9punkt - Die Debattenrundschau

Es war keine Frage von rechts oder links

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2021. Warum interessiert sich der westliche Feminismus eigentlich so wenig für die so weiblich geprägte belarussische Opposition, fragt Alice Bota in der Zeit. Ebenfalls in der Zeit antwortet Götz Aly der Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die von einem legitimem Erwerb des Luf-Bootes sprach. Egal welche Debatte: In Deutschland kann man sich eigentlich immer darauf verlassen, dass es um "Schuld" geht, diagnostiziert Reinhard Mohr in der Welt. Margaret Sullivan fordert in der Washington Post ein neues Selbstverständnis von Big Journalism: Weg von der "falschen Äquivalenz". Und in Polen wird Journalismus abgeschafft, konstatiert Gabriele Lesser in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2021 finden Sie hier

Europa

Frauen wie Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo und Swetlana Tichanowskaja prägen die belarussische Opposition. Warum hat der westliche Feminismus, ob Alice Schwarzers klassische Version oder die modische à la Missy Magazin so wenig zu ihnen zu sagen? Mit Schrecken nimmt die Zeit-Korrespondentin Alice Bota in einem Vorabdruck aus ihrem Buch "Die Frauen von Belarus" die entschlossene Indifferenz zur Kenntnis, die allerdings nicht nur ein Problem des Feminismus sei: "Der deutsche Osteuropa-Historiker Felix Ackermann vermutet hinter der historischen Blindheit für den Osten, dass die Deutschen ihre Großväter nie gefragt haben, wo sie im Krieg waren und was sie getan haben. Der Erinnerungsraum zwischen Berlin und Moskau wurde unter dem Begriff 'Russlandfeldzug' begraben."

Ausführlich zeichnet Gabriele Lesser in der taz nach, wie das Kaczynski-Regime in Polen die Medien unter Druck setzt: "Auch Bartosz Wieliński, stellvertretender Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, sieht schwarz für Polens freie Medien. 'Nachdem es der PiS nicht gelungen ist, uns finanziell auszuhungern, werden wir jetzt mit Prozessen nur so überzogen', berichtet er. 'Noch halten wir durch, aber wer weiß, was der PiS noch einfällt. Die Partei ist unberechenbar.' Das Instrumentarium der PiS gegen die Pressefreiheit ist klein, aber effektiv: Gesetzgebung, finanzieller Druck, Klagen. Alle drei Mittel können je nach Bedarf hintereinander, parallel oder auch gezielt gegen nur ein einzelnes Medium eingesetzt werden." Es handelt sich auch hier um sogenannte "Slapp-Prozesse", die nur geführt werden, um Medien finanziell zu gefährden. Vor dem Hintergrund der "Repolonisierung" von Medien in ausländischem Besitz und der Gängelung der Justiz ist das Wort Gleichschaltung wohl zutreffend.

Zum siebzigsten Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention fordern der Pianist Igor Levit und der Journalist Georg Diez im Tagesspiegel auch mit Blick auf das Flüchtlingslager Idomeni, das beide 2016 besuchten, einen "aggressiven Humanismus" und ein "Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland": "Wir sehen dieses Potenzial für eine offene Gesellschaft, die sich nicht abschottet, weil die Freiheit, die an den Grenzen verraten wird, auch im Inneren nicht zu retten ist - es gibt nicht Menschenrechte nur für einige. Wir sehen aber auch, dass sich Teile dieser Gesellschaft gegen diese Menschlichkeit immunisiert haben - dazu gehören vor allem einige Parteien und leider viele Medien, die einen Rechtsruck befördert haben, eine Verschiebung dessen, wofür diese Gesellschaft steht oder stehen sollte, wenn sie ihre eigenen Versprechen ernst nehmen würde."
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Internet

Das iranische Parlament hat ein Internetzensurgesetz erlassen, das so drakonisch ist, dass sogar Regierungsvertreter protestieren, berichtet dpa (hier bei heise.de): "Offiziell geht es in dem Gesetz um die Aufsicht sowie eine Nationalisierung des Internets - also die Schaffung iranischer Alternativen zu beliebten Onlinediensten. Kritiker befürchten jedoch, dass viele Plattformen lahmgelegt werden. Außerdem sollen laut dem Gesetz alle Internetnutzer registriert und sämtliche VPN-Apps, mit denen Iraner sich über Datentunnel Zugang zu unerlaubten Webseiten verschaffen, verboten werden."
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Stichwörter: Iran, Internetzensur

Geschichte

Cover der deutschen Erstausgabe im Verlag Olle & Wolter 1982
René Schlott erinnert in der Zeit daran, gegen welche Widerstände der Holocaust überhaupt erst in die historische Wahrnehmung gerückt werden musste. Weitgehend unbemerkt erschien vor sechzig Jahren Raul Hilbergs grundlegende Studie zur Vernichtungen der europäischen Juden. Jahrzehntelang wurde es nicht ins Deutsche übersetzt: "Der kleine, heute nicht mehr existierende Kreuzberger Verlag Olle & Wolter brachte Hilbergs Studie schließlich 1982 auf Deutsch heraus. Es war die erste Übertragung des Werkes in eine andere Sprache. Weitere Übersetzungen, unter anderem ins Französische, folgten." Sehr empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang Götz Alys Text über die Publikationsgeschichte von Hilbergs Buch im Perlentaucher.

Niemals sei in der Zeit des deutschen Kolonialismus "daran gedacht worden, ganze Bevölkerungen einfach nur deswegen auszulöschen, weil sie einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Religion oder Ethnie angehörten", hatte Götz Aly im von uns leider übersehenen Dlf-Kultur-Gespräch vom 13. Juli mit Eckhard Roelcke scharf auf A. Dirk Moses (Unsere Resümees) geantwortet. In der Debatte sieht er zudem "den Versuch von Leuten, die zum Thema Kolonialismus arbeiten, sich mit der Decolonize-Bewegung beschäftigen und auch öffentliche Kampagnen führen, an Wichtigkeit zu gewinnen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken." Außerdem verurteilt er, dass solche Bewegungen "in leichtsinniger Weise öffentlich mit Steuermitteln gefördert" werden. Aufmerksamkeit verdankt die Kolonialismus-Forschung Moses zwar durchaus, antwortet Harry Nutt, der sich in der FR aber von Moses' "steilen Thesen" distanziert: "Der Bogen ist weit gespannt, und der Verdacht auf Sprechverbote gibt eine Tonlage vor, mit der Moses bereit scheint, in die Vollen zu gehen. Ohne Umschweife knüpft er an den Historikerstreit der achtziger Jahre an, in der allen voran der Historiker Ernst Nolte darum bemüht war, die Vernichtung der Juden als eine vom Bolschewismus provozierte 'asiatische Tat' zu beschreiben."

Götz Aly antwortet heute ebenfalls in der Zeit auf Brigitta Hauser-Schäublin, die von einem legitimen Erwerb des Luf-Bootes sprach (unser Resümee), von dem Alys neuestes Buch handelt (Vorabdruck im Perlentaucher). Das Boot ist bekanntlich eines der Prunkstücke im Humboldt Forum. Aly bleibt bei seiner Darstellung. Eduard Hernsheim, der das Boot nach Berlin bringen half, hatte zwanzig Jahre zuvor selbst für die Zerstörung der Kultur gesorgt, die es hervorgebracht hatte: "Das Kanonenboot Hyäne und die Kreuzerkorvette Carola führten die sogenannte Strafexpedition um die Jahreswende 1882/83 durch. Zuerst belegten sie die sechs Quadratkilometer große Insel mit einer Kanonade und schnitten die Fluchtwege ab; sodann durchkämmten 300 Marineinfanteristen das Inselchen. Sie zerstörten alle Boote (insgesamt 54), 'alles kleine Eigentum', zündeten sämtliche Hütten an (insgesamt 67) und töteten eine unbekannte Anzahl von Menschen. Deutsche Verluste gab es nicht."

Im Standard-Interview mit Stefan Weiss geht auch der neue Direktor des Wiener Weltmuseums, Jonathan Fine, der als ehemaliger Leiter des Ethnologischen Museums in Berlin das Luf-Boot betreute, auf Alys Vorwurf ein: "Die Geschichte der Insel Luf ist natürlich eine, die die Kolleginnen und Kollegen im Ethnologischen Museum kannten und auf dem Schirm hatten. Die Frage, wie man das Boot im Zusammenhang mit den äußerst gewaltsamen Vorfällen zu sehen hat, ist aber eine umstrittene. Die Erwerbung des Boots fand zwanzig Jahre nach der deutschen Strafexpedition statt. Das ist anders als in Namibia, wo man weiß, dass Objekte direkt aus dem genozidären Kontext ins Museum gelangt sind. (…) Es gibt keinen klaren Beleg für einen Kauf, aber auch keinen klaren Beleg für das Gegenteil. Ich glaube, die zentrale Frage ist: Wie geht man mit diesen Grauzonen um?"

Außerdem: In der FR erinnert Arno Widmann daran, dass Adolf Hitler heute vor hundert Jahren zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt wurde: "Die Szene am Abend des 29. Juli 1921, als im Hofbräuhaus ein paar Hundert NSDAP-Mitglieder freudig Adolf Hitler ihren Führer nannten, zeigt wie unter einem Vergrößerungsglas, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu überall auf der Welt stattfand: Menschen wählten statt der Freiheit die Knechtschaft. Es war keine Frage von rechts oder links. Es geschah auf beiden Seiten. Das Führerprinzip eroberte halb Europa, Russland und China, ein paar Länder Lateinamerikas. In Afrika spielte es keine Rolle. Bis zur Befreiung. Als die afrikanischen Staaten die Kolonialherren hinauswarfen, bekamen auch sie es mit Formen totalitärer Macht, mit Genozid und Führerkult zu tun."
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Gesellschaft

Sven Lehmann, Grünen-Abgeordneter im Bundestag, fordert im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz mehr Rechte für Transsexuelle ein, die auch in einem eventuellen Koalitionsvertrag festgeschrieben werden sollen. Dazu gehört, dass man ab 14 über sein Geschlecht entscheiden können soll: "Ab 14 kann man über die Religionszugehörigkeit entscheiden, teilweise ist man strafmündig. Dann sollte man auch entscheiden können, welcher Geschlechtseintrag im Pass steht. Um mehr geht es ja nicht."

Ob in den Debatten um Diversität, Weltoffenheit, oder sogar das Humboldt Forum - "eigentlich geht es immer nur um Deutschland, deutsche Befindlichkeiten, deutsche Schuld, deutsche Moral und deutsche Weltrettungspläne", ärgert sich Reinhard Mohr in der Welt: "Ein diffuser Schuldbegriff steht im Zentrum dieser merkwürdig unpolitischen, aber sehr strikten und symbolbefrachteten Als-ob-Politik: Die Schuld der anderen, der Gesellschaft, der deutschen Vergangenheit, letztlich die Schuld all derer, die noch nicht auf der moralischen Höhe der unentwegten Gewissenserforschung und gnadenlosen Selbstbefragung sind, was Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Klimagerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit anlangt. Nur ein schlechtes Gewissen kann den Ausgangspunkt für ein gutes, also vorschriftsmäßiges Bewusstsein der Zukunft bilden. Anders als bei früheren revolutionären Bewegungen kommt das Wort Freiheit praktisch nicht vor. Stattdessen dominieren immer kleinteiligere Vorschriften, Sprachregelungen, Verbote und Trigger-Warnungen, ein rigides Aufpasserregime - das genaue Gegenteil einer Befreiungsbewegung."

Nimmt die Impfbereitschaft weiter ab, drohen neue Infektionswellen, schreibt Olaf Gersemann in der Welt und will deshalb über eine Impfpflicht nachdenken: "Deshalb gehört zu den Instrumenten, die nun ausgepackt werden müssen, auch schlichter Druck. Etwa Zugangsbeschränkungen zu Veranstaltungen oder auch öffentlichen Verkehrsmitteln für alle, die nicht geimpft sind oder nicht nachweisen können, dass sie genesen sind oder für eine Impfung nicht infrage kommen. Auch eine regelrechte Impfpflicht zumindest für Bürger, die Berufen oder Hobbys mit vielen Kontakten nachgehen, sollte kein Tabu bleiben."
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Medien

Die jüngste Anhörung vor dem amerikanischen Kongress zum Putschversuch vom 6. Januar, die von den meisten der unter Trumps Zauber stehenden Republikanern boykottiert wurde, nimmt Margaret Sullivan in der Washington Post zum Anlass, grundsätzlich über die Rolle der Medien nachzudenken. Was sie stört, ist die "falsche Äquivalenz" in vielen Berichten, die beiden Seiten, der pro- und der antidemokratischen tendenziell gleiche Legitimität gibt. Viele Medien säßen da in einer Art Fairness-Falle, ein Problem sei auch der Stolz des Insiderhaften in vielen Berichten. Sie verlangt "ein umfassendes Umdenken in den Mainstream-Medien. Um dies zu erreichen, ist etwas erforderlich, was der Big Journalism notorisch schlecht beherrscht: Ein offenes, nicht defensives Eingeständnis dessen, was falsch gelaufen ist. Top-Redakteure, Moderatoren von Sonntags-Talkshows und andere Führungskräfte der Nachrichtenbranche sollten sich mit Experten zusammensetzen, um sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und sie sollten der Öffentlichkeit gegenüber transparent sein."
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