. Und er wusste eine ganze Kunst-Armada hinter sich." Mit Verweis auf das Prinzip der Unveräußerlichkeit staatlichen Besitzes in Frankreich hält auch die Pariser Anwältin Amelie Tripet, die reiche französische Kunstsammler vertritt, den Bericht für unanwendbar.  Restitution ist erst der Anfang, sagt indes der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda im Zeit-Gespräch mit Ijoma Mangold: "Wir brauchen eine universelle Perspektive, bei der Objekte aus aller Welt überall in der Welt gezeigt werden." Zurückgeben will er aber nur, wenn auch andere zurückgeben.

Von einer internationalen Berliner Raubkunst-Tag über die Washingtoner Erklärung zur Restitution von jüdischem Besitz berichtet derweil Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. Er erinnert daran, wie groß der Widerstand der Institutionen war, bis sie durch Raubkunstskandale zur Rückgabe gezwungen wurden und beklagt, dass die Washingtoner Erklärung nur für NS-Raubkunst aus jüdischem Besitz gilt: "Warum wurden nicht vergleichbare Regelungen für Sinti und für Roma gefunden? Wie steht es mit dem Eigentum von politisch oder religiös Verfolgten, von Schwulen etc." Im Dlf-Gespräch berichtet der Raubkunst-Experte Stefan Koldehoff, der bei der Berliner Raubkunst-Tagung dabei war, dass Parzinger außerdem ein verbindliches Raubkunstgesetz für Deutschland nach dem Vorbild Österreichs forderte: "Da darf eine Kommission, egal, ob den Museen das passt oder nicht, in die Häuser rein, auch in die Archive, und gucken, was da ist, daraus dann Berichte schreiben, die direkt dem Kulturministerium vorgelegt werden."
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Ideen

Die altlinke, an der Frankfurter Schule orientierte Philosophin und Feministin Nancy Fraser ruft auf die Frage nach den Ursprüngen des Populismus: "hier". Im Gespräch mit Nils Markwardt und Dominik Erhard bei philomag.de erklärt sie den "progressiven Neoliberalismus" für schuldig, den sie als ein "ein seltsames Bündnis zweier Kräfte" beschreibt: "Auf der einen Seite die dynamischsten, postindustriellen, symbolisch aufgeladenen Teile der US-Wirtschaft - Silicon Valley, Wall Street und Hollywood. Auf der anderen Seite der liberale Mainstream der 'Neuen sozialen Bewegungen' - liberaler Feminismus und LGBTQ-Rechte, Multikulturalismus und Umweltschutz. Obwohl Letztere in diesem Bündnis die Juniorpartner waren, steuerten die 'Progressiven' etwas Unentbehrliches bei: eine emanzipatorische Fassade, die als Alibi für die Raubzüge des Kapitals diente." Zum Glück aber, so Fraser, gibt es mit Bernie Sanders "eine progressive populistische Alternative zum progressiven Neoliberalismus"! Und Fraser ruft gar zu einer "Politik der Spaltung" auf, "um eine neue progressiv-populistische Mehrheit zu schaffen". Es gibt also neben Chantal Mouffe (unsere Resümees) eine zweite Pasionara des linken Populismus.

In der Zeit warnt dagegen der Soziologe Andreas Reckwitz ("Die Gesellschaft der Singularitäten") eindringlich vor der Neoliberalismus-Gebetsmühle: "Der Neoliberalismus wird tatsächlich momentan als Allzweck-Erklärungsformel überstrapaziert. Das hat Folgen: Es erschwert uns, die tief greifende Transformation, welche die westlichen Gesellschaften seit den 1970er-Jahren erleben, in ihrer ganzen Komplexität zu begreifen. Es macht es damit auch schwieriger, angemessene politische Antworten zu finden."

Außerdem: Ebenfalls in der Zeit lokalisiert der Historiker Christopher Clark die Ursprünge heutiger Identitätsdebatten in europäischen Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts.
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Religion

Der Fall ist bei den #MeToo-AktivistInnen nicht ganz so populär. Aber ebenso gründlich wie Harvey Weinstein hat sich Tariq Ramadan, der einstige Herold eines "gemäßigten" Islams, demontiert. Nicht nur, dass gegen ihn drei Anklagen wegen Vergewaltigung vorliegen. Letztes Jahr hat auch die Tribune de Genève  Missbrauchsvorwürfe von Schülerinnen aus seiner Zeit als Lehrer in Genf thematisiert, berichtet Bernadette Sauvaget in Libération. Und "ein anderer Schlag kommt nun aus Katar, dem wichtigsten Geldgeber des Theologen, der seinen Lehrstuhl in Oxford finanziert und ihm außerdem sehr großzügige Mittel für die Führung des CILE, des 'centre de recherches sur l'éthique islamique' zukommen lässt, das an die Universität von Doha angeschlossen ist. Mohamed el-Moctar el-Shinqiti, sehr einflussreicher Kolumnist und Analyst bei Al Jazeera hat am Mittwoch in seinem Blog einen Text publiziert, in dem er aufruft, Ramadan nicht mehr zu unterstützen, denn er sei ein 'Sexsüchtiger mit Verachtung für Menschen, die er missbraucht, und Täuschung der Muslime'."

Wortmeldungen vor der beginnenden Islamkonferenz: Auch der Zentralrat der Muslime will keine Imame aus dem Ausland, sagt deren Vorsitzender, Aiman Mazyek, im FR-Gespräch mit Thoralf Cleven und fordert eine Organisation und Finanzierung der Imanausbildung in Deutschland: "Wir sind bereit, die hier ausgebildeten, deutschsprachigen und mit der Kultur und dem Land vertrauten Imame in unseren Moscheen einzustellen." Selbstverständlich wünschen sich alle Muslime, dass Theologie und Religion seitens des Staates gefördert werden, schreibt die Imamin Rabeya Müller, die beim Zentrum für Islamische Frauenforschung und Frauenförderung in Köln tätig ist in der SZ. Aber: "Der Islam ist eine Weltreligion und strukturell nicht unmittelbar mit den christlichen Kirchen vergleichbar. Es gibt im Islam kein Lehramt, auch wenn mancher (und manche) gerne Papst aller Muslime wäre. Der Islam kennt keine Ordination von Geistlichen, auch wenn es Verbandsfunktionäre gibt, die gerne die ihnen genehmen Personen ordinieren und missliebigen die Zustimmung verweigern würden. Doch diese Entscheidung trifft regulär eine muslimische Gemeinde ganz basisdemokratisch für sich selbst, dabei sollte es auch bleiben." Stattdessen fordert sie eine staatliche organisierte Plattform, auf der die verschiedenen Initiativen und Strömungen des Islams miteinander diskutieren können.

Im Zeit-Gespräch mit Martin Lohmann erzählt der katholische Pfarrer Michael Theuerl, der gerade erst Syrien besuchte, von der Furcht syrischer Christen, dass im Zuge der deutschen Willkommenspolitik "orientalische Kirchen sterben" könnten. Außerdem spricht er über die Nähe zu Assad, der ihnen Sicherheit garantiere: "Ein Bischof berichtete uns in Damaskus, wie am letzten Osterfest plötzlich jemand von der Regierung anrief, der Präsident wolle am Nachmittag ein Altersheim besuchen - ob er auch kommen könne? Also fuhr der Bischof hin, alle saßen im Kreis, der Präsident, seine Frau, sie hielt rechts und links den alten Leutchen die Hand, und Assad fragte, was man noch im Haus brauchen könnte."
 
Von den blutigen Konflikten zwischen Muslimen und Christen in der Zentralafrikanischen Republik berichtet außerdem Andrea Böhm in der Zeit.
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Urheberrecht

Christoph Keese, Hauptpropagandist des Springer-Verlags für eine Urheberrechtsreform im Sinne dieses Verlags und Aufsichtsrat der VG Media, die die Google-Gelder eintreiben will (aber bisher nicht kann), wirft Youtube in der Welt Propaganda vor. Nach Blogeinträgen der Youtube-Chefin Susan Wojcicki (unser Resümee) kam es dort zu überraschend heftigen Reaktionen von Youtube-Kanalbetreibern. So schlimm wird es mit dem Uploadfiltern, die die Machtposition der rechteverwaltenden Konzerne wieder herstellen sollen, doch gar nicht werden, beteuert Keese: "Wer einige Passagen aus einem Buch vorliest, begeht kein Unrecht, sofern er vernünftige Grenzen einhält..." Urheberrechtlich ist das falsch, das weiß Keese, und fährt darum fort: "Weil YouTuber wissen, dass sie mit dem nicht lizensierten Abspielen von Werken Dritter eine Sperrung durch YouTube riskieren, werden sie vorsichtiger mit geistigem Eigentum umgehen und sich aus der Gefahrenzone heraushalten. Das heißt nicht, dass sie keine Musik mehr abspielen dürfen. Die Musik verschwindet nicht aus Videos. Es heißt nur, dass sie sich die Rechte besorgen müssen. Das ist die normalste Sache der Welt und nicht zu viel verlangt."

Auch in der Schweiz ist ein Urhebergesetz geplant, das wie in Deutschland im Prinzip jedes Foto - und sei es ein Röntgenbild - unter Urheberrechtsvorbehalt stellt. Donat Agosti protestiert in der NZZ: "Klar ist aber, welches die Folgen einer solchen Regelung wären: Museen, Archive, Dokumentarstellen und viele andere solche Einrichtungen müssten ihre Fotosammlungen für die Öffentlichkeit unzugänglich machen. Da es ihnen nur mit unverhältnismäßigem Aufwand oder überhaupt nicht möglich wäre, die Fotografinnen und Fotografen der bei ihnen vorhandenen Bilder ausfindig zu machen und deren Einwilligung zur weiteren Nutzung zu erhalten, müssten sie auf die Verwendung dieser Fotos verzichten."
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