9punkt - Die Debattenrundschau

Das trotzdem Erreichte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2021. Genozidleugnung ist in Bosnien-Herzegowina für strafbar erklärt worden - aber dafür musste der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft Valentin Inzko seine "Bonn Powers" nutzen, berichtet die taz. Bei libmod.de analysiert der Historiker Martin Schulze Wessel Wladimir Putins geschichtspolitische Essays. In den Blättern erklärt Meron Mendel, wie sich mit Israelhass Differenzen kitten lassen. Und der "Palandt" wird laut SZ nun demnächst "Grüneberg" heißen - der Verlag C.H. Beck verabschiedet sich von den titelgebenden Nazis in seinen Kommentarwerken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2021 finden Sie hier

Europa

In Bosnien-Herzegowina ist Genozidleugnung durch den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, den Österreicher Valentin Inzko, unter Strafe gestellt worden. Er nutzte damit das Machtinstrument der sogenannten "Bonn-Powers", mit dem er sich über politische Streitigkeiten in dem komplizierten Gebilde hinwegsetzen kann, berichtet Erich Rathfelder in der taz. Die Nationalisten der Republik Srpska sind entsetzt. Doch es gehe "nicht an, dass die jahrzehntelangen Untersuchungen durch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag entwertet würden, so Inzko. Die Propagierung von konspirativen Theorien bis hin zur Aussage, die Verbrechen in Srebrenica und anderen Orten habe es gar nicht gegeben, werde zunehmend von einfachen Bürgern im serbischen Teilstaat geglaubt, heißt es in der Erklärung zu seiner Entscheidung. Dies könne nur zu Hass und neuer Gewalt führen, denn die Geschichtslügen manipulierten die Menschen."

In libmod.de kommt der Historiker Martin Schulze Wessel auf die geschichtspolitischen Essays von Wladimir Putin auf der Website des Kreml und in der Zeit (unsere Resümees) zurück. Er liest sie als Rechtfertigungen einer politischen und militärischen Bedrohung: "Die Annahme einer überzeitlichen Kontinuität der Nation, die Putin als eine gemeinsame Großnation der Russen, Ukraine und Belarusen begreift, lässt eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer und Belarusen nicht zu. Abweichungen von dem gemeinsamen Weg können nur als fehlgeleitet oder verräterisch gelten. Entsprechend negativ bewertet Putin historische Figuren wie den Hetman der ukrainischen Saporoger Kosaken Iwan Mazepa, der im Nordischen Krieg 1709 von der Seite Peters I. auf die Seite Schwedens wechselte. Eine Parallele dazu deutet Putin in Bezug auf die gewählte ukrainische Regierung heute an."
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Gesellschaft

Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt kommt in einem jetzt freigeschalteten Artikel in den Blättern auf die antiisraelischen Proteste anlässlich der jüngsten Auseinandersetzungen in Israel zurück. Dabei zeigt er, wie der Hass auf Israel mobilisiert wird, um unter muslimischen Jugendlichen hierzulande Einigkeit zu schaffen: "Muslimische Jugendliche sind keine homogene Gruppe, wie oft suggeriert wird. Ihre Migrationsgeschichten beginnen in verschiedenen Ländern, sie sprechen unterschiedliche Sprachen und gehören zu diversen Strömungen innerhalb des Islams. Dennoch werden sie von islamistischen Agitatoren aus dem In- und Ausland als Kollektiv adressiert und einer gemeinsamen Sache verpflichtet: und zwar der Solidarität mit Palästinenser*innen, die mit einem vereinfachten Feindbild von Israel einhergeht." Mendel eröffnet heute auch mit seiner Frau Saba-Nur Cheema eine FAZ-Kolumne, in der sie über ihr Leben als gemischtes jüdisch-muslimisches Ehepaar berichten.

Außerdem: In der FR erklärt der Altphilologe Dennis Pausch im Gespräch mit Peter Riesbeck, wie Hate Speech in der Antike funktionierte.
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Kulturmarkt

Der juristische C.H. Beck-Verlag wird einige seiner berühmtesten Gesetzeskommentare, die nach alten Nazis benannt sind, umbenennen, berichtet Ronen Steinke in der SZ. Das gilt für den "Palandt" und den "Schönfelder". Der "Palandt" "soll künftig den Namen von Christian Grüneberg tragen. Grüneberg, heute Richter am Bundesgerichtshof, ist bislang auch in der Juristenwelt nur wenigen bekannt. Er koordiniert aber die Arbeit der vielen Autorinnen und Autoren, die zu dem Gesetzeskommentar beitragen. Schon von der nächsten, der 81. Auflage an, die im November erscheinen soll, wird sein Name auf praktisch jedem Richterpult zu finden sein." In der Welt berichtet Sven Felix Kellerhoff.
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Politik

Der ruhmlose Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan lässt Thomas von der Osten-Sacken in den Ruhrbaronen fast verzweifelt zurück. Sicher, der Einsatz war irre teuer und hat Menschenleben gekostet - in den letzten Jahren aber weniger als zuvor. Und "war das trotzdem Erreichte nicht wert, weiter verteidigt zu werden? Ein paar tausend internationale Truppen, die meisten ohne Mandat - außer zur Selbstverteidigung - zu kämpfen, sicherten bis ins Frühjahr 2021 offenbar, dass viele Provinzen nicht von den Taliban kontrolliert waren. Wie sonst lassen sich solche Meldungen erklären? 'Seit Anfang Mai, dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen, haben die Taliban mehr als 150 Bezirke neu erobert.' Heißen diese Meldungen nicht, dass ohne Abzug der internationalen Truppen diese Provinzen aller Wahrscheinlichkeit nicht erobert worden wären?"

Wieder greift das Xi-Regime in China durch eine massive Neuregelung drastisch in einen Sektor der chinesischen Wirtschaft ein, berichtet Fabian Kretschmer in der taz. So wie jüngst einige Digitalunternehmen gemaßregelt (und an den Börsen fast vernichtet) wurden, sind jetzt die boomenden Firmen im chinesischen Nachhilfemarkt durch Neuregelungen gestutzt worden - sie dürfen nur noch gemeinnützig arbeiten. Hintergrund ist der wahnsinnige Leistungsdruck für chinesische Schüler, von dem diese Firmen profitierten: "Er führt unter anderem dazu, dass 16-jährige Chinesen oftmals eine Arbeitslast wie durchschnittliche Vorstandschefs von DAX-Unternehmen stemmen. Und laut Angaben der Chinese Society of Education nähmen in den Metropolen Peking, Schanghai, Guangzhou und Shenzhen rund sieben von zehn Schülern bis zur 12. Klasse Nachhilfeunterricht in Anspruch. Das hat wiederum massive Auswirkungen auf die öffentlichen Schulen: Die qualifiziertesten Lehrer in China sind längst in den Nachhilfemarkt abgewandert, weil es dort die sattesten Löhne zu holen gibt."
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Ideen

Nach der Corona-Pandemie und der den Klimawandel belegenden Hochwasserkatastrophe tastet Soziologe Heinz Bude im Gespräch mit den tazlerinnen Barbara Junge und Ulrike Winkelmann im Nebel: "Wir müssen zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Das scheint mir genau das Problem. Wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität sein wird und neue Formen des Zusammenwirkens nötig macht. Ich weiß, was Sie jetzt beide sagen wollen - und nein, ich finde auch nicht, dass irgendeiner der politischen Anbieter dieses Problem schon verstanden hat."
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