9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne ironischen Vorbehalt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2021. Die FAZ bringt Omer Bartovs furiose Replik auf den "Revisionisten " und Verschwörungstheoretiker A. Dirk Moses. In der Welt warnt Armin Nassehi vor der Idee, man könne den Klimawandel bewältigen, in dem man "durchregiert".  Der New Statesman bringt eine Hommage auf Deutschland. Die SZ dekonstruiert das System hinter dem System Kurz:  Man kann die öffentliche Meinung in Österreich mit Millionen korrumpieren, indem man auf einem völlig verzerrten Medienmarkt sein Image aufhübscht.  In der Zeit bringen zwei Historiker neue Erkenntnisse über den Völkermörder Lothar von Trotha.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.10.2021 finden Sie hier

Ideen

Nachtragen müssen wir den Hinweis auf eine aufsehenerregende Replik zu A. Dirk Moses, die gestern auf den Wissenschaftsseiten der FAZ erschien. Es handelt sich um einen Vortrag, der auf der Tagung "Historiker streiten" im Einstein Forum in Potsdam gehalten wurde. Der Holocaustforscher Omer Bartov, der jahrelang mit A. Dirk Moses zusammenarbeitete und sich als scharfer Kritiker der israelischen Regierung positioniert - unter anderem wirft er ihr vor, "den Holocaust als internationalen Deckmantel gegen jede ausländische Kritik an der israelischen Politik" zu benutzen und bestreitet im übrigen seine Singularität - stellt Moses nun in die Nähe antisemitischer Verschwörungstheoretiker. Zusammen mit Autoren wie Niall Ferguson oder Timothy Snyder, bezeichnet er Moses als "Revisionisten": "In jüngster Zeit, drei Jahrzehnte nach dem Fall des Kommunismus und im Zuge der wachsenden Unzufriedenheit mit Globalisierung, Neoliberalismus und Demokratie, scheinen die Dinge für einen neuen, aktualisierten Revisionismus reif zu sein. Diesmal jedoch stehen viele der Begriffe und Argumente, die in den Achtzigerjahren unangreifbar schienen, zur Disposition, während bestimmte Tabus, nicht zuletzt diejenigen über antijüdische Begrifflichkeiten, zu zerfasern scheinen. Hinzu kommt, dass die alte politische Kluft zwischen rechts und links immer undurchsichtiger wird und die Extreme auf beiden Seiten immer enger zusammenrücken." Noch konkreter wird Bartov gegen Ende seines Vortrags: "Die 'Erfindung' des Völkermords als Deckmantel für den Zionismus darzustellen, der von einer Gruppe von Juden konstruiert worden sei, das verbindet sich zu leicht mit der Vorliebe unserer heutigen Gesellschaften für Verschwörungen und Komplotte." Hier ist das Video von Bartovs Vortrag.

"Wer glaubt, dass wir die Klimakrise mithilfe eines starken Durchregierens bewältigen, macht aus der offenen Gesellschaft eine Organisation", warnt der Soziologe Armin Nassehi (aktuelles Buch: "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft") in erster Linie die Klimaaktivisten in der Welt: "Eine Gesellschaft so führen zu wollen wie ein Unternehmen oder ein Ministerium, ist die größte Dystopie überhaupt. In Organisationen kann man die Illusion haben, zentral zu entscheiden, wer was wann tut, damit die Teile zusammenwirken. Ob sie das in der Realität dann wirklich tun, sei dahingestellt. Man stellt oft fest, wie sehr Menschen in ihren Verantwortungs- und Aufgabenbereichen eigene Routinen entwickeln. Wenn das schon für Organisationen gilt, gilt es für moderne Gesellschaften erst recht. Wir haben im 20. Jahrhundert diktatorische Versuche erlebt, Gesellschaften aus einem Guss zu formieren, im Faschismus, im Kommunismus. Sie waren alle zum Scheitern verurteilt."

Mark Siemons meditiert in der FAZ (in einem online geschalteten Text der ehemaligen Sonntagszeitung der FAZ) über den Erfolg des Soziologen Andreas Reckwitz, der unter anderem darin liege, dass er seinen potenziellen Lesern - uns Bobos mit Stelle - einen Bedeutungszuwachs nachsagt. Vor allem fällt Siemons aber Reckwitz' komplette Unfähigkeit auf, seine Theorie in selbstironische Distanz zu  rücken: "Wie auch sollten großräumige Allgemeinbegriffe, mit denen ihre Urheber sich aus den Gegenständen ihrer Wissenschaft herauskatapultieren, ohne ironischen Vorbehalt zu rechtfertigen sein? Reckwitz aber nimmt Konzepte wie 'Spätmoderne' oder jetzt gar schon 'Postspätmoderne' beim Nennwert, so als spreche er über etwas, das es wirklich gibt."

Außerdem: In der FAZ rät der Wirtschaftsredakteur Philipp Krohn den Koalitionären der Ampel zur Lektüre von John Stuart Mill, Friedrich Hayek und Amartya Sen, wenn sie ihr Freiheitsverständnis harmonisieren wollen. In der Zeit rät die Philosophin Eva von Redeker zu einem neuen Freiheitsbegriff, um Corona und Klimawandel zu parieren.
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Europa

Martin Fletcher, Kolumnist beim New Stateman, dessen Tochter und Schwiegersohn in Berlin arbeiten und die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, schreibt eine Hommage auf Deutschland, die den deutschen Leser geschmeichelt erröten lässt: "Seltsamerweise bleibt Deutschland trotz seiner Abhängigkeit von zugewanderten Arbeitskräften eine Hochlohn- und Hochqualifikationswirtschaft. Es bleibt trotz seiner EU-Mitgliedschaft eine der großen Industrie- und Exportnationen der Welt. Es hat viele Fehler, aber es ist im Großen und Ganzen eine ruhige, nüchterne, geordnete, zurückhaltende und bescheidene Nation, die aus den Schrecken des Faschismus bittere Lehren gezogen hat. Wie Gideon Rachman kürzlich in der Financial Times unter Bezugnahme auf das Holocaustmahnmal schrieb: 'Anders als jedes andere Land, das ich kenne, hat Deutschland ein Denkmal für seine größte nationale Schande mitten im Herzen seiner Hauptstadt errichtet.' Deutschland hat nicht immer einen moralischen Kompass gehabt, aber jetzt hat es einen."

Die EU ist Britannien im Streit um das Nordirland-Protokoll weit entgegengekommen, trotzdem fährt die britische Regierung ihre konfliktuelle Linie weiter, schreibt Ian Dunt bei inews.co.uk, einen Handelskrieg mit neuen Zolltarifen befürchtend. Noch mehr fürchtet er, dass es die britische Regierung darauf anlegt: "Die Regierung könnte mit einem nützlichen Feind in die nächste Wahl gehen, dem sie die Schuld an allen Krisen geben kann, mit denen sie konfrontiert ist - Arbeitskräftemangel, steigende Energiepreise, Inflation, Schweinemast und vieles mehr. Und welcher Feind wäre besser geeignet als die EU? Gibt es einen besseren Weg, um etwas von dem alten Kulturkampf-Brexit-Saft anzuzapfen, der sie bei der letzten Wahl angetrieben hat? Doch so verlockend das auch sein mag, es gibt eine ziemlich große Kehrseite: Es würde das Vereinigte Königreich pulverisieren."

Finster blickt der österreichische Schriftsteller Ferdinand Schmalz in der SZ in die Zukunft Österreichs: "Die in den vergangenen Wochen fast stündlich vorgetragenen Angriffe auf Rechtsstaat, Parlamentarismus und freie Presse machen (…) eine düstere Perspektive für Österreich auf. Das Grundproblem scheint, dass außer den antidemokratischen Politclowns der vergangenen Jahre kaum jemand mit der neuen medialen Öffentlichkeit und einer tief gespaltenen Gesellschaft zu Rande kommt. Die Aufgaben, die uns mit der Bewältigung der Klimakrise bevorstehen, werden da eher größer als kleiner. Man kann sich also fragen, wenn es durch die Angst vor einem kleinen Stich zur Immunisierung gegen eine potenziell tödliche Krankheit schon eine Impfgegnerpartei namens MFG schafft, die aus dem Stand in 27 Gemeinden in Oberösterreich im Gemeinderat sitzt - was hätte dann erst der Umbau des gesamten Mobilitätssektors für Folgen?"

Man muss Sebastian Kurz nicht zum Trump, Bolsonaro oder Orban überhöhen, seine Geschichte ist viel "armseliger", schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ: "Die Gewaltenteilung funktioniert in Österreich, die Justiz leistet hervorragende Arbeit, das Parlament behauptet sich. Das System Kurz könnte bald schon zur dramatischen Episode in der an Dramen nicht armen Geschichte des Landes werden. Doch es gibt ein zweites System hinter dem System Kurz. Es kam seinem Ich-Bild, seinen Methoden entgegen, und er hat es so schamlos wie betrügerisch benutzt: Man kann die öffentliche Meinung in Österreich mit Millionen korrumpieren, in dem man auf einem völlig verzerrten Medienmarkt unkontrolliert sein Image aufhübscht und damit den Wählerwillen manipuliert, während kritische Qualitätsmedien, die nicht bei jedem Anruf aus dem Kanzleramt 'Jawohl' rufen, zuschauen müssen. Solange man sich durch schmierige Deals mit Boulevardblättern Meinung kaufen kann, wird Österreich eine käufliche Republik bleiben."
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Gesellschaft

Youtube hatte zwei Videos der Aktion #allesaufdentisch gelöscht und wurde von einem Gericht zurückgepfiffen - zu Recht, findet Peter Weißenburger in der taz. Denn die Videos der Aktion um den Regisseur und Drehbuchautor Dietrich Brüggemann und den Schauspieler Volker Bruch sind nicht direkte Desinformation, sondern ein suggestives, aber nicht direkt falsches "Geschwurbel", so Weißenburger: "Einen Kausalzusammenhang zu ziehen zwischen #allesaufdentisch und den menschenfeindlichen und gewaltsamen Auswüchsen der Querdenkerei führt zu weit. Gewiss mag sich die eine oder andere radikale Querdenkerin von der diffusen Antihaltung von #allesaufdentisch angespornt fühlen, und das in Kauf zu nehmen, dafür ist die Aktion in jedem Fall scharf zu kritisieren. Die Plattformen aber als Löschverbündete zu begreifen bei allem, was im gesellschaftlichen Diskurs einen gefährlichen Schmetterlingseffekt auslösen könnte, ist gefährlich." Laut einem dpa-Ticker bei heise.de hat Youtube inzwischen zwei weitere Videos der Aktion gesperrt.

In der Welt begrüßt auch der Medienrechtler Rolf Schwartmann die Entscheidung des Gerichts. Weniger glücklich ist er mit dem neuen Straftatbestand "verhetzende Beleidigung" (§ 192 a StGB), nach dem jemand bestraft wird, der "an eine Person gegen deren Willen einen Inhalt gelangen lässt, der dazu geeignet ist, diese in ihrer Menschenwürde anzugreifen. (…) Weil das Gesetz alle Weltanschauungen gleichermaßen schützt, sind übrigens auch Nazis geschützt und die Aussage 'Nazis raus!' konsequenterweise strafbar. Die Tat begeht man durch unaufgefordertes 'Gelangenlassen' an Dritte per Zusenden, Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen. Das ist schriftlich, per SMS, E-Mail und natürlich durch einen Post in einem Sozialen Netzwerk möglich. Mit dieser Neuerung werden Meinungsäußerungen jetzt schnell zur Straftat."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Die FAS erscheint seit Frühjahr am Samstag, die WamS neuerdings auch. Jüngst hat auch die taz ihre Samstagsausgabe reformiert. Begründet werden die Veränderungen zwar mit dem geänderten Leseverhalten, aber tatsächlich geht es um die gegenwärtigen "Sparzwänge" der Branche, ist sich Aurelie von Blazekovic in der SZ sicher: "Billiger macht man eine Zeitung zum Beispiel auch, indem man sie nicht mehr am Wochenende produziert, wo Zuschläge in Redaktion, Druck und Vertrieb gezahlt werden müssen. Doch ist eine Sonntagszeitung, die schon am Freitag geschrieben wurde, noch eine Sonntagszeitung? In der Branche findet man verschiedene Wege, um mit dem Wochenende zu sparen. Die neue taz am Samstag ist etwa, daraus macht keiner ein Hehl, auch der Anfang vom Ende der übrigen Printausgaben - ein Aufgalopp für die Einstellung der wochentäglichen Printzeitung in ein paar Jahren. 'Der Samstag wird immer mehr unser Lesetag', sagte Barbara Junge, Chefredakteurin der taz, zur Umstellung: 'Die Wochenendausgabe wird perspektivisch die eine gedruckte taz sein.'"
Archiv: Medien

Geschichte

Die Historiker Matthias Häussler und Andreas Eckl präsentieren in der Zeit neues Archivmaterial aus dem Nachlass der Familie von Trotha über Lothar von Trotha, den maßgeblichen Kommandeur des Völkermords an den Herero und Nama. Sie stellen ihn als einen marodierenden Höfling dar, der keineswegs immer auf Geheiß der Oberen handelte. "Was für ein Bild Trothas zeichnet der Nachlass? Das Bild eines so eitlen wie unsicheren Mannes, der sich immerfort der Gunst des Kaisers und des Beifalls der Öffentlichkeit zu versichern suchte; der sich zu Höherem berufen fühlte, ohne seinen Aufgaben recht gewachsen zu sein; der eher ein ganzes Volk der Vernichtung preisgab, als militärische Fehler einzugestehen; der vor keiner Grausamkeit zurückschreckte, aber sich auch nicht zu schade war, sich bei anderen Höflingen auszuweinen, wann immer er sich in einem der zahllosen Konflikte aufzureiben drohte, die er in seinem Hochmut vom Zaun gebrochen hatte. Historische Deutungen, die Trothas Handeln als durch und durch intentional beschreiben, laufen Gefahr, seiner Selbstinszenierung noch im Negativen zu folgen. Lothar von Trotha aber war alles andere als 'der große General des mächtigen deutschen Kaisers', zu dem er sich stilisierte."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel stellt Nicola Kuhn das mit 1,2 Millionen Euro durch die Ernst von Siemens-Stiftung finanzierte Projekt "Digital Benin" vor, für das 18 ExpertInnen aus Deutschland und Nigeria, Europa und den USA daran gearbeitet haben, die auf der ganzen Welt verteilten Benin-Bronzen digital zusammenzutragen.
Archiv: Kulturpolitik