9punkt - Die Debattenrundschau

Hohe Gesinnung und purer Egoismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2022. Das Entsetzen über die "Reichsbürger" hält an: Liberale und Konservative müssen sich scharf von der AfD abgrenzen, wenn sie nicht in ein Schlammassel geraten wollen, wie die Republikaner in den USA, warnt Hannes Stein in der Welt. Katar hat vor allem linke Politiker und Gewerkschafter geschmiert, damit sie sein "Arbeitsrecht" in sanfteres Licht setzen, notiert die taz. Die Mullahs betrachten den Protest gegen sie als "Krieg gegen Gott" und hängen Demonstranten an Baukränen auf - Natalie Amiri will in der NZZ die Hoffnung dennoch nicht aufgeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.12.2022 finden Sie hier

Europa

Die sogenannten "Reichsbürger" mögen lächerlich aussehen, aber sie sind es nicht, warnt Hannes Stein in der Welt, das lehrt die jüngste Geschichte: "Viel ist in diesen Tagen von der RAF die Rede. Die RAF war kein linksextremer Gesangsverein, sondern eine Gruppe von Terroristen, die 33 Menschen ermordete. Die Bundesrepublik Deutschland hatte vollkommen recht, gegen die Angehörigen dieser Gruppe und ihre Sympathisanten mit großer Härte vorzugehen. Zu den vielen Verbrechen der DDR gehört, dass sie sich den RAF-Leuten als Rückzugsgebiet zur Verfügung stellte. Aber die RAF hatte insgesamt nur achtzig Mitglieder. Dazu gab es vielleicht noch tausend Sympathisanten im linksextremen Milieu. Das war's. Den 'Reichsbürgern' dagegen ist es tatsächlich gelungen, im Milieu der Impfgegner viele Tausend Anhänger zu gewinnen. In der ehemaligen DDR gibt es Gebiete, in denen die Anhänger der rechtsstaatlichen Demokratie mittlerweile in der Minderheit sind. Und mit der AfD sitzt eine politische Kraft, die große inhaltliche Schnittmengen mit den 'Reichsbürgern' hat, sogar in den Parlamenten. Sie gehört geächtet. Auch taktische Bündnisse mit diesen Leuten müssen tabu sein." Stein fordert Liberale und Konservative auf, sich klar und deutlich von dieser Rechten abzugrenzen, und zeigt warnend auf die Republikaner, die sich an Donald Trump gehängt haben: "Nun gehen sie mit ihm unter."

Dass die Gruppe mehr Mitwisser hatte, als bislang angenommen, meldet auch die Zeit: "Mitglieder des Rechtsausschusses des Bundestags berichteten nach einer Sondersitzung in Berlin, die Ermittler hätten eine dreistellige Zahl sogenannter Verschwiegenheitserklärungen mit Unterschrift von Menschen gefunden, die von der Gruppe angesprochen worden seien. In diesen Erklärungen seien erhebliche Sanktionen bis hin zum Tod angedroht worden. ... Auch wenn es keinen Hinweis gebe, dass ein versuchter Staatsstreich unmittelbar bevorgestanden habe, sei die Bedrohung hier wegen der hohen Gewaltbereitschaft der Beteiligten ernst zu nehmen, betonte der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU)."

Auch die Kultursoziologin Andrea Kretschmann plädiert in der NZZ dafür, die "Reichsbürger" ernst zu nehmen. "Es scheint ihnen nicht mehr auszureichen, die eigene Mitgliedschaft zu verneinen, ausziehen soll der Staat selbst, um einer anderen politischen Ordnung Platz zu machen. Die Reichsbürger haben sich so seit Mitte der 1980er Jahre aus einem versprengten Häufchen zu einer Szene gewandelt, die sicherheitspolitisch ernst zu nehmen ist. Dies umso mehr, weil wenigstens ehemalige Mitglieder aus den Sicherheitsbehörden ebenfalls mitmischen. Der Verfassungsschutz rechnet den Reichsbürgern derzeit 21.000 Personen zu, wobei in den letzten vier Jahren jährlich um die tausend Personen hinzugekommen sind. Im Gegensatz zum Linksterrorismus der 1970er Jahre, auf den angesichts des geplanten Coups dieser Tage manchmal verwiesen wird, streben die Reichsbürger eine Rückkehr zu alten politischen Verfasstheiten an - keine Radikalisierung demokratischer Strukturen ist hier angedacht, sondern das Gegenteil dessen. Eher als in den Kontext des Linksterrorismus muss man die jüngst vereitelten Planungen daher in der langen Tradition des Rechtsterrorismus sehen."

Die Korruptionsaffäre um die sozialistische griechische EU-Polikerin Eva Kaili zieht weitere Kreise. Es sind neben ihr vor allem italienische Politiker im Spiel, schreibt Michael Braun in der taz, so etwa der linke ehemalige Abgeordnete Antonio Panzeri, der in Brüssel eine NGO gegen Korruption gegründet hatte. Ermittelt wird auch gegen Luca Visentini, Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB). "Das Netzwerk soll versucht haben, Katar einen Ruf als arbeitnehmer*innenfreundliches Land zu verschaffen - gegen ein üppiges Entgelt. In Panzeris Brüsseler Wohnung fanden die Ermittler*innen laut italienischen Medien jene 600.000 Euro in bar, deren Beschlagnahmung sie nach der Razzia bekannt gaben. Das überrascht, betrachtet man die bisherige Karriere Antonio Panzeris: Immer klar links, immer engagiert im Kampf für die Rechte der Arbeitnehmer*innen."

Diese Politiker bescheinigten Katar ähnlich wie in Deutschland etwa Sigmar Gabriel Fortschritte bei der Milderung ihres Sklaverei-ähnlichen Arbeitsrechts, aber das seien ja Ansichten, die sich im legitimen Meinungsspektrum bewegen, ergänzt Markus Völker im Sportteil der taz: "Nichts anderes sagt ja auch Fifa-Präsident Gianni Infantino - oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO, die ein Büro in Doha unterhält. Allerdings überwies das Emirat Katar bereits im Jahr 2017 25 Millionen an die ILO, und in der Fifa trieb der berüchtigte Mohamed bin Hammam aus Katar sein Unwesen, der 2012 lebenslang vom Fußballweltverband wegen Korruption gesperrt wurde. Katar hat sich über die Europäische Klubvereinigung ECA in die Exekutive der Uefa 'eingekauft'; Nasser Al-Khelaifi sitzt dort als Präsident von Paris Saint-Germain FC."

Die Linke sollte alles daran setzen, diesen Skandal aufzuklären, warnt Thomas Schmid in der Welt. Denn der zeigt, "dass die Welt der NGOs ein sehr hässliches zweites Gesicht hat. Panzeri, dem nun Bestechlichkeit großen Ausmaßes vorgeworfen wird, ist Gründer und Leiter der in Brüssel beheimateten NGO 'Fights Impunitiy', deren Ziel es ist zu verhindern, dass Menschenrechtsverletzungen straffrei bleiben. Zu deren ehrenamtlichen Unterstützern gehören unter anderen der Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege und die ehemalige EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Und der Lobbyist Figà-Talamanca ist Generalsekretär der von der ehemaligen EU-Kommissarin Emma Bonino gegründeten NGO 'No Peace without Justice'. Sie hat sich laut Selbstauskunft dem Schutz und der Förderung von Menschenrechten, der Demokratie und der Herrschaft des Rechts wie dem Völkerrecht verschrieben. Wenn die Vorwürfe sich als berechtigt erweisen sollten, wäre das ein besonders bizarres Beispiel dafür, dass hohe Gesinnung und purer Egoismus Hand in Hand geben können. Und es so etwas wie eine ziemlich skrupellose sozialistische Aristokratie gibt."


Gideon Rachman hält in der Financial Times eine "koreanische" Lösung für den Krieg gegen die Ukraine für plausibel, also keinen Frieden, sondern ein Einfrieren des Konflikts durch einen Waffenstillstand. Die russische Seite könnte das als Sieg verkaufen. Aber die Ukrainer? "Wie die Russen haben auch die Ukrainer weiterhin schwere Verluste zu beklagen. Sie sind auch mit einer brutalen, aber effektiven russischen Taktik konfrontiert - dem gezielten Angriff auf die ukrainische Infrastruktur. Der Verlust der Wasser- und Stromversorgung erschwert Millionen von ukrainischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat, da der Winter nur schwer zu überstehen ist. Stattdessen baut sich eine weitere Flüchtlingswelle auf. Je länger die Monate des Exils andauern, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Flüchtlinge jemals in die Ukraine zurückkehren - eine enorme Belastung für die Familien und die Gesellschaft." Ein Waffenstillstand würde der übriggebliebenen Ukraine dagegen Hilfe, Wiederaufbau und Prosperität bringen.

Angesichts der Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur fordert Richard Herzinger in seinem Blog, die Nato zum Handeln auf: "Die Nato muss entweder selbst die russischen Stellungen und insbesondere die russische Schwarzmeerflotte ins Visier nehmen, von wo aus auf die Zivilbevölkerung gerichtete Raketen abgeschossen werden - oder sie muss die ukrainische Armee unverzüglich mit den Waffensystemen ausstatten, die sie in die Lage versetzt, genau dies zu tun."

Da es eine europäische Öffentlichkeit so gut wie gar nicht gibt und sich gerade die französischen Zeitungen rigoros hinter Paywalls verschanzen, hat man hierzulande noch kaum etwas von Jonathan Littells Texten zum Ukraine-Krieg mitbekommen, aus denen Jürg Altwegg heute dankenswerter Weise in der FAZ zitiert: "Nur die Garde um Putin könne 2024 seine Wiederwahl verhindern, glaubt Littell. Einen 'Aufstand des Volks' hält er für undenkbar: Alle, die sich daran beteiligen würden, seien längst im Exil. Falls es aber im Kreml zu Reaktionen komme - Littell erwägt sogar die Möglichkeit eines Putschs oder Attentats, die einen Machtkampf innerhalb der Elite auslösen könnten - sei 'jedes Szenario' möglich: von der Revolution bis zur Militärdiktatur."
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Medien

Michael Hanfeld greift in der FAZ die Berichte über die pharaonischen "Ruhegelder" auf, die ehemaligen RBB-Granden neben der Rente bezahlt werden. "Die einstige Programmdirektorin Claudia Nothelle, die inzwischen Professorin für Fernsehjournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal ist, habe inzwischen rund eine halbe Million Euro Ruhegeld mitgenommen." Aber "einlassen wollen sich die Empfänger des Ruhegelds zum Thema nicht. Etwas dazu zu sagen hätten aber auch die Vertreter anderer öffentlich-rechtliche Sender. Einer Recherche des NDR zufolge werden Ruhegelder - und zwar lebenslang - auch beim MDR und beim ZDF bezahlt. Beim ZDF hätten der Intendant und alle fünf Direktoren des Senders einen Ruhegeldanspruch. Beim NDR gebe es diesen für den Intendanten und dessen Stellvertreterin, allerdings nur bis zum Eintritt ins Pensionsalter. Der RBB ist in Sachen Ruhegeld also kein Einzelfall."
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Kulturmarkt

Der stationäre Buchhandel braucht neue Strategien, um mit seinem Publikum zu kommunizieren. Maria-Christina Piwowarski von der Berliner Buchhandlung Ozelot preist im Gespräch mit Carolina Schwarz von der taz Instagram: "Die Frage ist für mich nicht, ob man Instagram braucht, sondern warum man etwas nicht nutzen sollte, was so gut funktioniert. Es hält eine Community zusammen, die literarisch interessiert ist. Wenn man es schafft, seinen eigenen Ton und einen Wiedererkennungswert zu schaffen, dann ist ein Instagram-Account wie ein Schaufenster nach draußen. Warum sollte man das nicht nutzen? Klar muss man sich überlegen, wie viel Persönliches man teilen möchte. Aber alle, die ich überzeugt habe, sich dort anzumelden, sind begeistert. Denn die Buch-Community ist wahnsinnig sympathisch und es macht einfach Spaß sich mit den superbibliophilen Menschen auszutauschen."
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Stichwörter: Buchhandel, Instagram

Internet

Jeremy W. Peters hat in der New York Times versucht, ein nuanciertes Bild von Elon Musk zu zeichnen und ihn politisch nicht in eine Ecke zu stellen. Aber das ist ein Irrtum, meint Charlie Warzel in Atlantic. Schon Musks jüngster Tweet "My pronouns are Prosecute/Fauci", wo er sich in fünf Wörtern über trans-Leute, das Gendern und die Corona-Politik Joe Bidens lustig macht, zeigt: "Musk unterstützt aktiv das politische Projekt der extremen Rechten. Er ist ein rechtsextremer Aktivist." Auch "Musks Argument - dass ein gemäßigter Liberaler, der sein Leben lang der Linken angehört hat, keine andere Wahl hat, als rechte Anliegen zu unterstützen - ist unter rechtsextremen Aktivisten eine gängige Phrase. Sie wurde von vielen im sogenannten 'intellektuellen Dark Web' und von Influencern wie Dave Rubin, Joe Rogan, Glenn Greenwald und anderen verwendet."
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Politik

Madschidreza Rahnavard, ein 23-jähriger Profi-Wrestler aus der iranischen Stadt Maschhad (siehe oben), ist öffentlich an einem Baukran erhängt worden, berichtet Teseo La Marca in der taz. "Im Gegensatz zu Mohsen Schekari, der vergangene Woche hingerichtet wurde, war Rahnavard für viele im Iran kein unbekanntes Gesicht. Akivist:innen hatten gewarnt, dass seine Hinrichtung bevorstehe. Öffentlichkeit soll in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt wurden. Dass Rahnavards Bekanntheit ihn nicht vor dem Tod bewahrt hat, zeigt die Entschlossenheit des Regimes."

Eine Beschwichtigung der Bevölkerung sieht anders aus, kommentiert bitter Natalie Amiri in der NZZ die Hinrichtungen. Aber die Hoffnung mag sie dennoch nicht verlieren: "Die Protestierenden, die jetzt schon fast drei Monate auf der Straße gegen das Regime protestieren, schrecken die Hinrichtungen nicht ab. 'Haben Sie genug Galgen?', fragt der Menschenrechtsaktivist Hossein Ronaghi auf Twitter am Tag, als Shekari gehängt wird. Noch am Abend nach seinem Tod kommen Hunderte in dem Viertel Sattarkhan in Teheran auf die Straße und rufen: 'Tod dem Diktator!' In Sattarkhan hat Shekari gewohnt. Auf den Straßen in Iran ist seit Wochen der Slogan zu hören: 'Tötet ihr einen, kommen tausend nach.' Beerdigungen sind in Iran ein Katalysator für Proteste. Schon 1979 waren die 40. Todestage ein Motor für die Revolution, die zum Sturz von Schah Reza Pahlevi führte. Und 2022 wieder. Trotz massiver Einschüchterung durch Verhaftungen (inzwischen sind es mehr als 18 200), trotz Folter und Vergewaltigungen in den Gefängnissen und obwohl schon mehr als 488 Protestierende starben, davon mehr als 66 Kinder. Trotz Tausenden Verletzten."
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