9punkt - Die Debattenrundschau

Ganz viele inkrementelle Fortschritte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2020. In der SZ fordert Jan Philipp Reemtsma von Demokratie in erster Linie einen sicheren Boden. In der NZZ fragt Sarah Pines: Wie steht es eigentlich mit der Unschuldsvermutung bei Harvey Weinstein? Der Tagesspiegel bestreitet, dass der muslimische Antisemitismus so virulent sei, und wenn, dann liegt es an der Islamfeindlichkeit. In der Republik lernt Mely Kiyak von Lukas Bärfuss einiges über die CDU. geschichtedergegenwart.ch führt ein in die Ideologie der "Hindutva".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.01.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

In der Türkei gibt es drei deutsche Schulen. Da erscheint das Projekt, in Deutschland drei türkische Schulen zu eröffnen, nur logisch. Die taz-Kolumnistinnen Ronya Othmann und Cemile Sahin sind trotzdem dagegen. Schulen könnten zwar nicht so gleichgeschaltet werden wie Ditib-Moscheen: Aber "von den Zehntausenden Lehrerin*innen, die in der Türkei gefeuert wurden, weil sie nicht staatstreu genug sind, wird sicher keine*r einen neuen Job in einer türkischen Schule in Deutschland bekommen. Ganz im Gegenteil: Die Türkei wird dafür sorgen, dass die 'richtigen' türkischen Lehrer*innen in den türkischen Schulen in Deutschland unterrichten werden. Diese Lehrer*innen werden dann - davon ist auszugehen - direkt und gezielt ausgewählt. Die Auswahlkriterien werden sein: Pro-AKP und Pro-Erdoğan."

Angeklagte gelten als unschuldig, bis sie von einem Gericht schuldig gesprochen sind - das galt bisher für alle, für Mörder, Diebe und sogar für Vergewaltiger. Heute nicht mehr, bedauert Sarah Pines, die offenbar den Weinstein-Prozess beobachtet, in der NZZ. Weinstein ist das Monster, unstimmige Details in den Geschichten der Klägerinnen würden verschwiegen. Aber warum? "Frauen können lügen, kalkulieren, eiskalte Rache üben, genau wie Männer. Ist diese Vorstellung derart unerträglich? Die mediale Berichterstattung jedenfalls begnügt sich mit Bildern weiblicher Schwäche. Überschriften und Prozessberichte, tausendfach von Autoren verfasst, die nicht eine Minute im Gerichtssaal verbracht haben, dann millionenfach auf Social Media verbreitet, zeigen das schwache Geschlecht in der Totalinszenierung: weinend und verwirrt."

Im Interview mit Zeit online beklagt die Anwältin Asha Hedayati, dass für die Opfer häuslicher Gewalt immer noch zu wenig getan wird: "Auf dem Papier ist Deutschland, was den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt angeht, gut aufgestellt. 2018 ist hier die Istanbul-Konvention in Kraft getreten. ... Darin ist zum Beispiel festgehalten, dass es genug Zufluchtsorte für betroffene Frauen geben muss, oder wie Prävention und Opferschutz aussehen sollen. Das Problem ist nur:  Das Übereinkommen wird immer noch nicht konsequent umgesetzt. Es fehlen viel zu viele Frauenhausplätze. Und nicht einmal Richterinnen und Richter am Familiengericht kennen die Istanbul-Konvention überhaupt.

Es gebe zwar keinen genuin muslimischen Antisemitismus, schreibt Malte Lehming vom Tagesspiegel an die Adresse einiger Autoren, die diese Spielart des Antisemitismus ausgerechnet am Auschwitz-Gedenktag thematisierten, aber er muss zugeben, dass es in vielen arabischen Ländern sehr wohl eine extrem judenfeindliche Einstellung gibt. In Deutschland bezieht er sich auf eine Studie Lamya Kaddors, um den muslimischen Antisemitismus zu kontextualisieren: "Mitverantwortlich für den Antisemitismus junger muslimischer Migranten ist aber offenbar auch eine zunehmende Islamfeindlichkeit. Das ist das Ergebnis einer im April 2019 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen Dokumentation eines Schulprojektes. In dessen Rahmen rechtfertigten viele Jugendliche muslimischen Glaubens ihre antisemitischen Einstellungen damit, 'dass sie durch die zunehmende Islamfeindlichkeit selbst abgewertet und diskriminiert werden'. Die Verfasser der Dokumentation warnen vor diesem 'höchst bedenklichen Mechanismus'." (Zu Kaddors Bericht gab es schon Debatten, unsere Resümees.)

Lässt sich die Hysterisierung der aktuellen Gesellschaften mit narzisstischen Kränkungen erklären, fragt Robert Misik in einem kleinen Essay für Zeit online und konstatiert, dass wir in einer Enttäuschungsgesellschaft leben: "Der Individualismus hat jedem Einzelnen das Ziel eingeimpft, etwas Besonderes zu sein, aber auch, von anderen in dieser Besonderheit anerkannt zu werden. Das Kollektiv gilt wenig, das Ich alles. Aber ein solcher Wettbewerb produziert viel weniger Sieger als Verlierer. Selbst wenn man in diesem Bedeutungs-, Wichtigkeits- und Besonderheits-Contest einigermaßen passabel abschneidet, wird es fast immer noch andere geben, die noch mehr Erfolg haben."
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Geschichte

Die Äußerungen Lukas Bärfuss' zur deutschen und zur schweizerischen Geschichte sind in letzter Zeit immer für Debatten gut (siehe unser gestriges Resümee). Ende Dezember hat er der Republik ein Interview gegeben, das in Deutschland (auch vom Perlentaucher) unbemerkt blieb. Die Republik-Kolumnistin Mely Kiyak gibt zu, dass sie in dem Interview einiges gelernt hat: "Entschuldigung, aber Kurt 'Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus' Biedenkopf, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen, war der Schwiegersohn von Fritz Ries? Jenem Industriellen, der sein Vermögen mit Zwangsarbeitern in Auschwitz machte und nach dem Krieg behalten durfte? Und mit diesem Geld finanzierte er nach 1945 die Union? Ich meine, das ist doch irre. Das Startkapital der Christlich-Demokratischen Union kam auf dem Rücken von gefangenen und gefolterten Juden zustande?"

Götz Aly lobt in der Berliner Zeitung die Klarheit der Rede Frank-Walter Steinmeiers in Yad Vashem: "Er mied die Wörter Hitler, Diktatur, NS-Regime, Ideologie, Machthaber, Rassenwahn, Weltanschauungskrieger. Warum verzichtete er auf alle diese unter Journalisten, Historikerinnen und Moderatorinnen, Gedenkpädagogen und Schulbuchautoren so hochbeliebten Distanzformeln? Die Antwort ist einfach. Alle diese Begriffe dienen dazu, sich um das zentrale unbeantwortete Problem herumzudrücken: Wie konnte ein ganzes Volk, und zwar das deutsche, derart tief sinken?"
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Ideen

In der Serie "Voices for Democracy" plädiert Jan Philipp Reemtsma für mehr Bescheidenheit in der Debatte über die Zukunft der Demokratie. Es müssen ja nicht immer die ganz großen Worte benutzt werden, meint er in der SZ. Demokratie ist für ihn einfach ein "Minimum von Selbstschutz gegen das Potenzial von Grausamkeit, das in unumschränkter oder wenigstens unzureichend kontrollierter Macht liegt - Grausamkeit von Folter und Schikane in Gefängnissen bis zur Verletzung von Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer Sprache, ihrer Ansichten. ... Ja, es ist irgendwie unbefriedigend, das Selbstverständliche zu betonen. Aber wer das enttäuschend findet und möchte, dass ich jenseits dieses Selbstverständlichen noch dies und das und was immer ihr oder ihm am Herzen liegen mag, hervorkehre, bedenke, dass wir uns nur dann darüber verständigen können, wenn wir es auf diesem sicheren Boden tun können."
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Internet

Künstliche Intelligenz wird der babylonischen Sprachverwirrung ein Ende bereiten. Künftige Generationen werden gar nicht mehr wissen, was eine Fremdsprache ist, weil es reicht, in der Muttersprache zu kommunizieren und sich die Übersetzung von Software liefern zu lassen. So jedenfalls Larissa Holzkis Vision in einem lesenswerten Hintergrundartikel für das Handelsblatt über die Fortschritte von Google Translate und mehr noch dem deutschen Startup deepl, das teilweise fast unheimlich perfekte Übersetzungen liefert - und dann doch wieder krasse Fehler. "'Ganz viele inkrementelle Fortschritte summieren sich zu einem großen auf', sagt Computerlinguist Hinrich Schütze, der an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität das Centrum für Informations- und Sprachverarbeitung leitet. Wie weit sich die Software noch perfektionieren lässt und in welcher Geschwindigkeit, ist allerdings ungewiss. Einer der größten Knackpunkte laut Schütze: 'Die maschinellen Übersetzer beherrschen kein richtiges Sprachverstehen.' Sie verstünden den Kontext nicht über den Satz hinaus."

Christian Meier hat 3500 Euro hingeblättert (soviel kostet jedenfalls ein Ticket, schreibt er), um bei der von Hubert Burda Media veranstalteten Digitalkonferenz in München für die Welt mitzuhören, wie eine Reihe von amerikanischen Kritikern der großen Internetkonzerne zum Widerstand gegen Big Tech aufrief.
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Religion

Der Druck auf muslimische Mädchen, Kopftuch zu tragen, geht stark von Islamverbänden und Funktionären aus, vermutet Ronald Bilik bei hpd.de, der darum dem österreichischen Kopftuchverbot an Schulen bis 14 Jahren zustimmt: "Das Ziel dieser Verbände liegt in der Konservierung der gegenwärtigen Verhältnisse der islamischen Parallelgesellschaft. Das Kopftuch wird mit dieser pädagogischen Praxis zur zweiten Haut, die Mädchen werden dieses daher auch großteils im Erwachsenenalter nicht mehr ablegen und massive Probleme haben, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten. Die meisten dieser Frauen werden damit verurteilt sein - ganz dem traditionell islamischen Frauenbild entsprechend - zu Hause bei den Kindern bleiben und ihrem Mann zu dienen, von dem sie zeitlebens finanziell abhängig bleiben."
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Politik

Don Sebastian erklärt in dem Blog geschichtedergegenwart.ch die Ideologie der "Hindutva" (die englische Übersetzung wäre etwa "hinduness"), die die heutige indische Regierung zu ihren Muslime ausschließenden Gesetzen inspiriert. Formuliert wurde sie ursprünglich 1923 vom indischen Politiker V.D. Savarkar in seinem Buch "Hindutva -  Who is a Hindu?" Christen und Muslimen will  Savarkar zwar nicht die indische Nationalität absprechen, aber ihre Zugehörigkeit irgendwie schon: "Denn ihnen würde die entscheidende Essenz, durch die sich Hindus von Muslimen unterscheiden, fehlen, nämlich ihre Sanskriti, also ihre 'Kultur' beziehungsweise 'Zivilisation'. Nur wer die Hindu-Kultur und ihre Geschichte akzeptiere und weiterführe, könne Teil der Nation werden. Es geht Savarkar nicht nur darum, Indien als Vaterland zu betrachten, sondern ebenso als religiös und kulturell definierte Heimat. Muslime und Christen seien in ihrem Patriotismus zwiegespalten, da ihre heiligen Stätten nicht in dem von ihm gezeichneten Hindusthan liegen."
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