9punkt - Die Debattenrundschau

Stets unter der Oberfläche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2021. In der SZ spricht der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow über die Medien in Russland und ihre immer schärfere Drangsalierung durch den Putinismus. In Frankreich bringt die NGO "Reporters sans frontières" selbst eine Dokumentation über den Medienunternehmer Vincent Bolloré, der eine immer dominierendere Stellung im französischen Markt hat. Es kann keinen Rassismus gegen Weiße geben, befand die taz neulich, der Soziologe Sebastian Wessels sieht das in der Berliner Zeitung anders. Wer Facebook für den Hass in der Gesellschaft verantwortlich macht, macht es sich zu einfach, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.10.2021 finden Sie hier

Europa

"Russische Medien werden ohne Gerichtsverhandlung zu ausländischen Agenten erklärt. Die Gerichte entscheiden nicht mehr, das bedeutet, die Sicherheitsorgane machen die Politik", sagt im FR-Interview mit Stefan Scholl der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow und erklärt: "In den vergangenen Jahren haben gerade die Medien angefangen, statt des Parlaments die Interessen des russischen Volkes wahrzunehmen. Oder zumindest jener Menschen, die alternative Ansichten zu den wesentlichsten Fragen besitzen, zur Welt, zur Zukunft oder zum Krieg. Ich weiß nicht, wie viele das sind, vielleicht 15 Millionen, vielleicht 20 Millionen. Aber für sie sind die Medien zum Parlament, zur wirklichen Duma geworden. Sie formuliert ihre Meinungen, berücksichtigt sie. Im Grunde geht es darum, dieses Parlament zu vernichten, damit es weiter keine alternativen Ansichten mehr äußert." Außerdem glaubt er: "Bis auf Weiteres stürzt in Russland kein Regime."

Can Dündar porträtiert für seine SZ-Serie, in der er nach Deutschland geflüchtete Türken der jüngeren Generation vorstellt, heute die Schriftstellerin Asli Erdogan, die 2016 wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" in der Türkei inhaftiert wurde und seit 2017 im Exil in Deutschland lebt. Sie sagt: "Die Hoffnung auf Rückkehr in die Türkei habe ich aufgegeben. Sinnlos zu hoffen ist eine Art Folter. Ihr Hass auf Texte, auf Autoren und Autorinnen nimmt kein Ende. Es herrscht ein brutales Repressionsregime, Millionen Menschen wird systematisch das Leben verdüstert. Auch mein Fall wurde trotz eines früheren Freispruchs im Juni dieses Jahres wieder aufgenommen. Irgendwann wird es irgendwie enden, ich glaube aber nicht, dass ich das noch erlebe."

Die polnische Rhetorik zum nationalen Recht, das über dem Recht der EU stehe, findet erstaunliche Echos in Frankreich, berichtet Rym Momtaz bei politco.eu. Nicht nur die üblichen Souveränisten von ganz rechts und ganz links stützten öffentlich die polnische Position, sondern auch einige gemäßigte Politiker, die sich für die Präsidentschaftswahlen positionieren. "Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat einen ganz anderen Standpunkt vertreten und die Entscheidung des polnischen Gerichts als Angriff auf die Europäische Union verurteilt. Aber der Chor der Forderungen von anderen Mainstream-Politikern und der rechtsextremen Führerin Marine Le Pen, Frankreich solle seine Souveränität behaupten, trägt zur Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der EU bei. Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage geben nur 36 Prozent der Franzosen an, dass sie der EU vertrauen. Das ist der niedrigste Wert in der Union und liegt 13 Prozentpunkte unter dem EU-Durchschnitt." Die in dem Artikel präsentierten Umfragewerte zeigen übrigens, dass Eric Zemmour, der möglicherweise kandidiert, gleichauf mit Marine Le Pen liegt - so dass schon spekuliert wird, ob Le Pen ihm die Kandidatur überlässt. Zusammen haben die beiden mehr Stimmen als Emmanuel Macron.
Archiv: Europa

Medien

Zu einem recht ungewöhnlichen Mittel greift die NGO "Reporters sans frontières" in Frankreich. Die Gruppe hat selbst eine 15-minütige Dokumentation ins Netz gestellt, in der Journalisten die Macht des Medienunternehmers Vincent Bolloré anprangern:



Der CEO des riesigen Mischkonzerns Vivendi ist heute der größte Akteur auf dem französischen Kultur- und Medienmarkt und betreibt eine Übernahme des Konkurrenzkonzerns Lagardère. Bolloré besitzt unter anderem den Infosender Cnews, der zur Plattform des Rechtspopulisten Eric Zemmour wurde. Auf dem Buchmarkt hat Bolloré mit seinen Verlagen in bestimmten Segmenten Marktanteile von über 50 Prozent. Und gegen kritische Berichte kämpft Bolloré mit juristischen Mitteln. Darum appelliert RSF nicht nur - typisch französisch - an die staatliche Medienaufsichtsbehörde CSA (Conseil supérieur de l'audiovisuel), sondern fordert auch Gesetze gegen sogenannte SLAPP-Klagen: "Knebelverfahren, bekannt unter dem Akronym SLAPP (Strategic Lawsuit against Public Participation), sind zu einer Waffe der Abschreckung geworden, um die Medien zum Schweigen zu bringen. RSF fordert, dass im nationalen und im EU-Recht Maßnahmen ergriffen werden, um den Missbrauch von Rechtsmitteln zum Schweigen von Journalisten zu bekämpfen." Hier der Bericht von Le Monde zur Aktion von RSF.

Es häufen sich die Fälle junger ModeratorInnen, meist mit Migrationshintergrund, die im Netz mit eindeutig israelfeindlichen Äußerungen hervorgetreten sind. Die Sender finden es offenbar hipp, sie zu engagieren, wundert sich Gideon Böss bei der Jüdischen Allgemeinen: "Dabei kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk doch eine besondere Verantwortung zu, Extremismen wie Antisemitismus zu bekämpfen. Weder das ZDF noch der WDR machen aber aktuell den Eindruck, als ob sie sich dieser Verantwortung stellen würden. Im Gegenteil: Es scheint mittlerweile grundsätzlich möglich, trotz einer - lückenlos dokumentierten - extremistischen Haltung Karriere zu machen." Michael Hanfeld kommentiert in der FAZ zum gleichen Thema.

Im SZ-Gespräch mit Cathrin Kahlweit erklärt der österreichische Medien- und Politikwissenschaftler Andy Kaltenbrunner, wie undurchsichtig Inserate in Österreich vergeben werden: "Es gibt zwei Töpfe. ... Wenn wir diese öffentlichen Mittel zusammenzählen, kommen wir zu der Rechnung, dass Gratiszeitungen inzwischen vor allem aus öffentlichen Inseraten zwischen 20 und 40 Prozent ihres Umsatzes bestreiten, was sicher kein gesunder Ansatz für Unabhängigkeit ist. Aber auch Qualitätszeitungen beziehen zehn bis fünfzehn Prozent ihrer Umsätze aus Inseraten und anteilig etwas mehr Presseförderung."
Archiv: Medien

Gesellschaft

"Diskriminieren kann nur, wer Macht hat", schrieb Silke Mertins Anfang der Woche in der taz, darum könne es keinen Rassismus gegen Weiße geben: "Schwarze Menschen haben in Deutschland - oder Europa - keine Macht... Schwarze, die sich negativ über Weiße äußern, und Weiße, die negativ über Schwarze reden - das wird nie das Gleiche sein, nicht in hundert Jahren."

Das sieht der Soziologe Sebastian Wessels in der Berliner Zeitung anders. Natürlich gibt es Rassismus gegen Weiße, schreibt er, denn: "Wie soll man ethnisch begründete Feindseligkeiten gegen Weiße nennen?" Aber Rassismus ist Definitionssache, räumt er ein: "Wenn man Rassismus als - grob gesprochen - Abwertung und Anfeindung aufgrund der Hautfarbe definiert, gibt es Rassismus gegen Weiße. Wenn man die Definition dagegen an der spezifischen Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei des Westens festmacht, gibt es ihn nicht. (...) Die Sprachgemeinschaft hält das Wort 'Rassismus' bereit, um es zu benennen und universell zu verurteilen, wenn Menschen andere Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten abwerten, stereotypisieren oder schädigen. Wir haben keinen alternativen Begriff, der diesen Gehalt transportieren würde. Geht es um Weiße als Betroffene, sollen wir nun um diese empirische und moralische Essenz des Problems herumreden wie die Katze um den heißen Brei - oder sie schlicht verschweigen."

Es kommen harte Zeiten auf "Wokeistan" zu, prognostiziert Ruhrbaron Stefan Laurin, der eine Wirtschaftskrise befürchtet, die vor allem prekär Beschäftigten Probleme bereiten wird: "80 Prozent der Wissenschaftler an deutschen Hochschulen sind befristet beschäftigt - wird das Geld knapp und muss der Staat sparen, könnte sich die Zahl dieser Stellen schnell verringern. Und natürlich werden die Kürzungen eher Fächer wie Kulturwissenschaften oder Gender Studies treffen, denn Ärzte werden nun einmal gebraucht. Eine Gesellschaft ohne Genderexperten hingegen ist problemlos denkbar."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Es ist reichlich bequem, den Hass in der Gesellschaft allein auf soziale Medien wie Facebook zu schieben, schreibt Richard Herzinger in einer Intervention für den Perlentaucher: "Generell können Medien Hass steigern, ihn verbreiten und in eine bestimmte Richtung lenken - künstlich erzeugen können sie ihn jedoch nicht. Damit er virulent wird und in Gewalt umschlägt, muss er unterschwellig bereits im Bewusstsein von Teilen der Gesellschaft verankert sein. Hass ist eine konstante menschliche Emotion, die stets unter der Oberfläche zivilisatorischen Zusammenlebens brodelt, und die man kontrollieren und eindämmen muss, die man aber nicht ein für allemal aus der Welt schaffen kann."

Die brutale koreanische Netflix-Serie "Squid Game" steht in neunzig Ländern auf Platz 1 der Netflix-Charts und macht die gesamte Internetbranche nervös, berichtet Rahel Lang bei Netzpolitik: "Mit den steigen Zuschauerzahlen steigt auch die Rechnung der lokalen Breitbandanbieter. Schließlich müssen sie für den enormen Datenverkehr ausreichend Infrastruktur bieten. Damit entflammt die Debatte erneut, wer für die Datenkosten des Streaming-Booms zahlen soll. Netflix zahlt in Südkorea, ähnlich wie in der EU, keine Netznutzungsgebühren. Nun leitet der südkoreanische Breitbandanbieter SK Broadband rechtliche Schritte ein."
Archiv: Internet

Kulturpolitik

In der nigerianischen Hauptstadt Abuja haben Deutschland und Nigeria eine Absichtserklärung unterzeichnet, die die Rückgabe von mehr als tausend aus dem ehemaligen Königreich Benin geraubte Bronzen 2022 an Nigeria vorsehen könnte, melden unter anderem Standard, Zeit Online und NZZ. "Zudem gebe es eine Übereinstimmung mit allen nigerianischen Seiten, dass alle daran interessiert seien, dass weiterhin Objekte in Deutschland gezeigt werden. 'Das war auch ein nigerianischer Wunsch'," sagte der der für die Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes zuständige Abteilungsleiter Andreas Görgen, ergänzt Zeit Online.
Archiv: Kulturpolitik