9punkt - Die Debattenrundschau

International anerkannter Desinformationsindex

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2014. Der Totalrückzug der Nordkorea-Satire "The Interview" versetzt das globale Dorf in helle Aufregung. Gizmodo hat noch einen Trailer gefunden, auf den wir verlinken. Allgemein wird die Niederlage der Freiheit beklagt: "American freedom is now dead (1776-2014, RIP)". Außerdem: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat Ärger mit "postkolonialen" Interessenvertretern, die das komplette Konzept für das Humboldt-Forum in Frage stellen, berichtet die taz. Und Carta fragt, was Springer mit Politico vorhat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.12.2014 finden Sie hier

Internet

Schnell klicken: Bei Gizmodo findet sich tatsächlich noch ein kleiner Trailer zu der von Sony zurückgezogenen, umstrittenen Nordkorea-Satire "The Interview". "Irgendjemand in der PR-Abteilung wird wohl einen schlechten Tag haben", meint Gizmodo zu der offenbar versehentlichen Platzierung des Videos bei Youtube (wo man es aber inzwischen nicht mehr findet).

Bis gestern war die Sony-Hacks-Affäre den deutschen Zeitungen nur kurze Meldungen wert. Dass Sony "The Interview" auf Druck von Hackern nun komplett aus dem Verkehr zieht, schreckt sie dann aber doch auf. In der SZ spekulieren Mirjam Hauck und Hakan Tanriverdi, wer hinter dem Angriff stehen könnte. Die von CNN und New York Times zitierte Theorie anonymer Regierungsbeamter, nach der die Hacker im Auftrag der nordkoreanischen Regierung gehandelt haben sollen, sei nicht belegbar: "Beweise in Form einer Analyse des Angriffs gibt es nicht. Das wäre auch deshalb heikel, weil damit indirekt preisgegeben werden könnte, dass die USA sich ihrerseits in die Netzwerke der Nordkoreaner gehackt haben." In Wired hält Kim Zetter die Hinweise auf eine Beteiligung Nordkoreas für wenig stichhaltig. FAZ-Filmkritiker Dietmar Dath sieht die Affäre trotzdem als "Öffentlichkeitsdesaster von imposanter Reichweite" für Nordkorea.

Währenddessen meldet der Hollywood Reporter, dass nach dem Rückzug von "The Interview" ein anderes geplantes Nordkorea-Projekt nun gar nicht erst realisiert wird: Die für Mai angesetzten Dreharbeiten für die Verfilmung des Comics "Pyongyang" von Guy Delisle über einen Kanadier, der in Nordkorea der Spionage beschuldigt wird, sind von der Produktionsfirma New Regency abgeblasen worden.

"American freedom is now dead (1776-2014, RIP)", kommentiert Adam Sternbergh in Vulture: "Klar ist nunmehr, dass dies der Sargnagel für jene Art von Komödien ist, in denen ausländische Diktatoren ein feuriges Ende nehmen oder sich als außerirdische Kakerlaken entpuppen. Das mag eine kleine Nische sein, aber immerhin, es handelte sich doch seit einiger Zeit um ein robustes Genre."

Auch Jens Balzer und Daniel Haufler (Berliner Zeitung) sehen im "Kleingeist" der Kinoketten und Studios "eine bittere Niederlage für die Freiheit der Kunst. So überreichen sie Nordkoreas Diktator einen Siegerpokal, den dieser wirklich nicht verdient."

In der FR zeigt Daniel Kothenschulte Verständnis für die Entscheidung von Sony: "Die Weihnachtsferien gehören zu den umsatzstärksten Kinotagen des Jahres, die ganze Branche hätte ein verschrecktes Publikum zu spüren bekommen. Man muss die Absage auch als Entgegenkommen gegenüber den anderen Studios verstehen, so fatal das Zeichen einer Kapitulation gegenüber Kriminellen für sich genommen ist." Und Hanns-Georg Rodek erklärt in der Welt: "Der Komplettrückzug ist die Voraussetzung dafür, dass die Versicherung für den 42-Millionen-Dollar-Film ausgezahlt werden kann."

Selbst ein internationaler Großkonzern wie Sony hat einem Schurkenstaat und seiner Schattenarmee von Hackern nichts entgegenzusetzen, schreibt die New York Times im Leitartikel und erwartet eine Reaktion auf politischer Ebene: "The international community needs to speed up work on norms on what constitutes a cyberattack and what the response should be. If China and the United States are unable to work together in this critical area, the Internet will become a free-for-all and everyone will pay the price." Geradezu prophetisch liest sich ein Artikel zu derartigen Cyberattacken in der Businessweek (unser Resümee in der Magazinrundschau).

Nicht nur Paul Coelho will "The Interview" online stellen (mehr etwa bei Spiegel Online) auch Cory Doctorow appelliert in Boingboing an die Macht des Internets: "My fellow countrypersons, now is the time to torrent both films, and maybe "Dr. Strangelove", too, and organize home viewing parties for freedom."
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Politik

Als vor einigen Wochen die weißen Gedenkkreuze für die Mauertoten im Rahmen einer politischen Kunstaktion entführt wurden, sprachen DDR-Bürgerrechtler von einer "Schändung" und ungeheuerlichen "Instrumentalisierung" der Geschichte. Jetzt, da Pegida-Anhänger "Montagsdemonstrationen" abhalten und "Wir sind das Volk" skandieren, schweigen sie, beklagt die Geschichtsredaktion der Zeit in einem offenen Brief an die DDR-Bürgerrechtler: "Vor 25 Jahren zogt Ihr durch die Straßen, jeden Montag wart Ihr mehr. Es war ein mutiger Protest, denn er richtete sich gegen Stärkere, gegen einen autoritären Staat, der seine Bürger unterdrückt und eingesperrt hat. Auch heute gehen Montag für Montag mehr Leute auf die Straße. Ihr Protest richtet sich gegen die Schwächsten der Schwachen... Damals war es ein revolutionäres "Wir", das Mauern eingerissen hat. Heute ist es ein "Wir", das ausschließt und Mauern errichtet. Das kann nicht in Eurem Sinne sein."

(via Zeit) Propaganda, Meinungsmache und Desinformation sind die derzeit wichtigsten außenpolitischen Werkzeuge des Kreml, schreibt der Journalist, TV-Produzent und Autor Peter Pomeranzev im IPG-Journal und macht einen Vorschlag, wie das Problem möglicherweise in den Griff zu kriegen sei: "Einen Realitätskonsens gibt es nicht. Um das zu überwinden, müssen wir nach dem Vorbild des Korruptionsindex von Transparency International und dem Wohlstandsindex des Legatum Institute über die Schaffung eines international anerkannten "Desinformationsindex" nachdenken, der die Medien nach der Faktentreue ihrer Berichterstattung bewertet. Öffentliche Aufklärungskampagnen über die Funktionsweise der Desinformation könnten die Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen, die Nachrichten, mit denen sie aufgeputscht werden, kritischer zu hinterfragen."
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Medien

Informativ schreibt Andreas Müllerleile auf Carta über die Pläne des Axel Springer Verlags mit Politico Europe, für das bereits die Zeitung European Voice gekauft wurde: Und "Politico hat mit der European Voice auch gleich noch Frankreichs "führende Veranstaltungsagentur im Public Affairs-Bereich" erworben. Veranstaltungen im Schnittfeld von Politik und Wirtschaft können ja durchaus lukrativ sein - vor allem wenn man eine schillernde Medienmarke hat, die es versteht, Themen auf die Agenda zu setzen." Und außerdem kann man auch so schöne Themen wie ein europäisches Leistungsschutzrecht zur "Debatte" stellen.
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Geschichte

Zum siebzigsten Jahrestag des Einmarschs deutscher Truppen in Ungarn wurde in Budapest ein Denkmal errichtet, das in der Symbolsprache des 19. Jahrhunderts Ungarn als Erzengel Gabriel zeigt, der vom deutschen Reichsadler angegriffen wird. Dass die tatkräftige ungarische Kollaboration in dieser Darstellung verleugnet wird, hat nun erheblichen Widerspruch hervorgerufen, berichtet die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in der NZZ: "Die Denkmalgegner verteilen ihre Botschaft auf Handzetteln. Sie protestieren gegen eine Geschichtslüge. Sie wollen sich die Verantwortung für das größte Verbrechen ihrer Geschichte nicht von den Schultern nehmen lassen: Sie bestehen auf ihrer Geschichte, auch wenn es eine schwere und belastende Geschichte ist. Damit hat das Denkmal genau das Gegenteil von dem erreicht, wofür es errichtet wurde. Es sollte eine Geste für die Anhänger der rechtsgerichteten Jobbik-Partei werden und ist nun ein Stein des Anstoßes geworden, der eine intensive Diskussion über weitere Kriegsverbrechen und die Geschichte des ungarischen Antisemitismus in Gang gesetzt hat."

Moderne Bärte:

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Kulturpolitik

Über Ärger beim geplanten Humboldt-Forum berichtete Hilke Rusch schon gestern auf den Berliner Seiten der taz. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sagte eine Pressekonferenz mit dem Verein Berlin Postkolonial und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) ab: "Hermann Parzinger und Peter Junge hatten ihre Absage damit begründet, der Einladungstext des Bündnisses sei diffamierend und populistisch. Dort heißt es, das Konzept des Humboldt-Forums verletze die Würde schwarzer Menschen, die Rekonstruktion des Stadtschlosses rehabilitiere brandenburgisch-preußische Kolonialherrscher und glorifiziere Alexander von Humboldt." Hört man die Erklärungen der "Postkolonialen", fragt man sich allerdings, ob ein Gespräch möglich wäre. Christian Kopp von Berlin Postkolonial fragt laut taz: "Inwiefern kann überhaupt von rechtmäßigem Besitz von Kulturgegenständen gesprochen werden, wenn diese im gewaltvollen Kontext der Kolonisierung erworben wurden?"

In Österreich ärgert sich die Kunstbranche, weil das Finanzamt auf lukrative Kunstverkäufe künftig nicht mehr den ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden will, meldet der Standard.
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