9punkt - Die Debattenrundschau

Wir verlieren nie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2021. China will in Hongkong eine Säule abreißen, die an das Tienanmen-Massaker erinnert. Es gibt nur ein Problem, so die SZ, sie gehört dem Künstler Jens Galschiøt, der gegen den Abriss klagen will - und der Abriss wäre so Teil seines Werks. taz  recherchiert zu sexueller Gewalt in religiösen Organisationen. Grüne und FDP sehen sich ähnlicher, als sie es beim Blick in den Spiegel vielleicht verkraften würden, sagen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa im Spiegel. Die NZZ erzählt, wie der Neokolonialist Tayyip Erdogan das Osmanische Reich wieder aufbauen will. Und ist Jürgen Habermas ein Extremist der NoCovid-Strategie, fragt die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.10.2021 finden Sie hier

Ideen

Jürgen Habermas hat in den Blättern schon im September einen Artikel über den Staat und Corona veröffentlicht, der kaum Aufmerksamkeit bekommen hat. Dabei ist er eine Bombe, schreibt Andreas Rosenfelder in der Welt (und unter der Überschrift "Die Habermas-Diktatur"), denn Habermas fordert nicht etwa eine komplizierte Abwägung verschiedener Rechtsgüter, so Rosenfelder: "Er entwirft in den Blättern, einst Leitmedium der 1968er-Bewegung, nicht weniger als den totalen Corona-Staat - ein rechtsphilosophisches Monstrum, das in seiner Allgewalt, wenn man Habermas beim Wort nimmt, jedes NoCovid-Regime von China bis Australien in den Schatten stellt. Denn der Staat, den Habermas skizziert, darf eine Infektionsvermeidung um jeden Preis nicht bloß verfolgen. Nein: Er muss es tun. Wenn man voraussetzt, dass jeder Staat, den wir aus Geschichte und Gegenwart kennen, immerzu und fast überall Infektionen - und auch die daraus resultierenden Todesfälle - in Kauf nimmt, dann kommt diese Forderung einer Revolution des Staatsbegriffs gleich."

Die Hauptleidtragenden der Covid-Krise sind die unter 30-Jährigen, schreiben die Politologen Ivan Krastev und Mark Leonard in der Welt und beziehen sich dabei auf zwei Studien zu den Folgen der Pandemie: "Für junge Menschen stellt die Pandemie eine existenzielle Bedrohung ihrer Lebensweise dar, und es herrscht weithin das Gefühl, dass ihre Zukunft zum Wohle ihrer Eltern und Großeltern geopfert wurde. ... Eine der deutlichsten der bislang sichtbaren Folgen ist eine Zunahme von Zynismus: Die jüngere Generation in Europa glaubt immer weniger den zentralen Beweggründen ihrer Regierung für die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Dass das Vertrauen junger Europäer in ihre jeweiligen Staatswesen durch die Krise weiter geschwächt wurde, könnte Langzeitfolgen für die Zukunft der Demokratie haben. Untersuchungen des Centre for the Future of Democracy an der Universität Cambridge haben gezeigt, dass die heute jungen Menschen - auch bereits vor der Krise - die Generation mit der größten Unzufriedenheit über die Arbeit der demokratischen Regierungen bilden. Sie sind skeptischer, was die Vorzüge der Demokratie angeht, nicht nur im Vergleich zur älteren Generation von heute, sondern auch im Vergleich zu jungen Menschen, die in früheren Zeiten befragt wurden."
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Politik

Einen Angriff Chinas auf Taiwan hält die FAZ-Korrespondentin Friederike Böge zwar für unwahrscheinlich. "Dennoch gibt die Eskalation rund um Taiwan Anlass zur Sorge. Xi Jinping hat sich als deutlich risikobereiter gezeigt als seine Vorgänger. Der Personenkult, mit dem er sich umgibt, nährt die Gefahr von Fehlkalkulationen und Hybris. Der Nationalismus hat das Wirtschaftswachstum als seine wichtigste Legitimationsquelle abgelöst - und Taiwan ist der heilige Gral des chinesischen Nationalismus."

Bis Mittwoch 17 Uhr soll die Säule, die auf dem Campus der Universität Hongkong an das Massaker auf dem Tienanmen-Platz erinnert, abgerissen werden. So lautet das Ultimatum der chinesischen KP. Es gibt nur ein Problem, erzählt Kai Strittmatter in der SZ: Erschaffen und aufgestellt hat sie der dänische Künstler Jens Galschiøt, sie gehört ihm, weshalb er gegen den Abbau klagen will. "'Wir werden immer die sein, die die Geschichte erzählen', glaubt er. Wenn Universität oder Stadt nun die Statue zerstören lassen nach Ablauf des Ultimatums, dann werden die Bilder dieser Zerstörung um die Welt gehen. 'Es wird ihre Brutalität vor aller Augen offenlegen', so Galschiøt. Und wenn sie nachgeben und seine Eigentümerschaft anerkennen - wer weiß, vielleicht dürfe dann er, der seit Jahrzehnten aus Hongkong Verbannte, sogar einreisen, um sein Werk abzubauen? 'Auch das wird um die Welt gehen. Das ist das Merkwürdige mit der Kunst. Wir verlieren nie.'"
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Gesellschaft

Im Kontext mit sexueller Gewalt in Kirchen spielt auch das Beichtgeheimnis eine Rolle, sagt die Therapeutin Claudia Chodzinski im Gespräch mit Teresa Wolny von der taz. Sie selbst erkläre in Gesprächen mit Tätern, "dass ich für solche Geheimnisse nicht zur Verfügung stehe, weil ich die Verantwortung dafür nicht tragen kann. Die Kirche hat eigene Gesetze, die man nicht einmal dann brechen kann, wenn es einen strafrechtlich relevanten Verdacht gibt. Sie bringt damit auch ihre eigenen Mitarbeitenden in schlimme Situationen, wenn zum Beispiel ein Pastor etwas erfährt, was er nicht weitergeben darf. Wir müssen als Gesellschaft darüber sprechen, ob das noch zeitgemäß ist und wann dieses Geheimnis gebrochen werden darf. Das bedeutet natürlich auch eine Abgabe von Macht für die Kirchen."
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Europa

Im Gespräch mit Tobias Becker und Tobias Rapp vom Spiegel sehen die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, die ein gemeinsames Buch verfasst haben, Grüne und FDP als gar nicht so weit entfernt. Reckwitz sagt: "Grüne und FDP repräsentieren zwei Segmente der gutausgebildeteten, urbanen neuen Mittelklasse. Historisch gesehen, ist das das Erbe des Bildungsbürgertums einerseits, des Wirtschaftsbürgertums andererseits. Natürlich gibt es zwischen beiden symbolische Abgrenzungsstrategien, aber die Lebenswelten und damit die Interessen und Werte sind doch miteinander verwandt. Das zeigt sich auch in den Politikinhalten der beiden Parteien: zum Beispiel in einem grundsätzlich positiven Verhältnis zur Globalisierung und zum Westen oder der großen Bedeutung von Bildung und persönlicher Leistung."

Emmanuel Macron stellt sich gegen die deutsche Konzeption der Energiewende und verkündet eine Renaissance der Atomkraft, die er mit vielen Milliarden Euro subventionieren will. Damit nimmt er einerseits Rechten wie Eric Zemmour Wind aus den Segeln, schreibt FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel, andererseits reagiert er auf eine weitverbreitete Stimmung in Frankreich, die sich etwa in Eric Fottorinos Roman "Mohican" widerspiegele, "in dem mit der Windkraft zu Gericht gegangen wird". Und der Autor Fabien Bouglé behaupte, "dass Deutschland einen 'Wirtschaftskrieg gegen die französische Nuklearindustrie' führe. Eine Armee deutscher Lobbyisten versuche, in Brüssel Einfluss auf die EU-Kommission zu nehmen, damit Atomkraft nicht als nachhaltige Energiequelle anerkannt werde. Ziel sei es, Frankreich deutsche Windanlagen zu verkaufen."

In einem Offenen Brief, den die Welt veröffentlicht, fordern "führende internationale Umweltschützer" die Deutschen auf, den Atomausstieg zu verschieben und ihre restlichen Kernkraftwerke nicht abzuschalten, sonst würden sie ihr Klimaziel für 2030 nicht erreichen: "Dieser um zwei Jahrzehnte vorgezogene Verlust kohlenstoffarmer Stromerzeugung mit einer installierten Leistung von acht Gigawatt, die derzeit für zwölf Prozent der deutschen Jahresstromproduktion sorgt, wird unweigerlich zu rund 60 Millionen Tonnen zusätzlicher Kohlenstoffemissionen pro Jahr führen. Denn es müssen mehr fossile Brennstoffe verbrannt werden, um die erforderliche Ersatzleistung zu erbringen. Dies wird die nationalen Emissionen im Vergleich zum Bezugsjahr 1990 um 5 Prozent erhöhen."

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan träumt immer noch von einer Renaissance des Osmanischen Reichs. Wenigstens in Afrika will er diese Träume ein Stück weit verwirklichen, schreibt der Historiker Rasim Marz in der NZZ. "Der Verlust der imperialen Stellung, der mit dem Untergang des Osmanischen Reiches einherging, sitzt immer noch tief in der türkischen Volksseele und bildet den Nährboden für Niedergangsängste und Einkreisungsobsessionen. Der Schauplatz Afrika eröffnet der türkischen Außenpolitik deshalb willkommene Möglichkeiten, wieder in die Weltpolitik zurückzukehren. ... Staatspräsident Erdogan besuchte allein in den letzten zwei Jahren 25 afrikanische Staaten, um die neue Präsenz der Türkei zu untermauern."

Im Streit über die Zollgrenze in der Irischen See setzt die britische Regierung gegenüber der EU auf ein bewährtes Mittel, erklärt Stefan Kornelius in der SZ: Die EU ist an allem schuld, "Forderung wird auf Forderung gepackt, ohne die Antwort der Kommission abzuwarten, so dass sich der Eindruck verfestigt, dass es der Regierung Johnson vor allem um ideologische Lufthoheit zu Hause geht. Dieser Verhandlungsstil war schon während der heißen Brexit-Phase die größte Irritation für Brüssel. Auch heute gehört zur Einsicht, dass die Form der öffentlichen Auseinandersetzung durch den britischen Unterhändler David Frost die Verhältnisse ins Absurde dreht und die EU als Täter erscheinen lässt, obwohl sie Getriebene des britischen Nationalismus ist." Kornelius hofft auf eine robuste Antwort der EU.

Auf Zeit online stellt Annika Joeres den Rechtspopulisten Eric Zemmour vor, der bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich gegen Emmanuel Macron antreten will: Wie Marine Le Pen verspricht er, "Frankreich wieder zurück in eine idealisierte Vergangenheit zu bringen, in eine Zeit, als 'die Dörfer noch lebten und überall Postämter und Bahnhöfe' waren, wie es Le Pen ausdrückt. Frankreich als große Nation mit Schwerindustrie und Atomkraft ist Zemmours Ideal. 'Eure Bergarbeiter, die Textil- und die Metallindustrie haben Frankreich zu einer globalen Macht werden lassen', sagte er vor Anhängern in Lille, einer nordfranzösischen Stadt, die zuletzt vor rund siebzig Jahren Klöppelspitze herstellte."
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Internet

The Intercept hat eine Facebook-interne Liste mit einer Liste gefährlicher Organisationen oder Personen veröffentlicht. Markus Reuter hat sie sich für Netzpolitik genauer angesehen: "Auf ihr stehen mehr als 4.000 Organisationen und Einzelpersonen, die auf Facebook gesperrt sind. Wer sich positiv über sie äußert, muss damit rechnen, dass solche Postings gelöscht werden. Neben Terrororganisationen sieht Facebook auch manche Bands als gefährlich - sowie Firmen und Personen, die schon lange tot sind." Aus Deutschland und anderen Ländern stehen vor allem rechtsextreme Organisationen auf der Liste: "Facebook sagt gegenüber The Intercept, sein Vorgehen gegen rechtsradikale (im Original: 'White Supremacy') Gruppen sei weitaus aggressiver als das jeder Regierung. Facebooks Definition von Terrorismus sei agnostisch gegenüber 'Religion, Region, politischer Einstellung oder Ideologie'."
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