9punkt - Die Debattenrundschau

Ganze Stadtviertel der Namenlosen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2018. Im Standard erzählt Wladimir Sorokin, wie Putin Russland die Zukunft raubte. Wir werden uns noch nach der unprätenziösen, vernünftigen Politik Angela Merkels zurücksehnen, prophezeit Herfried Münkler in der NZZ. In der FAZ plädiert Simon Strauß für mehr Autorität und Hierarchie, um die entfesselte Debatte zu bändigen. Im Tagesspiegel erzählt der im Exil lebende Uigure Ilham Lutfi von der Verfolgung der Uiguren durch die chinesischen Behörden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.11.2018 finden Sie hier

Europa

Putin hat Russland gründlich verplombt, erklärt der Schriftsteller Wladimir Sorokin im Standard-Gespräch: "In Russland gibt es aktuell keine Gegenwart. In der Sowjetunion haben alle mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gelebt. Man hatte also eine Zukunft. Die gibt es jetzt nicht mehr. Putin und seine Mannschaft haben die Zeit eingefroren bzw. angehalten. Wir leben in einer Mischung aus Historischem aus dem Mittelalter und aus der Sowjetunion. Es gibt keine Dynamik nach vorn. Das lässt sich gut in der Literatur beobachten. In den vergangenen zwanzig Jahren ist kein Roman in Russland erschienen, der die Mechanismen der gegenwärtigen Realität beschreibt. In so einer Situation kann man nur fantasieren oder man erinnert sich an die Vergangenheit."

Wir werden uns noch nach der unprätenziösen, vernünftigen Politik Angela Merkels zurücksehnen, prophezeit Herfried Münkler in der NZZ in einer kleinen Hommage an die Kanzlerin. Deren einzigen echten Schwachpunkt sieht er in ihrer Unfähigkeit zur Debatte - für Münkler auch eine Prägung aus der DDR-Zeit: "Nicht die Kraft der Rhetorik, die sich gegen andere Sichtweisen und Vorschläge durchsetzt, sondern das Vertrauen in Fach- und Sachkompetenz galt hier, jedenfalls in der posttotalitären Phase unter Honecker, als Königsweg zur richtigen Entscheidung. Nun war die DDR zwar gescheitert, aber nach Auffassung der dort groß Gewordenen nicht an einem Zuviel an Fach- und Sachkompetenz, sondern an dem notorischen Einwirken ideologischer Vorgaben auf die Politik. Expertise ohne Ideologie, aber auch ohne großen Streit - das war der Königsweg guter Politik. Dem ist Merkel gefolgt."

Die Enttäuschung der Brexit-Anhänger mag groß sein, aber mehr als das, was Theresa May herausgeholt hat, wird wohl nicht zu bekommen sein, heißt es im Observer-Editorial: "Großbritannien verliert die einflussreiche Rolle, die es bei der Gestaltung des EU-Rechts gespielt hat, und wird zu einem Befehlsempfänger, der sich an alle neuen EU-Normen anpassen muss, etwa in den Bereichen Steuern, Umweltschutz, Beschäftigungsstandards und Wettbewerbspolitik. Und zugleich wäre unsere Fähigkeit, unsere eigenen Freihandelsabkommen auszuhandeln - die nach eigener Analyse der Regierung immer nur einen kleinen Teil der Kosten von Brexit decken konnten - stark eingeschränkt." Für den Observer bleibt darum nur nur ein zweites Referendum, um aus dem Schlamassel herauszukommen.
Archiv: Europa

Ideen

Eine gleiche Geltung aller Meinungen führt zu Tohuwabohu, schreibt Simon Strauß in der FAZ. Es brauche Autorität und Hierarchie, um im Meinungsgewoge eine Richtung zu finden, insistiert er und beruft sich dabei auf einen Text Hannah Arendts über die "Die Krise in der Erziehung": "Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass das Individuum in der Masse besser und gerechter aufgehoben sein könnte als in einer hierarchischen Welt: 'Denn die Autorität einer Gruppe ist stets erheblich stärker und tyrannischer als die strengste Autorität einer einzelnen Person je sein kann.' Heute, wo der Populismus auf der einen und der Moralismus auf der anderen Seite in der Gesellschaft immer mehr Raum gewinnen, scheint eine Wiederannäherung an den Gedanken einer verantwortungsethischen Autorität nötiger denn je."

Außerdem: Ebenfalls in der FAZ fragt Kai Bremer, ob "sich Syrien befrieden lässt, indem man den Westfälischen Frieden studiert". Zurückgehend auf Reden Frank-Walter Steinmeiers und Büchern von Herfried Münkler (hier) und Brendan Simms (hier), hat hierüber eine Tagung in Loccum stattgefunden.
Archiv: Ideen

Politik

Dass die Brexit-Kampagne und Trumps Wahlkampf organisatorisch verbunden waren, wird immer deutlicher, schreibt Jane Mayer im New Yorker: "E-Mails, die sich bis auf Oktober 15 datieren lassen, zeigen, dass Steve Bannon, der damals Vizepräsident von Cambridge Analytica war - einer Firma, die zu großen Teilen dem amerikanische Hedge-Fund-Milliardär Robert Mercer gehörte -, an Diskussionen zwischen seiner Firma und den Anführern von Leave.EU, einer weit rechts stehenden Organisation, teilnahm."

Im Tagesspiegel erzählt der irgendwo im Ausland lebende Uigure Ilham Lutfi von der Verfolgung der Uiguren durch die chinesischen Behörden am Beispiel seiner Familie: "Ich stamme aus der Region Hotan im Süden von Xinjiang und bin das mittlere von fünf Kindern. Seit einem Jahr bemühe ich mich mit meinem älteren Bruder um einen türkischen Pass, weiß aber, dass er nur uns beiden zu etwas mehr Sicherheit verhelfen wird: Die Verfolgung von uns Uiguren macht nicht an der chinesischen Grenze halt. Sie beginnt mit Schikanen der Behörden, die einer meiner Schwestern drei Jahre lang die chinesische Meldebescheinigung, den hukou, verweigerten. Sie konnte keinen Ausweis beantragen und bekam infolgedessen keine Stelle. Die Verfolgung endet mit Inhaftierung, Bedrohung und Folter."
Archiv: Politik

Medien

Carole Cadwalladr, die für den Observer den Skandal um Cambridge Analytica aufdeckte und Verwicklungen zwischen der Trump-Kampagne und den Brexiteers untersucht, wurde  von dem prominenten BBC-Moderator in einem Tweet "verrückte Katzenlady" beleidigt. Das Tweet wurde zurückgezogen, die BBC thematisierte die Beleidigung, ließ Cadwalladr aber nicht zu Wort kommen: Dies Tweet, schreibt Cadwalladr, "hat eine ganze neue Welle aus Hass auf meinen Laptop gespült. Denn eine 'verrückte Katzenlady' ist nicht einfach eine tierliebe Person mit starken Meinungen, sondern eine Frau, die außerhalb der guten Gesellschaft steht. Die nicht den üblichen Normen folgt. Die man vor ein paar hundert Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Ich bin eine Frau in mittleren Jahren ohne Kinder. So ist es nun mal. Ich verkörpere eine der letzten Kategorien zugelassener Vorurteile, die Schlampe über dreißig."
Archiv: Medien

Gesellschaft

In Wien werden derzeit die Namensschilder an den Wohnungen der Baugenossenschaften durch Nummern ersetzt. In der SZ kann Karl-Markus Gauß zwar den Wunsch nach Anonymität in der Großstadt verstehen, aber etwas traurig macht es ihn doch: "Ich kann mir vielerlei Fälle vorstellen, bei denen das für bestimmte Mieterinnen und Mieter einen Schutz bedeutet. Aber mir gefällt die Vorstellung trotzdem nicht, durch ganze Stadtviertel der Namenlosen zu gehen. Man könnte glauben, die Zivilisation würde sich erst in der Anonymität vollenden!
Archiv: Gesellschaft