9punkt - Die Debattenrundschau

Wer nicht kuscht oder sich kaufen lässt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2014. Europa kann Russland sanktionieren, wenn es nur will, sagte Bernard-Henri Lévy auf dem Majdan. Die Russen haben gar keine Angst vor Europa, das viel zu scharf auf ihr Geld ist, meint dagegen Ben Judah in Politico. In der NZZ erklärt der georgische Historiker Lascha Bakradse das Wesen des russischen Imperialismus. Vielleicht ist der Verlust der Krim das Opfer, das für einen klaren Weg nach Westen zu zahlen ist, fragt sich Hervé Bentégea in Slate.fr. Micha Brumlik warnt in der taz vor den postkolonialen Reaktionären. Und wer ist Enzensberger? Fragt Beckedahl.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2014 finden Sie hier

Europa

Die FAZ druckt einen Auszug aus einer Rede, die Bernard-Henri Lévy auf dem Maidan gehalten hat: "Europa muss mit Putin verfahren, wie es mit Janukowitsch verfahren ist: Es muss den Herrn behandeln, wie es den Knecht behandelt hat. Europa verfügt über Sanktionsmöglichkeiten, und es muss sie einsetzen. Europa könnte zu Putin sagen: 'Wir brauchen dein Gas, aber du brauchst unsere Euros - also Pfoten weg von der Krim!'" Hier die ungekürzte Rede auf Französisch.

(Via Slate.fr) Ben Judah erklärt in Politico, warum die Russen keine Angst mehr vor den Europäern haben - ganz einfach: Die Europäer sind viel zu verliebt ins russische Geld: "Russlands Mächtige kaufen Europa seit Jahren auf. Sie haben Villen und Luxuswohnungen in Londons West End und an der Côte d'Azur. Ihre Kinder sind sicher in britischen und Schweizer Internaten untergebracht. Ihr Geld lagern sie in österreichischen Banken und britischen Steueroasen. Putins innerer Kreis fürchtet das europäische Establishment nicht mehr. Einst bildeten sie sich ein, die seien alle im MI6. Nun wissen sie es besser."

Hervé Bentégeat wünschte in slate.fr, dass die Ukrainer die Abtrennung der ethnisch nun mal eher russischen Krim als eine Art symbolischer Konzession an die Russen sehen, die ihnen ein friedliches Abdriften in den Westen erlaubt: "Die Krim stellt nur fünf Prozent der Bevölkerung der Ukraine (2 von 45 Millionen). Sie ist eine der ärmsten Regionen, die nur dank des Tourismus überlebt, aber vom Rest des Landes total abhängig ist. Schließlich würde eine Sezession die Ukraine auch nicht des Zugangs zum Schwarzen Meer berauben." Wichtiger als die Krim, so Bentégeat, seien echte demokratische Reformen.

In der taz stellt der Turkologe Mieste Hotopp-Riecke klar, dass die Krimtataren die autochthone Bevölkerung der Krim sind, und zwar seit dem 6. Jahrhundert: "Die Krim ist kein genuiner Teil Russlands, die Halbinsel wurde erst 1783 annektiert. Solche Argumentationen lenken lediglich vom Machtanspruch Moskaus als Nachfolgereich des Sowjetimperiums ab. Wer jetzt eine Appeasement-Politik befürwortet, also eine Besetzung der Krim hinnimmt nach dem Motto 'Lasst doch den Russen ihre Krim', der akzeptiert, dass eine der ältesten islamischen Nationen Europas verschwinden wird."

Max Thomas Mehr erzählt im Radiofeuilleton des Deutschlandradio Kultur, wie er die Revolution in der Ukraine per Livestream vom Majdan des UKR-Stream TV verfolgte, den leider kein öffentlich-rechtlicher Sender übersetzte. Von Rechtsextremismus fand er in all den Tagen keine Spur: "Nicht nur Gysis Linke warnt. Die Putinisten sprechen gar vom faschistischen Mob in Kiew, gegen den sie auf der Krim ihr Militär aufmarschieren lassen. Doch die Bilder geben das nicht her... Das beruhigt. Aber Zweifel sind gestreut, und eine europäische Öffentlichkeit gibt es nicht, die diese Zweifel aufklärt."

Die Georgier können ein Lied von Russlands Großmachtpolitik singen. Im Interview mit Tatjana Montik in der NZZ erklärt der Historiker und Autor Lascha Bakradse dem Westen die Geschichte des russischen Imperialismus: "Russland hat die europäische Aufklärung und die europäischen demokratischen Revolutionen verpasst. Der Autoritarismus und der Klientelismus seiner Politik speisen sich nach wie vor aus asiatisch-mongolischer Tradition der Machtausübung. Gerade jetzt in der Ukraine sehen wir deutlich, wie es funktioniert: Wer nicht kuscht oder sich kaufen lässt, wird drakonisch bestraft. Das ist nicht die Politik des 21. Jahrhunderts, sondern des 19. Jahrhunderts - klassisches imperialistisches Denken."
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Überwachung

Markus Beckedahl berichtet folgendes in Netzpolitik: "Der etwas ältere Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat in der FAZ eine Wutschrift gegen die Digitalisierung geschrieben, die eigentlich den Verlust der Privatsphäre thematisiert: Enzensbergers Regeln für die digitale Welt: Wehrt Euch! Das ist insofern von Bedeutung, dass er früher ein bedeutender Intellektueller seiner Zeit war und mit seinen zehn Thesen auch Punkte aufführt, die vielen in seiner Generation durch den Kopf gehen, wenn man etwas ängstlich vor der digitalen Zukunft steht, die unsere Gegenwart geworden ist..."

Beckedahl empfiehlt einen Blogbeitrag Till Westermayers, der wiederum Enzensbergers "Baukasten zu einer Theorie der Medien" von 1970 empfiehlt: Damals war der einst bedeutende Intellektuelle schon mal weiter. Enzensbergers in der FAZ vom Samstag vorgebrachtes "Wehrt Euch" sieht Westermayer dagegen als "ziemlich platten Boykottaufruf für alles, was nach 1970 erfunden worden ist".
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Ideen

Im postkolonialen Diskurs entdeckt Micha Brumlik in der taz vieles, was er auch schon bei Heidegger gefunden hat. Zum Beispiel bei dem gerade hoch im Kurs stehenden Theroetiker Walter Mignolo, der Individualismus und Universalismus schon gar nicht mehr positiv besetzen könne: "Der aus Argentinien stammende Mignolo lehrt seit 1993 an der Duke University und ist dort Direktor des 'Institute of Global Studies'. Er hat den Blick des postkolonialen Diskurses von Indien und Afrika auf Lateinamerika und das gewaltsame Überstülpen westlicher Denkformen auf die indigene Bevölkerung gelenkt. Damit erscheint die Renaissance, jene Zeit, in der die Entdeckung und Ausbeutung der Amerikas begann und die noch immer als die des Ursprungs von Individualität und Freiheit gilt, als Beginn einer planetarischen Machtergreifung westlich-instrumentellen Denkens."
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Gesellschaft

(via Rue 89) Das New York Magazine berichtet von einem echt "Do the right thing"-mäßigen Ausbruch Spike Lees gegen weiße Hipster, die ihm sein Harlem kaputt, nein entschuldigung: sauber und ordentlich machen: "Das ist das beschissene Christopher-Kolumbus-Syndom. Ihr könnt nichts entdecken! Wir waren schon hier. Ihr könnt es euch nicht einfach unter den Nagel reißen. Die Brüder hier spielen ihre Scheiß-Drums in Mount Morris seit vierzig Jahren und jetzt dürfen sie das nicht mehr, weil es den neuen Bewohner zu laut ist. Mein Vater ist ein großer Jazzmusiker. Scheiße, er kaufte 1968 sein Haus und die Scheißleute, die letztes Jahr einzogen, riefen wegen meines Vaters die Polizei. Dabei spielt er nicht mal elektrischen Bass, er spielt akustisch! Verdammte Hacke, wir haben das beschissene Haus 1968 gekauft und Ihr ruft die Cops? 2013? Raus hier!"
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Weiteres

Ariane Bremmer erhofft sich im Tagesspiegel vom neuen Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner eine Abkehr vom institutionalisierten Bildungsbürgertum: "Hoffentlich nutzt Renner diesen Schwung und wird nicht als schlipsloser, irgendwie witziger, aber auch überflüssiger Kukident-Popper eingemeindet in die Strukturen des Establishments. Motto: Ist Renner erst Beamter, hat sich Pop erledigt."

Außerdem: Martin Meyer sinniert in der NZZ über den Schweizer Fall "Carlos" - ein jugendlicher Straftäter, der seit Jahren für 30.000 Franken im Monat gepampert wird - und die Grenzen des therapeutischen Ansatzes im Strafvollzug. Barbara Möller berichtet in der Welt, dass Dresden nun mit der Gartenstadt Hellerau wieder ins UNO-Weltkulturerbe aufgenommen werden will - nachdem der Stadt wegen der Waldschlösschenbrücke dieser Status aberkannt worden war. Und Karin Rönicke legt in der (leicht geschrumpften Dienstags-)FAZ ein Wort ein für einen vielfältigen, auch die Männer einbeziehenden Feminismus.
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