9punkt - Die Debattenrundschau

Die neue Normalität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2016. Aleppo wird zurückerobert. Und "die Täter müssen sich vor nichts fürchten", konstatieren die Kommentatoren - die Zivilbevölkerung wird einfach allein gelassen.  Nedžad Avdić, der den Genozid in Srebrenica überlebte, schildert es im Guardian als Verrat "an den Überlebenden und Opfern aller Genozide". Die New York Times resümiert die russischen Eingriffe in den amerikanischen Wahlkampf. Ta-Nehisi Coates schreibt im Atlantic nochmal einen langen Artikel über "seinen" schwarzen Präsidenten Obama, der ihm vielleicht nicht ganz schwarz genug war.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2016 finden Sie hier

Politik

Aleppo wird in diesen Tagen offenbar endgültig von der syrisch-russisch-iranischen Allianz erobert. Die hilflosen Appelle der Kanzlerin bringen nichts, schreibt Stefan Kuzmany in einem Kommentar für Spiegel online: "Warum sollten die Russen und Iraner, warum sollte Assad sich, so kurz davor, auch den letzten 'Terroristen' auszuschalten, plötzlich überzeugen lassen? Die USA, die einzige Kraft, die vielleicht die Macht gehabt hätte, entscheidend gegen das Assad-Regime vorzugehen oder wenigstens Russland davon abzuhalten, dieses zum Sieg zu bomben, haben sich entschieden, nichts zu tun. Gedeckt von seinen Moskauer Partnern musste Assad nichts befürchten, keine Resolution des Sicherheitsrates, keine Konsequenzen nach der Überschreitung auch der letzten roten Linie."

Auf Zeit online kann Carsten Luther nur noch verzweifeln: "Wie soll man verstehen, was seit Jahren mit jedem Tag offensichtlicher geworden ist: Der Gewalt in Syrien setzt niemand etwas entgegen, die Täter müssen sich vor nichts fürchten. Die unmenschlichen Verbrechen dieses Krieges geschehen nicht im Stillen, sondern unter den Augen aller. Akteure und Institutionen, denen man einmal zugetraut hatte, solche Gräuel zu verhindern: Sie richten nichts aus. Die Vorstellung, die internationale Gemeinschaft habe eine Verantwortung, Menschen vor solchem Leid zu bewahren - wer soll das noch glauben?"

In der FR erinnert Martin Gehlen daran, dass der Protest gegen das Assad-Regime "einst mit friedlichen Massenprotesten der Bevölkerung begann. Hunderttausende Bürger hatten nach vierzig Jahren Diktatur die Herrschaft des Assad-Clans und seiner Getreuen satt, die das Land wie ihre Privatdomäne beherrschten und ausplünderten. Syrien war vor dem Arabischen Frühling und ist bis heute einer der härtesten Polizeistaaten auf dem Globus. Mindestens 17 000 Menschen wurden nach Angaben von Amnesty International seit März 2011 zu Tode gequält - durch einen Staatsapparat, der für seinen Machterhalt vor keiner Bestialität zurückschreckt. An diesem Grundübel hat sich nichts geändert - und so wird es auch nach Aleppo ohne einen wirklichen Machtkompromiss zwischen dem Regime und der moderaten aufständischen Bevölkerung keinen Frieden geben."

Nedžad Avdić, der den Genozid in Srebrenica überlebt hat, fragt im Guardian, ob die Welt wirklich nichts gelernt hat seitdem. Nicht mal humanitäre Hilfe konnte an die Zivilisten in Aleppo geliefert werden. "Das ist ein Verrat nicht nur an den Menschen in Aleppo und Syrien, sondern an den Überlebenden und Opfern aller Genozide, aus denen wir angeblich gelernt haben. Statt dessen wurde das schlimmste menschliche Verhalten zur neuen Normalität. Wenn wir wegsehen, schaffen wir einen äußerst gefählichen Präzedenzfall, einen, der sich meiner Erfahrung nach wiederholen wird."

Die New York Times bringt einen resümierenden Report über russische Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf und kommt nach Dutzenden Interviews und Hintergrundgesprächen - anders als der künftige Präsident - zu einem ziemlich eindeutigen Ergebnis: "Auch wenn das ganze Ausmaß des Hacks nicht nicht mit Gewissheit benannt werden kann, ist eines klar: Eine kostengünstige wirksame Waffe, die Russland zuvor in der Ukraine und Europa eingesetzt hatte, wurde auf die Vereinigten Staaten gerichtet, mit zerstörerischer Effizienz. Für Russland mit seiner geschwächten Ökonomie und einem Nukleararsenal, das es nicht einsetzen kann, wenn es nicht den totalen Krieg will, erweist sich cyberpower als die perfekte Waffe: billig, schwer auszumachen, schwer nachzuweisen."
Archiv: Politik

Überwachung

Andre Meister präsentiert in Netzpolitik einen ausführlichen Bericht über westliche Überwachungstrechnik in Syrien: "Laut uns vorliegenden Dokumenten setzte die syrische Regierung mindestens seit 2004 Technologien der deutschen Unternehmen Siemens und Ultimaco ein, um Kommunikation in ihren Netzen abzufangen. Die IT-Sicherheits- und Überwachungsfirma Ultimaco verkaufte im August dieses Jahres für 1,179 Millionen (Euro) ein System zur Überwachung von TK-Diensten an Siemens Syrien. Das patentierte Lawful Interception Management System (LIMS) ermöglicht das Abhören von Kommunikation in Echtzeit, sowohl für Anrufe, Textnachrichten, Faxe, E-Mails, IP-Telefonie, Instant Messaging und andere Dienste."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Syrien, Siemens, Netzpolitik

Europa

Uwe Rada greift in der taz noch einmal den Skandal um die fristlose Entlassung der Leiterin des Berliner Polen-Instituts, Katarzyna Wielga-Skolimowska, auf. Die taz hatte sich einigen Ärger eingehandelt, weil sie aus einem Gutachten des polnischen Botschafters in Berlin, Andrzej Przyłębski, zitiert hatte, der kritisierte, dass sich Wielga-Skolimowska zu sehr auf Avantgardemusik und den polnisch-jüdischen Dialog konzentriert habe: "Polens Botschafter hingegen lud für Anfang November zur Berliner Premiere des Propagandafilms 'Smolensk' ein. Allerdings wollte kein Berliner Kino den Film zeigen, der behauptet, der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine 2010 sei kein Unfall, sondern ein russischer Terrorakt gewesen. Die Botschaft musste die Premiere schließlich absagen."

In der FR fordert Markus Decker, die Ditib, die laut einem Bericht in Cumhuriyet Erdogan-Gegner in Deutschland ausspioniert, vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen.
Archiv: Europa

Urheberrecht

Der Bundestag soll noch  diese Woche über einen Entwurf zu einem Übergangsentwurf abstimmen, mit dem die bisherige rechtswidrige Praxis der VG Wort "legal" wieder hergestellt werden soll, obwohl der EuGH zweimal gegen eine soche Idee votiert hat, schreibt der Dienst vginfo.org: "Über beide Urteile will sich der deutsche Gesetzgeber nun hinwegsetzen. Bis zu einer Änderung des Europarechts (der entsprechende Vorschlag hier) soll eine 'Übergangslösung' greifen, die es erlaubt, die Verleger weiter zu beteiligen, obwohl sie nach dem derzeit geltenden europäischen Recht nicht mehr beteiligt werden dürfen. In der Praxis braucht eine solche Regelung nicht europarechtskonform zu sein, sondern nur gut genug, um der VG Wort  einen Vorwand zu liefern, ihre jetzige illegale Praxis beizubehalten. Es müsste dann erst wieder jemand dagegen klagen - und bis dahin dürfte eine europäische Neuregelung in Kraft sein." Auch Zeit online berichtet.
Archiv: Urheberrecht

Religion

Oh Gott, nun auch noch dies: "Der interreligiöse Dialog ist in Schieflage", meldet Thomas Thiel in der FAZ: "Das Christentum hat sich von der Wahrheit verabschiedet, die der Islam mit Leidenschaft vertritt. Nur die Reflexion auf das wissenschaftliche Weltbild kann die Spaltung überwinden."

In der NZZ gratuliert Otto Kallscheuer dem Papst zum Achtzigsten.
Archiv: Religion

Gesellschaft

Wenn vom Versagen der Eliten die Rede ist, kann eigentlich nur eine Elite gemeint sein, meint der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz in einem langen Kommentar in der NZZ: die "Journalisten des sozial-progressiven Mainstream", die lieber belehren als berichten. "Offensichtlich kommen viele Intellektuelle mit dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht zurecht. Im Zeitalter des Internet und der sozialen Medien haben wir es in der Tat mit einer revolutionären Machtverschiebung auf allen Ebenen der Gesellschaft zu tun. Die Macht verschiebt sich von den Politikern zu den Bürgern. Die Stichworte lauten Partizipation, direkte Demokratie und Volksentscheid."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Unbeeindruckt von der Tatsache, dass Obama zwei Mal mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde, unbeeindruckt auch davon, dass viele ehemalige Obama-Wähler Trump gewählt haben (mehr hier und hier), und völlig blind für den unglaublichen Sexismus, der Hillary Clinton entgegenschlug, erklärt Ta-Nehisi Coates in einem epischen Artikel in Atlantic den Wahlsieg Trumps zum Sieg der Rassisten. Dass es so kommen würde, habe er Obama schon vor Monaten im Weißen Haus gesagt: "Damals schien der Präsident nicht beunruhigt von Trump. Als ich Obama sagte, Trumps Kandidatur sei eine explizite Reaktion auf die Tatsache eines schwarzen Präsidenten, sagte er, das könne gut sein, listete dann aber andere Gründe auf. Beim Abwägen von Trumps Chancen war er direkt: Er könne nicht gewinnen."

Auf diesen Artikel antwortet im Atlantic die ebenfalls schwarze Autorin Tressie McMillan Cottom. Anders als Coates, der Obama wegen seiner weißen Verwandtschaft Vertrauensseligkeit gegenüber Weißen bescheinige, sieht sie das Problem woanders: "Es machte nichts aus, dass Obama an weiße Leute glaubte, sie mussten nur an ihn glauben: an seinen Willen, ihre idealen Selbstbilder für sie zurückzureflektieren, die Welt zu ändern, ohne sie selbst zu ändern, Blackness für sie zu ändern, ohne für sie schwarz zu sein. Hier mag eine Rolle gepielt haben, was Coates in seinem Essay als Obamas 'Hybridität', seine 'Doppeltheit' und seine 'bi-rassische' Identität nennt."
Archiv: Ideen