9punkt - Die Debattenrundschau

Anstrengend, ja strapaziös

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2020. Die Berliner Zeitung protestiert noch einmal gegen das goldene, 17 Tonnen schwere Kreuz für die Kuppel des Humboldt-Forums: Eigentlich war es gar nicht geplant, aber die Initiatoren der Attrappe suchten unverdrossen nach Finanziers und fanden sie. Der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann schaut derweil in der Welt rüber zum Marx-Engels-Forum (oder lieber doch nicht!) Wenigstens am Berliner Olympiastadion könnte man noch etwas abreißen: die Nazi-Skupturen. Aber viele Anhänger finden sich für die Idee nicht. Außerdem: Trump und Twitter. Rassistische  Polizeigewalt in den USA. Und die gerupfte Buchmesse.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.05.2020 finden Sie hier

Kulturpolitik

Da glänzt es schon in der Sonne, wenn auch nicht auf der Kuppel, um in aller Weltoffenheit (Monika Grütters) alle, "die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind", einzuladen, die Knie zu beugen. Foto: Justin Salisbury 


Nach seinem gestrigen Gespräch mit dem Theologen Christoph Markschies (Unser Resümee) lässt Nikolaus Bernau heute in der Berliner Zeitung kein gutes Haar am Kreuz auf dem Humboldt Forum: "Welche Botschaft wird also verkündet, wenn die Bundesrepublik ein 17 Tonnen schweres goldenes christliches Kreuz nachschaffen lässt, um es auf ihr wichtigstes Museums- und Ausstellungshaus für animistisch, buddhistisch, hinduistisch, muslimisch oder sonstwie nicht-christlich geprägte Kulturen zu stellen? Ein Haus, in dem wesentlich Sammlungen gezeigt werden, die infolge des europäischen und deutschen Kolonialismus nach Berlin gelangten." Noch in der Ausschreibung 2006 sei der Bau der Kuppel lediglich als Option benannt worden: "Längst stand das Humboldt-Forum im internationalen Fokus von Erinnerungs-Debatten um die Folgen des Kolonialismus, längst kümmerten sich viele und auch die Berliner Museen kritisch um die eigene Vergangenheit. Doch völlig ungerührt von solchen Aufarbeitungsmühen suchten die Schlossfassaden-Nachbauer weiter nach Finanziers, um die Architektur der Kuppel sowie das Kreuz, ein ideologisches Symbol, und die Inschrift zu bezahlen. Die hatte der Bundestag nämlich in seiner Weisheit ausgeschlossen von der Finanzierungszusage. Leider fanden sich Finanziers."

Auch Andreas Kilb ist in der FAZ empört über diese dem Projekt noch mal ganz zum Schluss untergejubelte reaktionäre Geste: "In einem Online-Dossier, das die Stiftung Humboldt Forum auf ihrer Website veröffentlicht hat, gibt Monika Grütters zu Protokoll, das Kuppelkreuz sei ein Symbol für 'Nächstenliebe, Freiheit, Weltoffenheit und Toleranz'. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erklärt, das Kreuz sei 'Teil unserer Pluralität'. Haben die beiden die Umschrift nicht gelesen? Sie ist der Text, der das Symbol erläutert: als Insignie der Intoleranz."

In der Welt schaut der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann lieber nicht hoch zum Kuppelkreuz - das, was er beim Blick gen Osten zum Marx-Engels-Forum sieht, entsetzt ihn genug: "Ähnlichkeit mit dem Großparkplatz eines Einkaufszentrums" attestiert er dem Gelände. Zudem fehle jede Maßnahme, den Neubau in die Stadt einzubinden: "Es wird einem klar, dass der Berliner Senat mit diesem begrünten Denkmalensemble jede Form der Erinnerung an den Zusammenhang des Schlosses mit der einstigen Altstadt verhindern will." In der SZ denkt Karl-Markus Gauß derweil über nationale Massensymbole nach. (Alle Beiträge zur Debatte seit 2017)

Peter Strieder, ehemaliger SPD-Senator für Stadtentwicklung in Berlin hatte neulich in der Zeit eine Schleifung der Nazi-Skulpturen am Berliner Olympiastadion gefordert (unser Resümee): Dem widersprach erst Hans Kollhoff (unser Resümee). Gestern forderte der Architekt Volkwin Marg in der Zeit: "Weil heute wieder aus altem Nazi-Sumpf üble Blasen aufsteigen, ist es dringend geboten, nicht irgendwelche Skulpturen zu beseitigen, sondern endlich eine offensivere und aktive politische Aufklärung in einem größeren und leistungsfähigeren Dokumentationszentrum in der Langemarckhalle neu einzurichten und für öffentliche Aufklärungsarbeit personell aufzurüsten." Jetzt schließt sich Monopol-Autor Jens Hinrichsen einem Vorschlag des Grünen-Politikers Oliver Schruoffeneger an, der einen künstlerischen Gegenakzent setzen will: "Zeitgenössische Kunst als Kommentar zu totalitären Gesten: Dieses Konzept erscheint sinnvoller als Strieders Bildersturm-Ansatz. Man macht die Geschichte nicht ungeschehen, indem man ihre Artefakte löscht. Die Gefahr besteht sogar, dass die Entfernung der Werke die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte blockiert."
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Politik

Für die EU ist es "an der Zeit, gegenüber China in Menschenrechtsfragen auch ökonomische Hebel anzuwenden" , sagt der Aktivist Joshua Wong im Zeit-Online-Gespräch mit Steffen Richter. Er erklärt, wie Peking versucht, Hongkongs Demokratiebewegung zum Schweigen zu bringen: "Das wird vor allem über die willkürliche Auslegung von Subversion geschehen. Subversion aus der Sicht Pekings bedeutet beispielsweise, den Rücktritt eines Politikers zu verlangen, freie Wahlen zu fordern oder in den sozialen Netzwerken Chinas Staatschef Xi Jinping zu kritisieren. Dafür kann man jetzt festgenommen, angeklagt und zu fünf, zehn oder zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt werden. Ich denke aber, der kritischste Teil der neuen Gesetzgebung ist, dass sie der chinesischen Geheimpolizei ermöglicht, in Hongkong Menschen festzunehmen und dann in China den Prozess zu machen. Das führt dazu, dass man am Ende in Peking anstatt in Hongkong im Gefängnis sitzt." "Europa sollte lauter und deutlicher als bislang Menschenrechtsverletzungen Chinas anprangern", fordert auch Andreas Schwarzkopf in der FR.
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Internet

Nachdem Trumps Tweet zur Briefwahl von Twitter mit einem Fact-Checking-Hinweis versehen wurde (unsere Resümees), droht dieser nun die Tech-Konzerne zu regulieren, schreibt Simon Hurtz in der SZ: "US-Medienberichten zufolge bereitet der US-Präsident ein Dekret vor: Die Social-Media-Unternehmen sollen damit ein rechtliches Privileg verlieren. Bislang können sie für Inhalte, die Nutzer auf ihren Plattformen verbreiten, weitgehend nicht verklagt werden. Sollte das Dekret dies ändern, dürfte das ziemlich wahrscheinlich eine Reihe von Verfahren mit sich bringen. Die Drohung der harten Regulierung lässt sich wohl nicht so schnell und einfach umsetzen, wie Trump sich das vorstellt. Trotzdem dürften viele hochrangige Manager bei Twitter und Facebook gerade diskutieren, wie sie damit umgehen sollen."

Trump verstößt mit seinem "Unsinn" gegen kein Gesetz, kommentiert Malte Lehming im Tagesspiegel: "Zwei Freiheitsrechte liegen miteinander im Clinch. Da ist zum einen das Recht auf freie Meinungsäußerung. Auch wenn dessen Ausübung oft nervt, schmerzt und den Konsens stört, sollte es möglichst weit gefasst sein. Denn die Stärke einer Gesellschaft misst sich auch daran, wie viel Dissens und Streit sie verträgt. Selbst Hass kann eine Meinung sein. Jeder Tendenz, um des lieben Friedens willen den Diskussionsraum zu verkleinern, muss widerstanden werden. Das ist anstrengend, ja strapaziös. Aber die Vision einer auf reinen Fakten basierenden Debattenkultur ist nicht nur illusionär, sondern auch totalitär. (…) An dieser Stelle kommt ein zweites Recht ins Spiel: das der unternehmerischen Freiheit. Twitter, Facebook und Co sind private Unternehmen, die keiner staatlichen Aufsicht unterliegen. Sie können sich ihre eigenen Regeln geben, nach eigenen Kriterien entscheiden, was bei ihnen veröffentlicht werden darf."
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Gesellschaft

In Minneapolis wurde ein schwarzer Mann, George Floyd, bei einer Festnahme von Polizisten regelrecht ermordet. Ein minutenlanges Video zeigt, wie ein Polizist den Festgenommenen arretierte, indem er sich auf dessen Hals kniete und sein Opfer quasi erwürgte. Die Kollegen des Polizisten guckten zu. Auch in Deutschland gibt es Rassismus bei der Polizei, aber Christian Jakob mahnt in der taz, nicht gleichzusetzen: "Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen, die historische Genese des gesellschaftlichen Rassismus, die Stellung von AfroamerikanerInnen in den USA und der im Vergleich zu diesen viel heterogeneren nichtweißen Bevölkerung hier. Das festzustellen ist keine Hierarchisierung - böse USA, nicht ganz so böses Deutschland -, sondern Voraussetzung, um gegen rassistische Polizeigewalt in ihrer jeweils konkreten Gestalt vorgehen zu können."

Der Rassismus in den USA ist "allgegenwärtig", institutionalisiert und wird die Präsidentschaftswahl maßgeblich beeinflussen, schreibt Klaus Brinkbäumer auf Zeit Online: "Die konservative Hälfte des Landes, die republikanische, besteht aus jenem weißen Amerika, das schrumpft. Und dieses Schrumpfen führt zu Ängsten, zur Selbstverteidigung, auch zur Rechtfertigung von Dingen, die gestern noch als moralisch verwerflich gegolten hätten." Der Tagesspiegel informiert über die aktuellen Ausschreitungen und Proteste in den USA.

Michael Angele versucht im Freitag, sich einen Reim auf die Verschwörungstheorien um Bill Gates zu machen: "Bill Gates ist ja vor allem eines: unermesslich reich und damit ein Symbol für diese skandalöse Ungleichheit. Die Verschwörungstheorien, die sich um ihn ranken, könnte man einfach als den phantasmagorischen Versuch verstehen, diesen Reichtum in eine sinnstiftende 'Erzählung' zu fassen."

Joachim Müller-Jung greift in der FAZ nochmal den Streit um Christian Drosten auf. Die Bild-Zeitung hatte den Virologen attackiert, weil seine Studie über die Ansteckungsgefahr durch Kinder von Statistikern kritisiert worden war - ein völlig normaler Vorgang in einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozss, so Müller-Jung: "Das apodiktische Urteil 'falsche' Corona-Studie ergo falsche Corona-Politik ist auch schon deshalb unsäglich, weil brauchbare Erkenntnisse so gut wie nie das Ergebnis einer einzelnen Arbeit, geschweige denn eines einzelnen Virologen sind. Einen weltbekannten Forscher im Land dennoch zur Zielscheibe zu machen ist darüber hinaus auch menschlich unerträglich." Und dann kommt ein seltsamer Satz: "Den Psychoterror im Netz wünscht man keinem." Hatten wir eben nicht von der Bild-Zeitung geredet?
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Kulturmarkt

Die Frankfurter Buchmesse soll stattfinden (unser Resümee) Eine "Messe auf Abstand" ist allerdings ein Widerspruch in sich, konstatiert Richard Kämmerlings in der Welt. Auf die Branchenpartys kann man noch verzichten, aber die Begegnungen in Verlagswesen und Buchhandel sind gerade jetzt wichtig, schreibt er: "Da genau das seit Monaten wegfällt und zusätzlich die Vertriebskanäle verstopft sind, wächst der Druck im Kessel. Neuerscheinungen werden massenhaft verschoben, mit Investitionen in Vorschüsse ist man in den Verlagen zurückhaltend. Der internationale Geschäftskreislauf erlebt eine Arterienverkalkung, die Titelzahlen werden reduziert, potenzielle Bestseller für bessere Zeiten zurückgehalten. Man zieht den Kopf ein und wartet ab. Im Ringen um die Frankfurter Buchmesse bündeln sich all diese Entwicklungen. Fällt sie aus, wird die Verlängerung der Durststrecke manifest."

Sehr dramatisch klingt vor diesem Hintergrund allerdings die Meldung im Buchreport: "Die Entscheidung, die Frankfurter Buchmesse in diesem Herbst in deutlich abgespeckter Form auszutragen, wird von großen deutschen Verlagen offenkundig nicht mitgetragen. So werden die marktführenden deutschen Publikumsverlage in diesem Herbst keine Stände in den Messehallen aufbauen." Fehlen werden offenbar die größten deutschen Verlage: die Verlagsgruppe Randomhouse (unter anderen Goldmann, Heyne, Blanvalet, Penguin, Luchterhand, DVA, Der Hörverlag) und die Verlage der Holtzbrinck-Gruppe (Rowohlt, S. Fischer, Droemer Knaur, Kiepenheuer & Witsch) sowie die deutschen Bonnier-Verlage (Ullstein und andere).

Andreas Platthaus informiert in der FAZ über einige interessante Hintergründe: Selbst bei einer Absage der Buchmesse müssten Verlage, die sich bis zum 31. Januar hatten anmelden müssen, fünfzig Prozent der Standmiete bezahlen. Die Messe hat auf diesen Anspruch dann zwar verzichtet: "Aber damit wurde es nun existenzgefährdend für die Frankfurter Veranstaltung selbst. Das wird ein wichtiger Faktor gewesen sein bei der nun verkündeten Entscheidung, die nächste Buchmesse tatsächlich stattfinden zu lassen."
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Ideen

Die Deutschen - geade die intelligenteren unter ihnen- backen sich Hannah Arendt zu einer "heiligen Hannah", die leider in dieser Form nie existiert hat, beobachtet Michael Wuliger in seiner Kolumne für die Jüdische Allgemeine. Dazu gehört natürlich die Affäre mit Heidegger. Aber auch ein anderer Aspekt: "Gelegentlich wird die Philosophin auch gern als Kronzeugin gegen Israel zitiert. Passende Sätze finden sich bei ihr tatsächlich. Allerdings auch andere, die jeder zionistische Rechte sofort unterschreiben würde: 'Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude wehren. Nicht als Deutscher, nicht als Weltbürger, nicht als Verteidiger der Menschenrechte.'"
Archiv: Ideen
Stichwörter: Arendt, Hannah