9punkt - Die Debattenrundschau

Unverdiente Zwergenhaftigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2022. Elon Musk zerstört Twitter - The Verge sieht zu: Eine Hälfte des Personals hat er gefeuert, die andere kündigt selbst. Der Zusammenbruch steht bevor, fürchtet auch die Financial Times. Der Reporter Teseo La Marca berichtet für die taz aus dem Iran - und konstatiert ganz klar: Der Protestbewegung geht es nicht um Reformen, sondern um Revolution. In der FAZ verteidigt Claudius Seidl das Recht der "Letzten Generation" so zu protestieren, wie sie protestiert. Deutschland sollte die Verteidigung Israels nicht mehr als Teil der Staatsräson betrachten, findet Meron Mendel in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.11.2022 finden Sie hier

Internet

Man fragt sich ja fast, ob Elon Musk von Putin geschickt wurde, um Twitter zu zerstören - oder von den Mullahs, denn Twitter ist für die iranische Protestbewegung sehr wichtig. Alex Heath and Mia Sato informieren bei The Verge über den deprimierenden neuen Stand: Musk stellte dem Rest des Personals per Google Vote ein Ultimatum: Entweder sie machen bei "Twitter 2.0" mit, oder sie gehen. "Twitter hatte vor dem Stichtag am Donnerstag noch etwa 2.900 Mitarbeiter, da Musk bei seinem Amtsantritt kurzerhand etwa die Hälfte der 7.500 Mitarbeiter entließ und spontane Kündigungen folgten. Verbleibende und ausscheidende Twitter-Mitarbeiter sagten gegenüber The Verge, dass sie angesichts des Ausmaßes der Entlassungen in dieser Woche davon ausgehen, dass die Plattform bald zusammenbrechen wird. Einer sagte, dass sie 'legendäre Ingenieure' und andere, zu denen sie aufblicken, einen nach dem anderen haben gehen sehen."

Hannah Murphys Artikel in der Financial Times lässt ebenfalls nur den Schluss zu, dass hier ein Terminator am Werk ist: "Musk warnte vergangene Woche auch die Mitarbeiter, dass ein Konkurs nicht ausgeschlossen sei. 'Wie macht man ein kleines Vermögen in den sozialen Medien? Fang mit einem großen an', twitterte Musk, als die Kündigungen eintrudelten. In der Zwischenzeit wird Musk von Aufsichtsbehörden auf der ganzen Welt verstärkt unter die Lupe genommen." Mehr zum Thema bei Reuters.
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Politik

Im Iran gehen die Proteste weiter. Teseo La Marca hat es geschafft, nach Teheran und Isfahan zu reisen, und berichtet für die taz. Die Gewalt der Repression dient vor allem dazu, Bilder der Proteste zu verhindern, die dann etwa bei Twitter zu zirkulieren. "Ausländischen Journalisten mit Pressevisum ist es verboten, regimekritische Proteste zu fotografieren oder mit Demonstrierenden zu sprechen." La Marca konstatiert, dass es der Protestbewegung anders als 2009 nicht um Reformen geht: "Sie will nicht weniger als den Sturz des Regimes, sie will die Revolution... Die Radikalität der Proteste offenbart die enorme Kluft, die zwischen einer alten, fundamentalistischen Herrscherklasse und einer mehrheitlich jungen, progressiv eingestellten Bevölkerung herrscht. Iran ist in dieser Hinsicht ein Paradox. Spätestens seit den neunziger Jahren findet im Land ein Prozess der Säkularisierung statt, der so rasant verläuft, wie nirgends sonst im Nahen Osten, und der durch persischsprachige Auslandssender und die sozialen Medien zusätzlich befeuert wird. Zugleich terrorisiert ein rückständiges Fundamentalistenregime die Bevölkerung mit islamistischen Vorschriften, die das Leben der nicht praktizierenden Iranerinnen und Iraner (laut Umfragen immerhin 65 Prozent der Gesamtbevölkerung) kriminalisieren."

Michael Hesse führt für die FR ein großes Gespräch mit dem britischen, in New York lehrenden Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über Amerika nach den Midterm-Wahlen. Er warnt vor den Republikanern, die 2024 durchaus  wieder obsiegen könnten, schildert Amerika  als polarisiertes Land und spricht über den amerikanischen Wokeness-Esport. Vom Ukraine-Krieg aber profitiert Amerika, findet er: "Die Amerikaner sind die puren Gewinner. Die amerikanischen Haushalte und Konsumenten, die viel Benzin verbrauchen, litten zunächst etwas wegen der gestiegenen Ölpreise. Die Befürchtung, dass der Ölpreis in schwindelerregende Höhen steigen könnte, hat sich aber nicht bewahrheitet. Amerika ist letztendlich ein Energieexporteur, große Teile der USA profitieren von hohen Energiepreisen. Geopolitisch und strategisch ist die amerikanische Politik risikoreich, aber auch gewinnbringend. Nicht nur, dass Russland geschwächt wird, die Nato und ihre Allianzen in Ostasien haben neue Energie bekommen. Das alles ist ein großer Gewinn für Amerikas Strategie."

Das neue israelische Parlament besteht aus Rechtsextremisten, Rassisten, Homo- und Transfeinden, religiösen Fundamentalisten, die die Justiz schwächen und den Rechtsstaat abbauen wollen - aber in der deutschen Politk und Öffentlichkeit juckt's kaum jemanden, klagt Meron Mendel in der SZ. "Jetzt wird es notwendig, das Verhältnis zu Israel zu prüfen", fordert er: "Es geht auch um die Frage, ob die Selbstverpflichtung bedingungslos gilt, die Kanzlerin Angela Merkel 2008 vor der Knesset verkündet hatte. Schon damals warnte Altkanzler Helmut Schmidt, für Israels Sicherheit mitverantwortlich zu sein, sei eine 'gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte'. Ausgelassen wurden die Fragen, was Israel tun oder unterlassen solle, damit diese Garantie in Zukunft bestehen kann, und überhaupt, was es konkret bedeutet, Israels Sicherheit als Teil deutscher Staatsräson zu betrachten."

Tunesien galt lange Zeit als das feministischste Land im Nahen Osten, aber unter Präsident Kais Saied sind Frauenrechte zunehmend bedroht, warnt im Tagesspiegel die Politikberaterin Sara Medini: "Das am 15. September verabschiedete neue Wahlgesetz gewährleistet keine paritätische Aufstellung auf den Wahllisten mehr: Ein Erlass, der einst die Teilnahme von Frauen an den Wahlen sicherstellte, wurde außer Kraft gesetzt. Bei den Kommunalwahlen 2018 erhielten Frauen 47 Prozent der Sitze. Nun besteht für Parteien keine Verpflichtung mehr, Kandidatinnen aufzustellen. Dies verstößt gegen die tunesische Verfassung, die den Staat zur paritätischen Besetzung der gewählten Volksvertretungen verpflichtet."

Außerdem: In der Welt beklagt der ehemalige amerikanische Botschafter John Kornblum den Anspruch Deutschlands, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen, ohne Veränderungen zuzulassen. Er fordert eine Neudefinition westlicher Werte: "Am wichtigsten wird es sein, den Idealismus eines nicht-militärischen Friedensprojekts oder die Vision einer unabhängigen geopolitischen Rolle ohne die Vereinigten Staaten aufzugeben."
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Gesellschaft

Claudius Seidl verteidigt in der FAZ das Recht der "Letzten Generation" für den Schutz der Umwelt zu kämpfen und zwar auch mit ihren umstrittenen Methoden, selbst wenn sie im Einzelfall strafbar sind. Anzeichen für eine Radikalisierung sieht er aber nicht. Wenn "jeder, der in Berlin einen Stau verursacht, ein potenzieller Straftäter ist, wie beurteilt man dann Traktor-Sternfahrten und aus dem Ruder laufende Querdenkerproteste?" Und überhaupt haben die Klimaaktivsten alles Recht auf Zorn und Verzweiflung, findet Seidl: "In früheren Generationenkonflikten ging es eigentlich immer um die Frage, ob ein besseres Leben möglich sei. In diesem geht es aber um die Frage, ob das Überleben möglich sei." Weil die Mehrheit in Deutschland das Klima schützen will  gehe es darum, "das als richtig Erkannte, von Gerichten verfügte und von Parlamenten beschlossene endlich durchzusetzen. Und es geht darum, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und die Leute daran zu erinnern, dass, bloß weil Krieg und Inflation gerade dringlicher zu sein scheinen, die Erderwärmung keine Pause macht."
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Europa

Was antwortet eine ukrainische Kunstkuratorin auf die Frage, was in diesem Krieg zuerst zu retten sei: Alte Menschen, Kinder, Bücher? "Ich wünsche Ihnen nicht, dass Ihnen diese Frage jemals gestellt wird", zitiert Paul Ingendaay in der FAZ Olena Balun, die das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine leitet. Denn darauf gebe es keine Antwort. Sieben Monate nach Gründung der provisorischen Hilfsorganisation wurde in der Berliner Akademie der Künste eine erste Bilanz gezogen - und darauf hingewiesen, dass seit dem 10. Oktober wegen der Stromausfälle besonders Generatoren gebraucht würden. "'Kulturverbrechen'", schreibt Ingendaay, seien "Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie müssen geächtet und geahndet werden wie Genozid." Und dann lässt er Julia Waganowa zu Wort kommen, Direktorin eines Museums für byzantinische und europäische Kunst. Dort hingen keine Bilder mehr, erzählt sie. Aber das Museum sei weiterhin geöffnet und werde von zeitgenössischen Künstlern für Ausstellungen genutzt. "Dass es ein sicherer Ort wäre, kann sie nicht behaupten", fasst Ingendaay zusammen. Aber "die Menschen treffen sich dort, sie laufen durch die Säle und bleiben in Verbindung mit der Kultur".
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Kulturpolitik

Die Unesco feierte ihren Fünfzigsten in Delphi, aber im Grunde war es ein "Krisengeburtstag", schreibt Till Briegleb in der SZ. Die afrikanischen Länder sind nach wie vor unterrepräsentiert, viele Weltkulturstätten gefährdet, nicht zuletzt durch "Klimawandel und Umweltzerstörung. Negative Auswirkungen ließen sich bereits bei 34 Prozent aller Monumente dokumentieren, bei den Stätten in Küstennähe sind es 70 Prozent. Und im Jahr 2100, so das diesmal glaubwürdige Unesco-Orakel, werden alle Korallenriffe, die den Titel Weltnaturerbe trügen, verschwunden sein. Unter den Mitgliedsstaaten der Unesco sind alle, die dafür die Hauptverantwortung tragen. Es gibt eigentlich nichts zu feiern in Delphi."

Die ersten Teile der Replik des altindischen Sanchi-Tores sind vor dem Humboldt-Forum errichtet worden, anwesend war auch der indische Botschafter S.E. Harish Parvathaneni, der sich freute, dass  mit dem Sanchi-Tor im Osten ein "Pendant zum Brandenburger Tor im Westen" und damit ein "schönes Symbol der Verbindung von Ost und West überhaupt" geschaffen worden sei, berichtet in der Berliner Zeitung Maritta Adam-Tkalec, die allerdings deutlich weniger erfreut ist: "Träger einer völkervereinenden Friedensbotschaft, Weltkulturerbe, Maskottchen und Publikumswerbung - das ist recht viel verlangt von den mit Geschichten vom 'unsichtbaren Buddha' versehenen Steinen. Und tatsächlich stellt sich beim Betrachten der ersten Elemente an Ort und Stelle Mitleid ein: Da duckt sich ein am angestammten Platz sicherlich mächtig erscheinendes, kunst- und würdevolles, respektheischendes Steintor zwischen den beiden von goldenen Christenkreuzen beherrschten Monumenten des Preußenbarock, Dom und Schlossreplik, und schrumpft zu unverdienter Zwergenhaftigkeit. Es fremdelt in der kulturfremden Umgebung."
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Medien

ARD und ZDF zusammenzulegen, ist für Frank Überall, den Chef des Deutschen Journalisten Verbandes, ein Unding. In der FAZ schreibt er: "Nicht umsonst gibt es im Bereich der privaten Medienhäuser ein recht strenges Kartellrecht, das solche Megafusionen untersagt." Außerdem gebe es ja auch noch den Auftrag publizistischer Vielfalt. Damit schießt der DJV-Vorsitzende nicht zum ersten Mal gegen den ARD-Vorsitzenden Buhrow und seine schon legendäre Hamburger Rede (unsere Resümees). "Allein unter Kostendruck die Reform der öffentlich-rechtlichen Sender zu diskutieren, sägt beharrlich am System. Durch seine undifferenzierten Äußerungen hat der Privatmann Tom Buhrow einen Türspalt geöffnet für diese Sichtweise. Der Diskurs muss jetzt wieder ernsthafter werden", schreibt Überall. "Weglassen" von Programmbestandteilen ist sicher kein Tabu, doch müssen solche Entscheidungen konsequent auf der Grundlage des gesetzlichen Auftrags besprochen werden." Sonst drohten Reformen an der Realität der Landesparlamente und des Bundesverfassungsgerichts zu scheitern.
Archiv: Medien