Efeu - Die Kulturrundschau

Die Regie muss sich entscheiden

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2024. Weiter geht's mit der Berlinale, die FAZ macht den tunesischen Beitrag "Mé el Aïn" als Favoriten aus, der Tagesspiegel drückt dem dominikanischen Nilpferd "Pepe" im Wettbewerb die Daumen. Die Welt bezweifelt, ob die sprachliche Überarbeitung von Michael Endes "Jim Knopf" wirklich förderlich ist. Die FAZ lässt sich im Den Haager Mauritshuis von den Bildern Roelant Saverys von wilden Blumen und Tieren verzaubern. Wie Putin klassische Musik für seine Propaganda missbraucht, erklärt die Neue Musikzeitung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2024 finden Sie hier

Film

"Mé el Aïn" von Meryam Joobeur.

Dieser Film verdient einen Preis, meint Andreas Kilb in der FAZ mit Blick auf den Wettbewerbsbeitrag "Mé el Aïn". Das Alltagsdrama der tunesisch-kanadischen Regisseurin Meryam Joobeur, das auf einem Bauernhof am Meer spielt, ist "[u]nter den zwanzig Beiträgen im Berlinale-Wettbewerb (...) 'Mé el Aïn' vielleicht der einzige, den man im strengen Sinn als politisches Kino bezeichnen kann. Dabei zeigt er nichts als Alltäglichkeiten: Häuser und Ställe, Gesichter in Großaufnahme, ein totes Schaf, einen leeren Strand, karge Felder und Wiesen und die Träume einer Frau, die um ihre Kinder bangt. Aber über all dem hängen unausgesprochen die Drohung des islamistischen Terrors und die Erinnerung an die Toten von Raqqa und Mossul. Wenn man es richtig anschaut, dann hängt auch ein tunesisches Dorf mit der ganzen Welt zusammen, mit Europa, mit Asien, mit Afrika und sogar mit Berlin." Weitere Texte zum Film: Tagesspiegel, Filmstarts.

"Pepe" von Nelson Carlos de los Santos Arias.

Einen anderen Favoriten macht Andreas Busche in einem aus seiner Sicht ansonsten enttäuschenden Wettbewerbsjahrgang im Tagesspiegel aus: "Pepe" von Nelson Carlos De Los Santos Arias. "So bleibt als einziger Hoffnungsträger dieses Jahr ein südostafrikanisches Nilpferd, das nach Worten für sein Schicksal sucht, im Privatzoo von Drogenboss Pablo Escobar gelandet zu sein. Und dabei auf Menschen trifft, die sich einen Reim auf dieses seltsame Wesen und ihre eigenen Lebensumstände zu machen versuchen. Das ist nie gimmickhaft, Santos Arias experimentiert mit filmischen Formen (Essay und Fiktion, Animation und Überwachungsbilder), um das Weltkino um neue Perspektiven zu bereichern. Pepe ist der Star des Wettbewerbs."

Gut angekommen ist bei der Kritik "Andrea lässt sich scheiden", der neue Film von Josef Hader. Der österreichische Regisseur schlägt dunklere Töne als gewöhnlich an, meint Stefan Weiss im Standard: "Eine Tragödie um Vertuschung, Schuld und Reue entspinnt sich - dunkler und mit weniger Humoranteil in Szene gesetzt, als man es bei Hader bisher gewohnt war. Er selbst spielt mit dem zu Unrecht verdächtigten und dank eines patscherten Lebens zynisch gewordenen Religionslehrer Franz auch nur den Nebenpart. Birgit Minichmayr geht in der Hauptrolle der emotional verhärteten und vom Schicksal geschlagenen Provinzpolizistin insofern "auf", als gerade ihre Verschlossenheit der Figur besondere Authentizität gibt. Man leidet förmlich mit."

Außerdem: Daniel Kothenschulte freut sich in der FR über Martin Scorseses Lektionen in Filmgeschichte. Kira Taszman blickt im Filmdienst auf drei Berlinalefilme aus der Ukraine. In der taz interviewt Arabella Wintermayr Veronika Franz und Severin Fiala, das Regieduo, das für den Wettbewerbsfilm "Des Teufels Bad" verantwortlich zeichnet. Auf critic.de schreiben Studierende der Stiftung Universität Hildesheim Kurztexte über Berlinalefilme. Robert Ide schaut sich im Tagesspiegel Berlinale-Fußballfilme an. Besprochen werden der Panoramafilm "Teaches of Peaches (Tagesspiegel, taz), die "Zeit Verbrechen"-Serienadaption, die im Panorama präsentiert wird (Tagesspiegel), der Encountersfilm "The Great Yawn" (Tagesspiegel), der Panoramafilm "No Other Land" (critic.de), der Panoramafilm "Memorias de un cuerpo que arde" (taz), der Panoramafilm "Shikun" (NZZ), der Panoramafilm "Baldiga - Entsichertes Herz" (taz), der Panoramafilm "Sex" (critic.de), der Forumsfilm "Der unsichtbare Zoo" (critic.de), der Berlinale-Special-Film "Seven Veils" (Filmstarts), der Wettbewerbsfilm "Sons" (Filmstarts), der Wettbewerbsfilm "Vogter" (Berliner Zeitung) und der Berlinale-Special-Film "Wu Suo Zhu" (Berliner Zeitung).

Patrick Holzapfel bespricht in der NZZ Todd Haynes' "May Dezember". Holzapfel beschreibt den Film - es geht um eine Schauspielerin, die sich auf eine neue Rolle vorbereitet - als ein beeindruckendes, abgründiges, fast vampirfilmartiges, an Douglas Sirk geschultes Melodram: "'Fakeness' ist hier eine Überlebensstrategie, eigentlich spielt keine der Figuren mit offenen Karten. Das liegt weniger an strategischen Motivationen als an einem gesellschaftlichen Ausgeliefertsein, das gar nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu erkennen. Alle Figuren in diesem Film wollen ein Bild wahren oder werden. Wer als Erster zeigt, dass hinter dem Bild ein Mensch leidet, verliert. Ein Schelm, wer dabei an die sozialen Netzwerke denkt. Als Elisabeth den Lippenstift Gracies aufträgt und in die Kamera spricht, wird Imitation zum Fetisch, Schauspiel zur oberflächlichen Flucht vor der menschlichen Seele."

Anna Lindemann interviewt für taz Nord Perivi John Katjavivi, den Regisseur des Films "Under the Hanging Tree". Besprochen wird Radu Judes "Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt" (Standard).
Archiv: Film

Literatur

Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, neues (links) und altes Cover

In den Feuilletons wird eine neue Fassung von Michael Endes Jim-Knopf-Büchern diskutiert, die sprachlich an die Normen der Gegenwart angepasst wurde. Das betrifft, wie Matthias Heine in der Welt darlegt, keineswegs nur das N-Wort. Vielmehr wird das gesamte Buch historisch entkernt: "Noch mehr zur Ent-Historisierung eines Buches, das 1960 kaum verhüllt den gerade 15 Jahre zurückliegenden Nationalsozialismus und seine Rassenlehre spiegelte, trägt die Streichung des Begriffs 'reinrassig' in Bezug auf den Halbdrachen Nepomuk bei. Künftig soll das Wort zwar nicht vollständig verschwinden, aber doch seltener im Buch auftauchen, meist nur noch in wörtlicher Rede der Figuren. Dabei hat Ende hier sehr gezielt einen Begriff gebraucht, der in der NS-Rassenhierarchie über Tod und Leben entscheiden konnte. Der Halbdrache wird von den rassestolzen Ganzdrachen ausgeschlossen, weil seine Mutter ein Nilpferd war - so wie 'Mischlinge' im Nazi-Reich als minderwertig abgestempelt wurden." In der SZ berichtet Kathleen Hildebrand. Auf Zeit Online unterhält sich Katrin Hörnlein mit der verantwortlichen Verlegerin Bärbel Dorweiler.

Außerdem: Christian Thomas begibt sich in der FR auf eine Lesereise durch das ukranische Lwiw, ehemals Lemberg. Das Pullacher Otfried-Preußler-Gymnasium möchte sich umbenennen, berichtet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Oliver Jungen gratuliert in der FAZ dem Züricher Mystikforscher Alois M. Haas zum 90. Geburtstag. Dito Pirmin Meier in der NZZ. Der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2024 geht an Wolfgang Matz, meldet die FAZ. Dua Lipa ist nicht nur ein Popsuperstar, sondern auch eine ernsthafte Literaturkritikerin, freut sich Paul Jandl mit Blick auf Instagramkanal der Sängerin, der sich zu einem waschechten Buchclub entwickelt hat.

Besprochen werden unter anderem "Du bist mir Kunst" - Der Briefwechsel Alma Mahler - Walter Gropius 1910 bis 1914 (FAZ), Vittorio Magnago Lampugnanis "Gegen Wegwerfarchitektur" (FAZ) und Brubaker Bradleys "Gras unter meinen Füßen (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Roelant Savery: Orpheus Charming the Animals with his Music, 1627. Bild: Mauritshuis Den Haag.

"Roelant Saverys Wunderbare Welt" entdeckt Kerstin Schweighöfer im Den Haager Mauritshuis für die FAZ. Der Niederländer hatte nicht nur den ersten Dodo und das erste Stillleben in Europa gemalt, sondern war auch Hofmaler des Habsburgerkaisers Rudolf II.: Dieser "war im Bann von Künsten und Wissenschaften: Er holte Gelehrte und Künstler aus ganz Europa zu sich an den Hof und machte Prag endgültig zur Goldenen Stadt. Wie besessen sammelte er exotische Pflanzen und Tiere; in seinen Parks soll er neben Löwen und Aras sogar Dodos gehalten haben. Bald hatte der Kaiser vom Können Saverys gehört. Nicht nur dessen Tier- und Blumenbilder sprachen ihn an: Rudolf war ein großer Fan Pieter Bruegels des Älteren, und Savery wusste wie kein anderer in dessen Stil zu malen, da dieser neben Bosch sein großes Vorbild war. Noch bis 1970 galten viele von Saverys Zeichnungen als Bruegels. Sie entstanden bereits am Hof in Prag. Zwischen den zahllosen exotischen Tieren und Pflanzen muss sich Savery wie im Schlaraffenland vorgekommen sein. Die gut zehn Jahre als 'Kaiserlicher Kammermaler' gehörten zu den kreativsten seines Lebens."

Porträtmalerei kann eine lebensbedrohliche Angelegenheit sein, lernt Till Briegleb für die SZ in der Ausstellung "Holbein at the Tudor Court" in der Queen's Gallery im Buckingham Palace, die Bilder von Hans Holbein dem Jüngeren zeigt, die er am Hofe von Henry VIII. gemalt hat. Sowohl idealisierte als auch zu ehrliche Bilder konnten in der Tudor-Zeit dafür sorgen, dass ein Künstler den Kopf hinhalten musste, Holbein beherrschte "neben seinem vortrefflichen Realismus, der dennoch alle Menschen interessant und sympathisch erscheinen ließ, auch den diskreten Opportunismus" und "verzauberte seine Auftraggeber mit seinem für damalige Verhältnisse unbegreiflich wirklichkeitsgetreuen und lebendigen Stil." Vielfach sind die als Vorstudien gedachten Zeichnungen neben den fertigen Porträts ausgestellt, sie "sind von einer so engen Korrespondenz in Haltung und Ausdruck, dass sie Holbeins einmalige visionäre Begabung in aller Exzellenz belegen. Schon in der Zeichnung ist das Meisterwerk voll entwickelt. In der leuchtenden und heiteren Farbigkeit des folgenden Gemäldes finden sich dann nur noch feine Korrekturen im Ausdruck. Der Blick auf die vielen Studien lehrt so auch die Besuchenden schnell, das fertige Gemälde vor dem inneren Auge zu imaginieren."

Besprochen werden: "Das Kirchner Museum Davos zu Gast im Geburtshaus des Künstlers" im Kirchnerhaus Aschaffenburg, die Ausstellung "Räumlichkeiten" mit Gemälden von Ulf Puder in der Frankfurter Galerie Strelow, die Retrospektive "Virgin Mary. Supermarkets. Popcorn." mit Werken von Miles Aldrige in der Fotografiska Berlin (alles FAZ) und die neue Dauerausstellung "Gerhard Richter. On Display" im Neuen Museum Nürnberg (Standard). Erstaunlich unkritisch widmet sich Bernhard Schulz der Kuratorin Ute Meta Bauer und ihrer Ausstellung auf der Diriyah Biennale in Riad (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Bühne


Szene aus "Idomeneo." Bild: Theater Genf.

Nicht recht überzeugt ist Helmut Mauró in der SZ von Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung der Mozart-Oper "Idomeneo" am Theater Genf, ihm zufolge geht die Stringenz und damit die Überzeugungskraft der Aufführung streckenweise verloren, zu viele Handlungsstränge konkurrieren miteinander: "Die Regie muss sich entscheiden, aber auch der Dirigent sollte den Ehrgeiz haben, sich auf eine Erzählung zu konzentrieren und diese musikalisch profiliert zu gestalten. Dabei muss man sich natürlich zwischen Regie und musikalischer Leitung einig sein. Aber so weit geht man in Genf nicht." Trotz guter Sängerinnen überzeugt das ganze Unternehmen nicht wirklich: "Eher selten blitzt ein intimer Mozart-Klang auf, der diese Oper eigentlich tragen sollte, und noch seltener wird man durch spannende Klangerzählung unmittelbar ins Geschehen gezogen. Die Musik scheint, bis auf die großen Arien, oftmals gar nur Beiwerk zu sein oder Hintergrund für Cherkaouis choreografische Ambitionen. Die sind quantitativ beeindruckend, die ganze Oper ist ein Bewegungsrausch, aber stellenweise kann einem die alles und jeden begleitende Gymnastik auch ein wenig auf die Nerven gehen."

Weiteres: Judith von Sternburg interviewt für die FR den Theater- und Opernregisseur Tilmann Köhler. Die Grande Dame des Tanztheaters Nele Hertling wird 90, FAZ, SZ und Berliner Zeitung gratulieren. Jan Philipp Gloger wird in der Saison 2025/26 neuer Direktor des Wiener Volkstheaters, meldet der Standard. Die FAZ macht auf das Festival "Starke Stücke" für ein junges Publikum aufmerksam.
Archiv: Bühne

Musik

Friedrich Geiger beschreibt in VAN, wie Wladimir Putin klassische Musik zu Propagandazwecken missbraucht. Als Beispiel dient ihm eine Aufführung der "Leningrader Sinfonie" Schostakowitschs, ursprünglich entstanden während der Blockade Leningrads durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, ein halbes Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine mit viel Pomp - und natürlich ebenfalls in Sankt Petersburg- wiederaufgeführt. Die Inszenierung zielt "auf die maximale Identifikation des Publikums mit der seinerzeit in Leningrad von NS-Truppen belagerten Bevölkerung. Schon der Ort des Konzerts, die Spitze der Wasilewski-Insel, verschaffte den Anwesenden eine Ahnung des damaligen Abgeschnittenseins. Malachow und seine Co-Moderatorin Daria Zlatopolskaja riefen die Umstände der Leningrader Aufführung nicht nur durch eine Einführung vor Beginn der Sinfonie ins Gedächtnis, sondern überdies, indem sie zwischen dem ersten und dem zweiten Satz Zeugnisse von Überlebenden der Blockade verlasen."

Lars Fleischmann stellt in der taz das neue Album der Post-Hardcore-Band Enter Shikari vor. Musikalisch wird auf "A Kiss for the Whole World" ein breites Spektrum bedient, von hartem Rock über Ragga bis Jungle. Die Texte der Band sind davon geprägt, das Sänger "Rou Reynolds sein Songwriting dem Aktivismus unterwirft, was in Themen wie Klimawandel, Tierrechten und gesellschaftlicher Benachteiligung mündet: Niemand schreibt heutzutage Songtexte wie Reynolds. Gleichwohl lesen sie sich nicht wie solche von Hannes Wader, sie kommen individual-mythologischen Ansätzen nah. Die Textwelten von Enter Shikari sind bevölkert von Oktopussen, vom Polarforscher Ernest Shackleton oder von Figuren, die unter der Last der Gegenwart zusammenbrechen."

Außerdem: City-Gründungsmitglied Fritz Puppel ist tot, wie unter anderem Zeit Online meldet. Besprochen werden: Das Album "Loss of Life" der Indie-Band MGMT (SZ), Ein Schubert-Konzert des National Philharmonic Orchestras in der Berliner Philharmonie (Tagesspiegel), ein Konzert des Duos The Tsar im Berliner Funkhaus (taz) und Lizzie Nos Album "Halfsies" (FR).

Archiv: Musik