9punkt - Die Debattenrundschau

Zuverlässig passive Stützen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2018. In Frankreich ist Revolution oder zumindest "Jacquerie". Die Medien versuchen die überraschend breite Bewegung der "Gilet jaunes" einzuschätzen, die ihre Diesel gegen eine Erhöhung der Benzinsteuer verteidigen. Götz Aly erinnert in seiner Dankesrede für den Geschwister-Scholl-Preis auch an die 3.000 Studenten, die in der Münchner Universität das Todesurteil gegen die Scholls beklatschten. Aber in der Berliner Zeitung lobt er auch den Willen der Deutschen, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Die taz berichtet über die zügig voranschreitende Gleichschaltung Hongkongs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.11.2018 finden Sie hier

Europa

In Frankreich ist mal wieder Revolution - noch im Vorstadium der so genannten "jacquerie", einer Revolte ohne Anführer. Sind es Linke oder Rechte, die da mit gelben Warnwesten ("gilets jaunes") gegen die erhöhte Dieselsteuer protestieren und Straßen blockieren? Diesel fahren sie jedenfalls alle, leben in der Provinz und sind auf ihre alten Karren angewiesen. Der Fotograf und Autor Vincent Jarousseau erforscht für ein Buch das abgeschlagene Städtchen Denain in Nordfrankreich. Auf huffpo.fr stellt er ein paar Einwohner Denains vor, etwa Guillaume und seine Familie, die auf Sozialhilfe angewiesen sind: "Guilaume liebt es zu basteln. Er kauft alte Autos, die er aufmöbelt und personalisiert. Das Auto ist für ihn ein Objekt sozialer Anerkennung. Er weiß, dass die technischen Prüfungen ab 1. Januar 2019 wesentlich komplizierter werden, so dass seine alte Kiste kaum mehr durchkommen wird. Das ist das Ende des Selberbastelns und der kleinen Gefälligkeiten für Kumpel und Nachbarn. Alles wird elektronisch. Und Guillaume wird seinen prähistorischen Peugeot 309 nicht mehr fahren können."

Zachary Young schildert bei politico.eu trocken das Dilemma Emmanuel Macrons gegenüber diesen überraschend massiven und landesweiten Protesten: "Der Verzicht auf die Steuerhöhung könnte Macron kurzfristig einigen Ärger ersparen. Aber er würde ein klaffendes Loch im franzöischen Budget hinterlassen und Protest generell ermutigen. Darüberhinaus könnte ein Rückzug den Zorn seiner ökologischen Unterstützer nach sich ziehen, um deren Gunst bereits die gemäßigte Linke wirbt."

Rechtsextreme Tendenzen erkennt Jean-Yves Camus vom "Observatoire des radicalités politiques" im Gespräch mit Le Monde in der Bewegung der "Gilets jaunes" nicht, obwohl die Rechte versuche, auf den Zug aufzuspringen. Was sich aber verbreite,  sei "ein sehr harter Diskurs gegen das 'System'. Vor allem weil die Benzinpreiserhöhung nur einer der Aspekte des Problems ist, und wahrscheinlich nicht mal der wichtigste. Man muss es im Zusammenhang mit den Steuererhöhungen insgesamt, der Frage der Kaufkraft und der gigantischen Ungewissheit über die Arbeitsplätze, der Zukunft ihrer Kinder, dem streikenden sozialen Aufzug sehen  - erst dann haben sie alle Zutaten beisammen, um die Legitimität der Macht in Frage zu stellen."

Der Brexit lehrt die Briten gerade, ein paar harten Wahrheiten ins Auge zu sehen, meint  Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor beim Institut für Zeitgeschichte in München,  in der SZ. Was noch fehlt, wäre ein nüchterner Blick auf das britische Wahlsystem, das dem der als undemokratisch beschimpften EU angeblich so überlegen ist. Dabei ist es gerade das britische Mehrheitswahlrecht, das große Teile der Bevölkerung ausschließt und die Gräben verschärft: "Grund ist die Tradition des Mehrheitswahlrechts, nach der nur eine Person je Wahlkreis ins Unterhaus gelangt. Es genügt die einfache Mehrheit der Stimmen. So erhielten die britischen Grünen bei der Wahl im April 2015 mehr als 1,1 Millionen Stimmen, aber nur einen Sitz im Parlament. Die Scottish National Party erhielt mit 1,4 Millionen wenige Stimmen mehr, aber 56 Sitze. ... Diese Ungleichgewichte zwischen Wählerwünschen und Parlamentsmandaten sind keine Ausnahme, sondern liegen im System. Die in Westminster fernsehwirksam debattierenden Parlamentarier spiegeln weder die Breite der politischen Strömungen im Land, noch repräsentieren sie die Vielfalt der abgegebenen Wahlwünsche."

"Wer sprach vom Problem Irland, als die Engländer über den Brexit abstimmten", fragt die Politologin Anne-Laure Delatte in Libération und antwortet selbst: "Niemand".  Die Brexit-Verhandlungen hätten der Insel zum ersten mal einen Trumpf gegenüber Großbritannien verliehen. Britannien werde vom Rule-Maker zum Rule-Taker. "Die Europäer fürchteten, dass das Vereinigte Königreich ein enormes Steuerparadies wird. Der vorgesehene Deal verringert diese Möglichkeit. Jeder industrielle Sektor Britanniens muss sich den selben Regeln, Umweltstandards und  sogar Energiepreisen fügen. Und da Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied ist, kann es die Regeln nicht mitbestimmen..." Und das alles wegen des unlösbaren Irland-Problems: "Eine Insel zeigt, dass man 45 Jahre Multilateralismus nicht so leicht abwickeln kann."
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Kulturpolitik

Für Kulturinstitutionen in Ägypten wird es immer schwieriger, sich den Staat vom Leib zu halten, berichtet Susanna Petrin in der NZZ: "Sie machen alle ähnliche Erfahrungen mit willkürlicher Zensur, krasser Bürokratie, verstärkter Repression. Viele Kulturorte und Galerien verzichten auf Beschilderungen, ducken sich im braungrauen Häusermeer der 25-Millionen-Metropole. 'Wir möchten irgendwie lieber nicht gefunden werden', sagt eine Galeristin, 'unseren Umsatz machen wir ohnehin vor allem im Ausland.' Seit 2017 ist zudem die Finanzierung für Nonprofit-Betriebe noch prekärer geworden: Vergangenes Jahr trat ein NGO-Gesetz in Kraft, das es auch Kulturinstituten stark erschwert, Gelder von ausländischen Stiftungen oder Organisationen entgegenzunehmen. ... Mit jenem Gesetz glaubte man, die Talsohle erreicht zu haben. Aber nun droht 2019 ein noch fataleres Dekret: Das sogenannte Festival-Gesetz verlangt eine spezielle Lizenz für jedes Kulturfestival wie auch für andere Events. Gemäss Dekret wird jeweils die Zustimmung eines Komitees mit Mitgliedern aus neun Ministerien notwendig sein.
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Medien

Man hört das Aufatmen Michael Hanfelds auf seiner FAZ-Medienseite förmlich: "Die Bundesregierung steht zum Urheberrecht im digitalen Zeitalter, und sie steht zu einem Leistungsschutzrecht für Presseverleger. Das sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) am Montag bei einer Konferenz der Initiative Urheberrecht in Berlin."
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Geschichte

Der Historiker Götz Aly wurde am Wochenende in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. In seiner Dankesrede, die die Süddeutsche heute druckt, erinnert Aly auch an die 3.000 StudentInnen, die in der Münchner Universität das Todesurteil gegen die Scholls beklatschten: "Insgesamt betrachtet, läuft unsere heutige Erinnerungspolitik darauf hinaus, sich mit den Opfern zu identifizieren. Parallel dazu werden die Täter zu schier außerirdischen Exekutoren stilisiert, und über die 3.000 Jubelstudentinnen und -studenten ist noch nie systematisch geforscht oder ausführlich berichtet worden. Diese Art des Erinnerns legt nahe zu vergessen, wie sehr die eigenen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern die Regierung Hitler lange aktiv unterstützt hatten, zu den mäßig überzeugten Mitläufern oder den zuverlässig passiven Stützen der Gewaltherrschaft gehört hatten. Näher als Christoph Propst, Sophie Scholl und Hans Scholl stehen auch uns Heutigen diejenigen, die am 22. Februar 1943 im Audimax der LMU den justizförmigen Mord an drei Kommilitonen zustimmend oder angepasst mittelstark beklatschten und betrampelten."

Dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aber nicht abgeschlossen ist, sondern sowohl von Politikern wie Bürgervereinen tatkräftig gepflegt wird, lernte Aly auf seiner jüngsten Reise durch die Bundesrepublik, wo er zu einer ganzen Reihe von Veranstaltungen zum 9. November eingeladen worden war, erzählt er in der Berliner Zeitung: "In Bensheim sang man in aller Eintracht mit der sehr munteren Stadtverordnetenvorsteherin von der CDU das Moorsoldatenlied, weil es vor 30 Jahren von Linksbewegten so eingeführt worden ist. In Stralsund empfing mich der Verein 'Historische Warenhäuser Wertheim und Tietz', in Worms die 'Gesellschaft zur Förderung und Pflege der jüdischen Kultur', in Bamberg die 'Katholische Hochschulgemeinde'. Mich beeindrucken die Kraft, die Ernsthaftigkeit und das Engagement all dieser Initiativen und Vereine. Überall in Deutschland haben sie in den vergangenen 30 Jahren eine immer stärker gewordene, fundierte Gedenkkultur geschaffen - in vielfältiger Weise und mit parteiübergreifender bürgerlicher Selbstverständlichkeit."
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Gesellschaft

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil erlaubt, dass sich unheilbar Kranke ein  Medikament für einen sanften Freitod kaufen, aber die Politik ignoriert diese Entscheidung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unterläuft das Urteil sogar, schreibt die Rechtsanwältin und FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr in der taz: "Erst kürzlich wurde das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte noch einmal angewiesen, das Urteil zu ignorieren und entsprechende Anträge pauschal abzulehnen. Schon die Verschärfung der Rechtslage im Jahr 2015 hätte uns Warnung genug sein müssen. Nunmehr aber handelt die Exekutive in bewusster Missachtung der Rechtslage und verweigert unzähligen Menschen am Lebensende ihre grundgesetzlich garantierte Menschenwürde."
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Politik

Die Regenschirm-Proteste in Hongkong sind längst Geschichte. Heute beginnen Prozesse gegen einige Aktivisten, denen wegen Behinderung des Verkehrs bis zu sieben Jahren Gefängnis drohen, berichtet Felix Lee in der taz. Die Gleichschaltung der ehemaligen britischen Kronkolonie schreitet zügig voran: "Äußerst aggressiv gehen die Hongkonger Behörden gegen die Demokratie-Aktivisten vor. Parteien und Gruppierungen, die sich für eine Unabhängigkeit Hongkongs vom chinesischen Festland einsetzen, sind verboten. Bereits gewählte Parlamentsabgeordnete, die mit Unabhängigkeitsbefürwortern sympathisieren, wurden abgesetzt. Die Aufenthaltsgenehmigung des Hongkong-Korrespondenten der Financial Times wurde nicht verlängert, weil er als Vorsitzender des Vereins ausländischer KorrespondentInnen einen Unabhängigkeits-Aktivisten zu einer Veranstaltung eingeladen hatte. Der Journalist musste bereits ausreisen." David Bandurski erläutert in einem zweiten Artikel, "wie die Rechte der Hongkonger ausgehöhlt werden".
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