9punkt - Die Debattenrundschau

Sie halten ihre Väter für Verlierer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2020. Laut Olivier Roy in der FR  sind es nicht religiöse Gefühle, sondern "De-Kulturalisierung und der narzisstische Kult des Heroismus", die die heutigen Terroristen antreiben. Charlie Hebdo reagiert mit einer Karikatur auf Tayyip Erdogans Frankreich-Attacken. In der Welt fürchtet Yuval Noah Harari weniger die medizinische als die politische Gefahr der Coronakrise. Alle werden froh sein, wenn Donald Trump in der nächsten Woche abgewählt wird, nur Boris Johnson nicht, meint der New Stateman. Die FAZ erzählt die Geschichte eines ungeheuerlichen Datendiebstahls in Finnland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.10.2020 finden Sie hier

Europa

In Polen ist Abtreibung bekanntlich praktisch hundertprozentig verboten worden, nun auch bei kranken Föten. Patricia Hecht spricht für die taz mit der Aktivistin Anne Pfautsch, die sich mit der Gruppe Ciocia Basia um Polinnen in Not kümmert und von rasant steigenden Anfragen berichtet: "Vor Corona hatten wir zwei bis drei Anfragen pro Woche wegen Pillen und drei bis vier von Menschen, die dann für operative Eingriffe nach Berlin kamen. Seit Corona hat sich das verdoppelt. Und seit Donnerstag ist per Mail, Social Media und Telefon extrem viel los - sowohl weil die Leute sich prophylaktisch informieren wollen, als auch weil sie konkrete Unterstützung benötigen. Die polnischen Gruppen sind momentan überlastet, sodass diejenigen bei uns, die Polnisch sprechen, zum Teil deren Telefonschichten übernehmen."

Eine fast unglaubliche und unheimliche Geschichte erzählt Jüri Reinvere (der eigentlich ein estnischer Komponist ist) aus Finnland in der FAZ. Dort hat ein Hacker bei der Firma Vastaamo, die sich als Start up im psychotherapeutischen Bereich betätigt und Patientendaten zentralisiert, Zehntausende komplette Patientenakten gestohlen, inklusive Personenkennzahl, die in Finnland wie ein digitaler Personalausweis funktioniert. Sie "stehen nun völlig nackt in der Öffentlichkeit: mit ihren Geheimnissen, Krankheiten, Affären, unehelichen Kindern", so Reinvere. Die Geschichte sollte auch international zu denken geben: "In der finnischen Öffentlichkeit ist schon diskutiert worden, ob der Täter Verbindung zu ausländischen Geheimdiensten haben könne, da der Fall Vastaamo alle Symptome eines Hybridangriffs aufweise: Eine Kerngruppe der Gesellschaft werde mit etwas Überraschendem, Unvorstellbarem und Großem konfrontiert, teils gelähmt, und die Gesellschaft als ganze durch Dominoeffekte in Schach gehalten."

Charlie Hebdo antwortet mit einer Karikatur auf Tayyip Erdogans Drohungen (Resümee) gegen Frankreich ("privat ist er eigentlich ganz witzig - oh, der Prophet"). In der FAZ erlätiert Jürg Altwegg nochmal, welch eine Symbolfigur der Lehrer für die französische Republik ist: "Jedes Kind weiß, wer Jules Ferry ist, in vielen Klassikern der französischen Literatur wird dem Lehrer als Institution ein Denkmal gesetzt. In der Sorbonne wurde des Märtyrers der Republik gedacht und der Brief vorgelesen, den Albert Camus nach der Verleihung des Nobelpreises seinem Lehrer in Algerien schrieb. Nur dank dessen Engagement konnte Camus, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Sohn einer Analphabetin, studieren."

In einem Welt-Essay über den Niedergang des Universalismen in Frankreich sieht Wolf Lepenies Jules Ferry auch als abschreckendes Beispiel, weil er "als Minister und Ministerpräsident mit den Gesetzen von 1882 allen französischen Kindern die kostenlose und laizistische Schulbildung garantierte und gleichzeitig den Kolonialismus damit rechtfertigte, dass 'die höheren Rassen eine Pflicht haben, die niederen Rassen zu zivilisieren'".

Die französische Linke hat nach der Ermordung des Lehrers Samuel Paty vielleicht doch angefangen zu begreifen, dass der Islamismus mit ihren Ideen rein gar nichts gemein hat, überlegt Joseph Hanimann in der SZ. "Die Schule der Republik ist ein Kernanliegen gerade der Linken. Selbst die Ankündigung des Innenministers Gérald Darmanin, das 'Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich' als islamistische Kampforganisation gegen die Republik auflösen zu wollen, rief von ihrer Seite keine Protestrufe wach. Das braucht nicht als Indiz für eine endlich zur Vernunft gekommene 'islamkompatible Linke' verstanden zu werden, von der man nie genau wusste, was damit gemeint war. Als Zeichen, dass im Land sich etwas bewegt, darf man es aber nehmen."

Im Interview mit der FR spricht der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy über die zweite Generation islamistischer Attentäter, die sich für Theologie eigentlich kaum interessiere: "Es ist eine Generation im Zeichen der De-Kulturalisierung des Islam. Es gibt also nicht einfach eine Transformation des traditionellen Islam. De-Kulturalisierung und Rekonstruktion des Islam sind die beiden Pfeiler, auf die sich ihre Radikalisierung stützt. Sie halten ihre Väter für Verlierer. Genauso ist es bei den Konvertiten. Der Grund der Gewalt sind die De-Kulturalisierung und der narzisstische Kult des Heroismus. Auf dem Marktplatz der Religionen findet sich eine Form des Islam in der Ideologie des Kampfes. Die Terroristen treten ein in das Narrativ der Apokalypse. Es ist nicht so, dass sie den Koran lesen und dann ihre Schlüsse daraus ziehen."
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Ideen

Yuval Noah Harari  ist inzwischen so bedeutend, dass er gar nicht mehr von einzelnen Zeitungen, sondern von Konsortien interviewt wird. In der Welt erscheint ein Gespräch einer europäischen Zeitungsallianz, in dem der Interviewer nicht mal genannt wird. Harari fürchtet unter anderem, dass die Coronakrise bestimmte Tendenzen in den Gesellschaften verschärfen wird: "Die größte Gefahr von Covid-19 liegt im wirtschaftlichen und politischen Bereich, nicht im medizinischen. Die Folgen der Pandemie könnten katastrophal sein, und das über einen langen Zeitraum hinweg. Sie könnten ganze Regionen zusammenbrechen lassen, etwa Südamerika, und neue Überwachungstechnologien begünstigen. Länder, die an sich über die Rechte ihrer Bürger wachen, legalisieren jetzt ihren Gebrauch. Es könnte sein, dass man sich in fünfzig Jahren weniger an das Virus erinnert, als an den Moment, als die Überwachung aller durch die Regierung begann."

Unsere Kultur ist tot, ruft Giorgio Agamben in der NZZ. Das beweisen ihm die Reaktionen auf die Coronakrise: "Eine Kultur, die sich am Ende weiss, ohne jegliches Leben, sucht ihren Ruin durch einen permanenten Ausnahmezustand so weit wie möglich zu beherrschen. Die totale Mobilmachung, in der Ernst Jünger den Wesenszug unserer Zeit sah, ist in dieser Perspektive zu sehen. Die Menschen müssen mobilisiert werden, sie müssen sich jeden Moment im Notstand fühlen, der bis in kleinste Einzelheiten von denen geregelt ist, die über die Entscheidungsmacht verfügen. Während früher die Mobilmachung das Ziel hatte, die Menschen einander näherzubringen, zielt sie jetzt darauf ab, sie voneinander zu isolieren und zu distanzieren."
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Politik

Karim El-Gawhary porträtiert in der taz die inhaftierte saudische Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul, die wegen unerträglicher Haftbedingungen in Hungerstreik tritt und kurz vor einem G20-Gipfel in Riad auf Aufmerksamkeit hofft: "Al-Hathloul ist die Frau, die der als Reformer auftretende saudische Kronprinz Mohammed bin Salman am liebsten schnell vergessen machen würde. Ließ er sich international doch dafür feiern, dass er den saudischen Frauen im Juni 2018 das Recht, selbst hinterm Lenkrad zu sitzen, gewährt hatte. Ausgiebig zelebrieren die Herrschenden Saudi-Arabiens neue Rechte für das Volk. Werden sie dagegen 'von unten' erkämpft, werden sie brutal unterdrückt."

Im Interview mit Qantara erklärt die marokkanische Feministin Asma Lamrabet, warum sie lieber den Koran anders lesen würde, als westlichen - und zumeist säkularen - Feministinnen zu folgen. Immerhin gebe es im Koran genug Potential für moderne Lesarten: "Bei uns heißt es immer, Gleichberechtigung wäre ein westlicher Wert, der nicht mit unserer Kultur vereinbar ist. Das ist falsch, denn Gleichberechtigung ist auch in unseren islamischen Prinzipien angelegt, das möchte ich aufzeigen. Es ist ein universeller Wert. Jeder Kontext hat seine Probleme, aber wir teilen Werte wie Gleichberechtigung, Unabhängigkeit, Autonomie und die Würde des Individuums mit dem Rest der Welt.

Ebenfalls im Interview mit Qantara erklärt die saudische Sozialanthropologin Madawi al-Rasheed, warum sie eine saudische politische Partei im Exil gegründet hat: "Unsere Hauptbotschaft geht an die Menschen in Saudi-Arabien. Wir fordern, Demokratie als politisches System einzuführen und die absolute Monarchie zu ersetzen."

Alle werden froh sein, wenn Donald Trump in der nächsten Woche abgewählt wird, nur Boris Johnson nicht, meint Martin Fletcher im New Statesman: "Biden ist mitte links, ein Progressiver. Er glaubt an Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit. Er und Präsident Obama waren gegen Brexit, und seine Priorität wird es sein, die zerrütteten Beziehungen der USA mit der EU wiederherzustellen, und nicht das Streben nach einem bilateralen Handelsabkommen mit Großbritannien. Er ist ein stolzer irisch-amerikanischer Katholik, der sich entschieden gegen alle Vereinbarungen nach dem Brexit wehren wird, die das Karfreitagsabkommen gefährden."

In der NZZ fragt Mareike Ohlberg, warum "gerade im Westen" viele Menschen die Propaganda der chinesischen Regierung akzeptieren, wonach die Machtinteressen der Kommunistischen Partei "deckungsgleich mit denen des gesamten chinesischen Volkes seien. Dahinter mag Angst um das eigene Chinageschäft stecken, aber häufig auch Unwissenheit oder kultureller Essenzialismus, der auf den vermeintlichen chinesischen Kollektivismus verweist. So wird die Gleichsetzung von Partei, Land und Volk zum Meisterstreich für das autokratische Regime, das weit über Selbstzensur in westlichen Firmen hinausgeht. Jede Kritik an Chinas politischem System oder an den Menschenrechtsverletzungen des Regimes wird automatisch zum China-Bashing."
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Gesellschaft

Christian Wernicke unterhält sich in der SZ mit einer deutschen Lehrerin, die sich traut, ihren Schülern die Mohammed-Karikaturen zu zeigen (allerdings will sie doch lieber anonym bleiben). Die Karikatur von Kurt Westergaard (die mit dem Turban, hier) zeigt sie allerdings nur, "wenn ich die Schüler gut kenne. Und sie mich. Das erste Mal habe ich die Karikatur 2015 gezeigt, nach dem Attentat auf Charlie Hebdo. Das war kontrovers. Kein Schüler hat zwar das Attentat gebilligt. Aber ebenso wollte auch niemand billigen, dass man diese Mohammed-Karikaturen verbreitet. Dieser Widerspruch bleibt."
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