9punkt - Die Debattenrundschau

Ein radikal transparenteres Netz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2020. Stirbt eventuell angesichts der neuen Liebe zu den Regierungen nun auch der Rechtspopulismus am Coronavirus? In Westeuropa ist er geschwächt, in Osteuropa gestärkt, beobachten taz und Libération.  Sehr viel wird über Überwachung und Information diskutiert: Yuval Noah Harari will in der SZ eine App, aber auch eine Überwachung der Regierungen, die sie einführen. Peter Pomerantsev möchte den Internetkonzernen in der Krise ihre Algorithmen wegnehmen. Ungerecht behandelt fühlen sich in den unterschiedlichen Feuilletons außerdem: Unternehmer, Kulturschaffende, Frauen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.04.2020 finden Sie hier

Europa

Es läuft nicht gut für die Rechtspopulisten und -Extremisten im Moment, zumindest nicht in Westeuropa, berichtet Christian Jakob in der taz: "Die extrem rechte Lega in Italien etwa ist dabei in einer besonderen Position. Die Bilder von den Sterbenden in den Krankenhausfluren von Bergamo gingen um die Welt. Nur konnte die Lega die Mitte-links-Regierung in Rom nicht ohne Weiteres für diese Tragödie verantwortlich machen. Denn Gesundheitspolitik ist in Italien Sache der Regionen. Die von Corona gebeutelte Lombardei wird seit 2013 von der Lega regiert. Und die hat kräftig im Gesundheitswesen gekürzt und privatisiert."

In den osteuropäischen Ländern, wo die Rechtspopulisten an der Macht sind, nützen diese die Situation allerdings für eine Politik des Staatsstreichs. Viktor Orban hat sich in Ungarn quasi diktatorische Rechte zusichern lassen. Und in Polen passierte ein Gesetz, das das ohnehin schon drakonische Abtreibungsrecht des Landes noch weiter verschärft, wie Justine Salvestroni in Libération berichtet. Vor drei Jahren waren es noch die "Czarny protests", "die massiven Demonstrationen ganz in schwarz gekleideter Frauen, die die PiS-Partei zum Rückzug zwangen. Unter dem Druck der Straße wurde das populäre Gesetzesprojekt 'Stoppen wir Abtreibung'  an die Ausschüsse verwiesen, also eingefroren." Nun wurde der Text, der vom katholischen Institut Ordo Iuris formuliert wurde, gestern wieder ins Parlament eingebracht und laut Florian Hassel bei Sueddeutsche.de in erster Lesung verabschiedet. Die entscheidende zweite Lesung für das Gesetz ist allerdings vertagt worden, meldet der Guardian.

Bitterböse rechnet der österreichische Autor und Regisseur David Schalko in der Welt indes mit der "Obrigkeitshörigkeit und Blockwartmentalität" seiner Landsleute und der Politik ab: "Ein geschickter Politiker wie Sebastian Kurz weiß die Ungunst der Stunde für sich zu nutzen. Mit der Flüchtlingsproblematik konfrontiert, antwortet er, darauf solle man ihn bitte erst wieder in ein paar Monaten ansprechen. Auf Italien bezogen sagt er, dass er dafür jetzt keinen Kopf habe. Im gleichen Atemzug spricht er von italienischen Verhältnissen, als hätte man dort ein Verbrechen begangen. Und auf die Einschränkung von Bürgerrechten wird nur grantig erwidert, man könne sich jetzt nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten aufhalten."
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Überwachung

"Die Coronakrise ist mit Sicherheit keine existentielle Bedrohung für die Menschheit", sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in der SZ im Gespräch mit Thorsten Schmitz. Menschen hätten in den vergangenen Jahrhundert weit schlimmere Pandemien erlebt, meint er. Er befürwortet Corona-Apps, aber "unabdingbar ist, dass man weder dem Militär noch der Polizei eines Staates die Hoheit überlässt für solch ein Überwachungssystem. Das muss eine unabhängige Gesundheitsorganisation sein, deren einziger Fokus es sein muss, Epidemien zu verhindern, und die die gesammelten Informationen mit niemand anderem teilen darf. Auch enorm wichtig: Wenn man die Überwachung von Bürgern erhöht, muss man gleichzeitig die Regierung im selben zunehmenden Ausmaß überwachen."

Im Zeit-Online-Interview mit Dirk Peitz spricht der britische Journalist und Autor Peter Pomerantsev über die Verbreitung von Fake-News in der Coronakrise und die Krise des Informationszeitalters. Er fordert neben einer öffentliche Aufsicht für Algorithmen auch allgemeine Algorithmenbildung: "Wir können jedenfalls alle kaum nachvollziehen, wie die Informationsumgebungen gestaltet sind, aus denen wir Inhalte beziehen. Dieser Zustand an sich ist eine Form von unsichtbarer Zensur. Um überhaupt kritikfähig zu werden gegenüber dem, was wir da sehen und lesen, müssen wir verstehen, warum es uns in unsere Feeds hineinläuft. Mehr noch als ein Verständnis für die Verbreitung von Informationen braucht es ein radikal transparenteres Netz als das, mit dem wir es immer noch zu tun haben. Dafür bedürfte es den politischen Willen, das, was etwa Facebook und Google als ihr Geschäftsgeheimnis behandeln, ihr Algorithmendesign, zu brechen."

Es wäre "riskant und töricht", eine Corona-App zur Voraussetzung für Lockerungen der Kontaktbeschränkung zu machen, warnt der Informatiker Henning Tillmann auf Zeit Online: "Denn wie unter Laborbedingungen bewegen wir uns im Alltag kaum. Es kommt also darauf an: Ist das Smartphone in der Hand? Wie liegt es in der Hand, sprich: Wird dadurch die Signalstärke verringert? Liegt es auf einem Tisch? Oder ist es in einer Handtasche zwischen einer Metallbox, dem Taschenspiegel und weiteren Gegenständen? Gegenstände oder auch Körperteile in unmittelbarer Nähe können die Sende- und Empfangsleistung beeinträchtigen. Wird das Gerät in Räumen oder im Freien benutzt? Ist zwischen zwei Personen eine dünne Plexiglasscheibe? Eine Corona-App erkennt nur die Signalstärke zwischen zwei Geräten - nicht, wie und wo sie zustande kommt."
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Gesellschaft

"Wir wählen den wirtschaftlichen Suizid, um zu verhindern, dass einzelne betagte Menschen das Zeitliche einige Jahre früher segnen, als es unter normalen Umständen zu erwarten wäre", ätzt der Jurist und Unternehmer Georges Bindschedler ganz schamlos im NZZ-Feuilleton: "Das Notrecht dient kurzfristig allen Politikern, alle wollen die Gunst der Stunde und das Notrecht für ihre Zwecke ausnutzen und missbrauchen: die Gutmenschen, die Bürgerlichen, die Grünen, die Roten. Das Notrecht wird nie wirklich aufgehoben, seine 'bewährten' Teile werden ins 'ordentliche' Recht übergeführt, und die Regelungsdichte wird erhöht, was dann euphemistisch als Ausstieg aus dem Notrechtsregime bezeichnet wird."

Kurzfristig wird uns der Verlust vieler Menschen schmerzen, aber langfristig wird uns das "soziale und ökonomische Chaos länger beschäftigen", sekundiert die Ökonomin Xenia Tchoumi ebenfalls im NZZ-Feuilleton. Und wo sind eigentlich die Soziologen, wenn man sie braucht?, fragt Urs Hafner in der NZZ. Unter dem Zeitdruck konnte die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen kaum geprüft werden, verteidigt Andreas Zielcke in der SZ die Entscheidungen der Regierung, die teils als verfassungswidrige Eingriffe in die Freiheitsrechte kritisiert wurden: "Von den Gerichten, die sich bereits mit Eilanträgen gegen die Sperrmaßnahmen befassen mussten, hat sich bisher keines die fundamentale Kritik zu eigen gemacht, auch nicht in Karlsruhe."

Die Lockerungen kommen zu früh, schreibt Florian Schumann in einer unaufgeregten Analyse auf Zeit Online. "Es ist auch gut möglich, dass der Spielraum, den wir jetzt haben, zu klein ist. Dass die zweite Welle kommt, sie uns wieder in Quarantäne zwingt und sie vielleicht größer wird als die erste. In jedem Fall werden wir nicht nur Geduld brauchen, sondern weiter auch Solidarität. Doch auch die scheint zu bröckeln, jetzt, wo Branchen streiten, warum die einen öffnen dürfen, während andere in den Ruin steuern."

Mit jedem Tag, der vergeht, "frisst" die Pandemie Frauenrechte, konstatiert Jagoda Marinic in der SZ, Bildungschancen von Mädchen in ärmeren Ländern sind in Gefahr, der Gender Pay Gap vertieft sich, das öffentliche Leben scheint "vermännlicht", schreibt sie. Zwar sterben am Coronavirus doppelt so viel Männer wie Frauen. Aber "weibliches Krankenhauspersonal stirbt 2,7 mal so häufig wie männliches, weil es oft Frauen sind, die direkt am Patienten arbeiten."
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Medien

Viele Medien melden Kurzarbeit an, berichtet Roland Pimple bei Horizont, unter anderem die Zeit, wo laut einer Sprecherin "der Verlag nun für drei Monate Kurzarbeit einführe, auch für die Print-Redaktion, wenn auch dort in einem geringeren Ausmaß. Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und Geschäftsführer Rainer Esser verzichten in dieser Phase jeweils auf ein Viertel ihres Gehaltes." Im Freitag untersucht Klaus Raab, mit welcher Begründung man in Medien im Moment überhaupt Kurzabeit beschließen kann. Die Lage ist paradox. Die Redaktionen haben viel zu tun, die Nutzungszahlen sind toll, aber "ja, es gibt Beispiele für Arbeitsausfall im Journalismus: Ein Veranstaltungsmagazin hat erheblich weniger zu tun als sonst".

In der SZ berichtet Paul-Anton Krüger, wie Regierungen versuchen, kritische Berichterstattung zu unterdrücken: "In Russland wurden Journalisten bedroht, in Sambia bekam ein Fernsehsender die Lizenz entzogen. Jemen, Jordanien, Irak, Iran, Marokko und Oman haben gar den Druck und die Verteilung von Zeitungen ausgesetzt. In Ungarn hat Premier Viktor Orbán ein Notstandsgesetz durchgedrückt, das die Verbreitung falscher Nachrichten mit Gefängnis bedroht - was dabei falsch und was richtig ist, befindet die Regierung. China unterdrückt unabhängige Informationen nicht nur im eigenen Land. Mehrere lokale Bürgeraktivisten und Informanten, die zur Berichterstattung westlicher Medien über die Epidemie in Wuhan beigetragen hatten, sind spurlos verschwunden."
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Kulturpolitik

Die Kultur mit ihren vielen freien Mitarbeitern gehört wie die Gastronomie und große Teile des Einzelhandels zu den Bereichen, die von den Lockerungen vorerst nicht profitieren. Aber nebenbei ist sie außerdem noch von der Politik bei der Ankündigung der ersten Lockerungen degradiert worden, notiert Andreas Kilb in der FAZ: "In den Empfehlungen der Leopoldina war die 'Wiederherstellung der kulturellen Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger' immerhin noch erwünscht, das Beschlusspaket des Bundes und der Länder vom Mittwoch dagegen schiebt die Kultur in den Anhang, der die weiterhin gültigen Schließungsanordnungen aufführt, zwischen 'Gastronomiebetriebe, Bars, Clubs' und 'Prostitutionsstätten', zwischen Bier und Bordell."

Wenn Theater und Konzertsäle noch lange dicht bleiben, bedeutet das das "Ende der Kulturnation Deutschland", befürchtet Manuel Brug in der Welt. Und überhaupt - wer bezahlt die Ausfälle? Die versprochenen Soforthilfen sind "entweder schon erschöpft oder kommen gar nicht an, weil in vielen Bundesländern nur Betriebszuschüsse gewährt werden - und die können Einzelselbstständige, die von Honoraren leben, nicht einfordern. Bleibt für sie nur Hartz IV. So manche Sängerin sitzt inzwischen an der Rewe-Kasse, ob aus Notwendigkeit oder Solidarität, es sei dahingestellt." Kultur ist systemrelevant, schreibt auch der FDP-Politiker Gerhart Baum im Tagesspiegel und fordert einen Kulturnothilfefonds des Bundes. Mehr zum Thema Kultur in der Krise auch im heutigen efeu.
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