9punkt - Die Debattenrundschau

In die Panik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2021. Ist es Zeit, eine Triage für Ungeimpfte zu erwägen, fragt Daniela Wakonigg bei hpd.de. Ist es wirklich so, dass Politik aus Angst vor ein paar krakeelenden Dummköpfen nicht agiert, fragt Mely Kiyak in Zeit online. In der SZ fürchtet Karl Schlögel, dass es in Berlin eine Inflation der Mahnmale für Opfer des Zweiten Weltkriegs gibt: "Es wäre besser gewesen, eine Denkmal-Lösung zu finden, die alle einbezieht." Xi Jinping ist in China jetzt quasi Gott, resümiert Jürgen Kremb in seinem Blog die Ergebnisse des Sechsten Plenums des ZKs der KPCh.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Intensivstationen sind überlastet. Nötige Operationen drohen zurückgestellt zu werden, um Platz für Covid-Patienten zu schaffen. Daniela Wakonigg stellt bei hpd.de die Frage, ob nicht eine Triage für Ungeimpfte erwogen werden sollte. Im Moment sehe es allerdings "so aus, dass die (mehrheitlich ungeimpften) Covid-19-Intensivpatienten in der Summe gegenüber allen anderen, die eine medizinische Intensivpflege benötigen, eher bevorzugt werden. Und das, obwohl die gewollt Ungeimpften die Dramatik der Situation überhaupt erst hervorgerufen haben, und obwohl sie ihre eigene medizinische Notlage durch die Nicht-Impfung billigend in Kauf genommen haben. Wäre es also nicht wirklich einmal an der Zeit, über den Abbau dieser fragwürdigen Bevorzugung zu diskutieren?" Für diese Triage sprächen durchaus die ethisch einzig gültigen medizinischen Kriterien, so Wakonigg: "Denn da Ungeimpfte häufig einen deutlich schwereren Covid-19-Verlauf haben als Geimpfte ist ihre Überlebenswahrscheinlichkeit entsprechend geringer."

Auf Zeit Online macht Mely Kiyak ihrem Ärger gegenüber Impfgegnern und in Angst erstarrten Politikern Luft: "Seit Pegida gibt es im politischen Raum eine groteske Aufwertung von Dummheit. Die berühmten Sorgen der echten Deutschen, die mal im Gewand von Ausländerekel oder Impfhass daherkommen, werden seitdem unentwegt höher bewertet als Forschung und Wissenschaft. Und Wieder einmal erstarrt dieses Land seit fast zwei Jahren vor einer extremen Minderheit. Und immer findet sich wenigstens ein Ministerpräsident, der nicht nur halbherzig, sondern gleich nullherzig nicht das tut, wofür sie oder er gewählt wurde. Nämlich Entscheidungen zum Wohle und zur Sicherheit der Bevölkerung zu treffen und diese gegenüber einer rotzfrechen und mittlerweile komplett angstfreien radikalen Bewegung durchzusetzen." (Glaubt Kiyak wirklich, es seien nur "echte Deutsche", die sich nicht impfen lassen?)

Konrad Litschko unterhält sich für die taz mit Serpil Temiz-Unvar, die beim Attentat von Hanau ihren Sohn Ferhat verlor. Sie möchte mit einer Bildungsinitiative an die Opfer erinnern. Nebenbei äußert sie ihre Enttäuschung über die Aufarbeitung des Attentats durch die Behörden und sieht einem Untersuchungsausschuss mit zaghaften Hoffnungen entgegen: "Die Fragen werden immer mehr, aber wir bekommen keine Antworten. Ich weiß auch bis heute nicht, wie Ferhat starb. Die Schüsse auf ihn fielen um 22 Uhr, in einem Video aus dem Kiosk sieht man, dass er noch ein paar Schritte läuft und dann hinter der Theke verschwindet. Als die Polizei kam, hat keiner nach ihm geguckt. Später wurde sein Todeszeitpunkt für 3.10 Uhr aufgeschrieben. Ich sage das zu mir jeden Tag: Wie lange hast du noch gelebt, Ferhat? Hast du Schmerzen gehabt? Warum hat dir keiner geholfen? Keiner gibt mir dazu Antworten, keiner."

"Kein Tag vergeht ohne Nachrichten über judenfeindliche Entgleisungen - seien es verbale Attacken auf Facebook, YouTube oder Twitter oder Ausgrenzung und physische Gewalt", sagte die in den USA lebende deutsche Journalistin Souad Mekhennet in ihrer Rede, die sie zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November in Frankfurt hielt und die die Welt heute auszugweise veröffentlicht: "Wie verhalten wir uns heute? Bei den Hetzjagden gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland, nachdem es die Angriffe der Hamas gegen Israel gegeben hat? So, als ob unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger für das verantwortlich wären, was in einem anderen Land passiert. Wie haben wir Deutsche reagiert, als wir gesehen haben, wie wieder beleidigt, gespuckt, getreten und geprügelt wurde? Es kann nicht sein, dass das Thema beinahe ausschließlich von jüdischen Organisationen diskutiert wird. Wir Deutsche hätten uns erheben müssen und sagen müssen: Wir sind ein Volk. Gemeinsam mit unseren jüdischsteuen Landsleuten. Vereint für die Freiheit."
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Europa

Die taz hat die Flugpläne gecheckt: "Laut einer Auswertung von öffentlich zugänglichen Flugdaten landen im Schnitt in den letzten Monaten mehr als doppelt so viele Flugzeuge aus dem Nahen und Mittleren Osten in Belarus wie im Vor-Corona-Jahr 2019. Von Anfang Juli bis zum 10. November kamen insgesamt mindestens 625 Flugzeuge aus Libanon, Irak, Syrien, den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie der Türkei in Minsk an. Das sind die Länder, aus denen die Geflüchteten kommen beziehungsweise über die sie anreisen. Im Durchschnitt sind das knapp fünf Flugzeuge am Tag - etwa 900 Passagiere täglich. Ein halbes Dutzend Airlines bauten ihr Flugangebot teils erheblich aus." Besonders aktiv seien die syrischen Cham Wings Airlines, "die mehrheitlich einem Cousin von Machthaber Baschar al-Assad gehören soll".

Die höhnische Strategie Lukaschenkos und seines Mentors in Moskau funktioniert, konstatiert Claudius Seidl in der FAZ: "In der EU diskutieren sie darüber, ob Mauern und Stacheldraht mit polnischem oder mit europäischem Geld bezahlt werden sollen. Die Kanzlerin bittet, ausgerechnet, den Autokraten Putin um Hilfe. Erschütternde Zeichen von Schwäche und Hilflosigkeit, die zusammen mit den martialischen Bildern von der Grenze das Bild einer EU ergeben, die sich von einem Mann wie Lukaschenko eben doch in die Panik treiben lässt."

In der SZ schildert Dariusz Mazur, Strafrichter am Bezirksgericht in Krakau und Sprecher der Richtervereinigung "Themis", das ganze Ausmaß der Zerstörung der unabhängigen Justiz durch Polens Regierung. Auf kritische Richter, die in den Medien für die Unabhängigkeit der Justiz kämpfen, wurde eine "Hexenjagd" begonnen, schreibt er: "Dabei wird die Heilige Inquisition von der Disziplinarkammer gespielt, die grundlos und auf unbestimmte Zeit vier Richter suspendiert hat; seit kurzem auch vom Justizminister selbst und ihm ergebenen Gerichtspräsidenten. Die Inquisitoren werden von den drei wichtigsten Disziplinarkommissaren gespielt sowie von den Staatsanwälten der Abteilung für Innere Angelegenheiten bei der Generalstaatsanwaltschaft (die alle vom Justizminister ernannt sind). Die Rolle des Hexenhammers, diesem mittelalterlichen Traktat zur Legitimation der Verfolgung, spielt das Maulkorb-Gesetz, das Richtern mehrere Dinge verbietet: europäisches Recht anzuwenden, den rechtmäßigen Status der Disziplinarkammer sowie wie den neuen Landesjustizrat und die Neo-Richter zu hinterfragen - dies alles unter Androhung eines professionellen Todes, also der Entfernung aus dem Amt."
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Ideen

"Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie und Xenophobie schlagen sich dieser Tage in Formen der Rede nieder, mit denen entwürdigendes, demütigendes und anderweitig diskriminierendes Verhalten anderen gegenüber bis hin zur verbalen Gewalt geduldet, gefördert oder vollzogen wird", sagte der Philosoph Martin Seel in einem von der FR publizierten Vortrag bei den Römerberggesprächen zum Thema "Sprache. Macht. Gerechtigkeit.. Wer darf wie reden?". Aber auch "bei dem Widerstand gegen diese missachtenden Formen der Rede geht es um Macht und Gegenmacht innerhalb der Sprache", ergänzt er und plädiert vor allem im Hinblick auf das Gendern "für einen sprachpolitischen Okkasionalismus. Darunter verstehe ich eine Haltung, die je nach Kontext unterschiedliche Arten der differenzsensiblen Kommunikation sowohl pflegt als auch toleriert. Dieser Okkasionalismus ist kein Opportunismus, der den gerade vorherrschenden Sprachkonventionen nach dem Mund redet. Im Gegenteil, er ist ein Sprachverhalten, das der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Modus der Kommunikation gerecht zu werden versucht."
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Geschichte

Das Konzept für die geplante Berliner Gedenkstätte für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus liegt vor, aber damit sind die Probleme nicht gelöst, schreibt Florian Hassel in der SZ. Es geht nicht, dass Polen, weil es massiv politischen Druck gemacht hat, herausgehoben wird und wir uns "beim Gedenken hinten anstellen" müssen, sagt etwa der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk. "Je weiter beide Projekte voranschreiten, desto lauter dürften nicht nur Ukrainer eine weitere Gedenkstätte fordern. 'Dass die Deutschen auch in der Ukraine, im heutigen Belarus, im Baltikum und in Nordeuropa, in Griechenland und in den Balkanländern gewütet haben, ist ebenso wenig präsent wie etwa, dass die Deutschen drei Millionen sowjetische Kriegsgefangenen durch Hunger oder Krankheiten haben krepieren lassen', sagt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel. Es wäre besser gewesen, eine Denkmal-Lösung zu finden, die alle einbezieht. Vielleicht, sagt Schlögel 'müsste man einen Ort haben, an dem sich alle betroffenen Nationen selbst darstellen können'. Genau eine solche Länderschau des Leidens soll das Dokumentationszentrum aber DHM-Direktor Gross zufolge gerade nicht werden."

Im ebenfalls von Florian Hassel geführten Interview konkretisiert Raphael Gross, Präsident des DHM, seine Pläne für das Dokumentationszentrum über die NS-Besatzungsherrschaft in Europa. Er will auf thematische, nicht nationale Einteilung setzen: "Wir reden über heute 27 von der deutschen Besatzungsherrschaft betroffene Staaten und über noch viel mehr Gemeinwesen und Gruppierungen. Würden wir das national angehen und versuchen, jeden Staat oder jede Gruppe vor dem Hintergrund des erlittenen Leides abzubilden, gäbe es nie eine Lösung, die nicht zu noch explosiveren Konflikten führte. Die Ukraine, Polen, Russland und Belarus, um nur mal vier Länder zu nennen, würden sich, so wie die Verhältnisse heute sind, schwer einigen und sagen: Ja, wir sind einverstanden, wie ihr das gelöst habt. Wir wollen keine aufzählende Ausstellung, durch die Vertreter eines Landes oder einer Gruppierung mit dem Zollstock laufen und dann sagen: Was? Mehr haben wir nicht abbekommen? Wir hatten doch viel mehr Tote als ... Und was würde man daraus auch lernen?"
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Politik

Sehr bitter resümiert Jürgen Kremb, ehemals China-Korrespondent des Spiegel, in seinem Blog die Ergebnisse des Sechsten Plenums des ZKs der KPCh. Xi Jinping ist nun endgültig als über allem thronender Parteigott installiert. Dem Land wird es nicht guttun: "Die Nation, die sich selbst gerne als 'Land der Mitte' tituliert, wird mit seinem neuen KP-Gott Xi Jinping, dem zweiten 'Steuermann' nach Mao, viele Meilen in die Vergangenheit zurückschippern, sich selbst isolieren, in vielen Aspekten von der Globalisierung verabschieden - vielmehr versuchen, die Welt nach den Standards und Normen der Pax Sinica neu zu definieren. Das inkludiert höchstwahrscheinlich auch, einen Krieg um die Vorherrschaft im Pazifik, noch zu unseren Lebzeiten, mit den USA anzuzetteln."

Für die taz unterhält sich Edith Kresta mit dem Soziologen Steffen Mau, der ein Buch über Grenzen im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung geschrieben hat. Die Globalisierung hat dabei paradoxe Effekte: "Für die allermeisten Menschen heißt Globalisierung nicht Mobilisierung, sondern Immobilisierung. Sie sind mit größeren Schwierigkeiten konfrontiert, ihren Herkunftsort zu verlassen. Sie sind häufig sogar eingeschlossen. Man kann beispielsweise feststellen, dass die Reisefreiheit vieler afrikanischer Länder in den sechziger Jahren wesentlich größer war, als sie heute ist. In dem Moment, als die Globalisierungsbewegung angefangen hat und mehr Leute Mobilität beansprucht haben, hat man das visumfreie Reisen selektiv wieder abgeschafft."

Der am Mittwoch verstorbene letzte weiße Präsident Südafrikas, Willem de Klerk, "wurde einst als großer Staatsmann gefeiert, heute wird er eher als ein von der Realität getriebener Pragmatiker gesehen", schreibt Bernd Dörries in der SZ, denn heute sehe man die Kosten der Verhandlungen zum Ende der Rassentrennung: "Die weiße Minderheit gab die Macht ab, durfte dafür aber Reichtümer und ihr in Teilen geraubtes Land behalten. Wer seine Taten gestand, wurde amnestiert. Die Macht ging an die Schwarzen über, viele Weiße lehnten sich zurück und sagten: Nun macht mal. Natürlich wurde einiges erreicht, auch gemeinsam: Der unblutige Übergang, Millionen neue Häuser für die Ärmsten, medizinische Versorgung und der Zugang zu Bildung. Aber zu viele, vor allem schwarze Südafrikaner, haben keine Chance auf ein anderes Leben. Die politische Apartheid wurde von der ökonomischen abgelöst. Zur weißen Elite gesellte sich eine kleine schwarze Mittel- und Oberschicht, für viele andere blieb alles gleich."
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Medien

Es gibt zwar schon einen gigantischen journalistischen Apparat, der nicht profitorientiert ist - die öffentlich-rechtlichen Sender - aber Daniel Schraven von correctiv.org  erklärt in der taz, warum er eine dritte Säule für Journalismus will, gemeinnützigen Journalismus, der über Stiftungen finanziert werden könnte. Sein Beispiel für Geschichten, die fast unterdrückt worden wären, ist ausgerechnet der Skandal um Julian Reichelt, der "ein Schlaglicht auf die Zustände in Deutschland" werfe. Im lokalen Raum würden Geschichten von wirtschaftlichen Interessengruppen aber noch leichter verhindert, "je weniger Medienschaffende es vor Ort gibt, die publizieren können. Die Vielfalt des Angebots ist entscheidend für die Demokratie. Gemeinnützige Angebote können dabei helfen, Lücken zu schließen - wenn gemeinnütziger Journalismus von der Ampelkoalition endlich ermöglicht wird."
Archiv: Medien