9punkt - Die Debattenrundschau

Herzlandnarrativ

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2018. Bei politicalcritique.com schildert Agnes Heller, wie die "Refeudalisierung" die Machtverhältnisse zwischen Politik und Ökonomie auf den Kopf stellt. Und Orbans Ungarn ist das Beispiel. Die Welt hofft auf einen "virtuellen Euromaidan" für Oleg Senzow. Für den Guardian zeigt der Brückenkollaps von Genua ein tiefes italienisches Problem auf. Im Standard erklärt Armin Nassehi, was das Rechte ist, das in einer sozialdemokratisierten Politik immer schon vorausgesetzt wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.08.2018 finden Sie hier

Europa

(Via piqd) Ein Interview mit der 89-jährigen Philosophin Agnes Heller hat für viel Ärger bei der ungarischen Regierung gesorgt, schreibt Keno Verseck auf piqd. Es handelt sich um ein Gespräch, das Jan Smolenski für politicalcritique.com mit Heller geführt hat. Sie lehnt darin den Begriff des Populismus als Beschreibung des Orban-Regimes ab und spricht stattdessen von Tyrannei. Die von Orban geschaffenen Machtverhältnisse hätten eine neue Qualität: "Traditionelle Korruption besteht darin, dass reiche Menschen den einen oder anderen Politiker korrumpieren, sie kaufen einen Politiker, um ihren wirtschaftlichen Interessen zu dienen. Bei der Refeudalisierung ist das Gegenteil der Fall. Insbesondere die Herrscher von Fidesz und Orban schaffen ihre eigene Oligarchie, und die Oligarchie hängt von der Politik ab und nicht die Politik von der Oligarchie."

Für die FAS berichtet Lydia Rosenfelder über die (leicht saure) Reaktion der Linkspartei auf Sahra Wagenknechts "Sammlungsbewegung" "Aufstehen" und zitiert Benjamin Hoff, Kulturminister und Chef der Staatskanzlei in Thüringen, mit einem interessanten Argument zum Populismus: "Skeptisch sei er, wenn eine Organisation 'von oben nach unten durchstellt, was die aktuelle Position ist'. Und das passiere zwangsläufig, wenn eine charismatische Führungsfigur wie Wagenknecht zu stark im Fokus der Bewegung stehe. 'Dass endlich mal wieder das Volk gehört werden müsse, ist ein Narrativ, das hast du von Grillo bis Trump', sagt Hoff. 'Herzlandnarrativ heißt das in der Populismus-Theorie.' Populisten zeichneten das Bild von einem Heartland, einem idealen Herzland, das von Eliten bedroht werde. Die Eliten wollten das Herzland feindlichen Kräften ausliefern. In dieser rhetorischen Figur unterschieden sich linke und rechte Populisten nicht, sagt Hoff."

Von enormer Unterstützung in der Ukraine für den sich immer noch im Hungerstreik befindenden, inhaftierten Regisseur Oleg Senzow berichtet in der Welt Dima Lewitzki. Wie ein "virtueller Euromaidan" erscheinen ihm die zahlreichen Facebook-Postings der Unterstützer. Außerdem schreibt er: "Es gibt diejenigen unter den Ukrainern, vor allem die Angehörigen der politischen Gefangenen, die mit der Art und Weise, wie die Verhandlungen für die Freilassung durch den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko geführt werden, unglücklich sind. Ihrer Meinung nach sind die Anstrengungen unzureichend. Von Zeit zu Zeit werden vor dem Regierungsgebäude des Präsidenten der Ukraine Mahnwachen mit der Forderung, den Druck auf Russland zu erhöhen, abgehalten. Viele glauben, dass Mahnwachen vor der russischen Botschaft in der Ukraine abzuhalten sinnlos ist, weil überhaupt niemandzu den Protestierenden rausgeht. Die Botschaft sieht jetzt eher wie ein belagerter Bunker aus."ach acht Jahren läuft das dritte Hilfspaket der Europäischen Union für Griechenland aus, eine Zäsur. So leicht ist die Krise in Griechenland gar nicht zu sehen, und doch omnipräsent, schreibt Richard Fraunberger in der FAZ: "Hier und da säumen leerstehende Geschäftsräume die Straßen mancher Kleinstädte. Auch in der Provinz platzte die Blase: zu viele Läden, zu viele Neubauten, zu viele Geschäftsideen, die nicht aufgehen konnten. Jeder wollte sein eigener Herr sein, ein Café, ein Restaurant, eine Boutique haben, aber nicht jeder weiß, wie Buchhaltung funktioniert und wie man Kosten und Risiken richtig kalkuliert. Jetzt herrscht Friedhofsstille. Die meisten Familiengeschäfte überleben gerade so."

Tiefschürfend, fast literarisch liest sich Tobias Jones' kleiner Guardian-Essay über den Brückenkollaps in Genua, der ein tiefes italienisches Problem zu Tage treten lasse: "Obwohl Italien sehr gute Bauingenieure hervorgebracht hat, bekommen sie kaum Aufträge, wenn sie nicht zur Meritokratie gehören. Verträge gehen nicht an die Kompetentesten, sondern an die mit den besten Beziehungen. Schon vor dem Baubeginn der Brücke von war eine andere Brücke des Architekten Riccardo Morandi in Venezuela teilweise eingestürzt. Dass er weitere Dutzende Brücken (zwei davon geschlossen, eine abgerissen, die andere gefährdet) gebaut hat, ist pervers. Der Nachteil der Meritokratie ist heute genauso spürbar wie in den Sechzigern: Allzuviele der besten Ärzte, Wissenschaftler und Finanzleute sind emigriert. Italien wird nicht nur durch die Ankunft von Einwanderern, sondern auch durch die Abwanderung der eigenen Bevölkerung geprägt."
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Internet

In der SZ fordert der IT-Experte Nikolas Guggenberger eine Umweltsteuer und eine Art Emissionshandel für Facebook, Google und Co., um die kommerzielle Verwertung von Aufmerksamkeit zu begrenzen. Denn: "Mit der individuellen Aufmerksamkeit ist auch die kollektive Aufmerksamkeit begrenzt. Ohne ein Mindestmaß frei verfügbarer kollektiver Aufmerksamkeit funktioniert die demokratische Gesellschaft wiederum nicht. Die kollektive Aufmerksamkeit ist dabei Gegenstand der Tragik der Allmende: Weil die Aufmerksamkeit frei beziehungsweise zu günstig verfügbar ist, droht sie ausgeplündert zu werden, bis nichts mehr da ist und das demokratische System kollabiert. Die unregulierte Möglichkeit kommerzieller Aufmerksamkeitsausbeutung bedroht den nachhaltigen Aufmerksamkeitsbestand und schafft ökonomische Anreize zur Polarisierung der Gesellschaft."
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Ideen

Recht vertrackt wird es, wenn der Soziologe Armin Nassehi im Standard mit Ronald Pohl über "Links" und "Rechts", das Problem mit den offenen Gesellschaften, der Migration und dem Sozialstaat spricht: "Ich will als Soziologe beschreiben, dass eine sozialdemokratische Interventionspolitik, wie wir sie kennen, das 'rechte' Problem der Zugehörigkeit quasi unsichtbar schon als gelöst voraussetzt." Und: "Häufig genug ähnelt die Kapitalismuskritik vieler Linker einem 'Posing': zu glauben, dass man den Kapitalismus überwindet, wenn man in der Lage ist, die Staatstätigkeit zu erhöhen. Damit setzt man die Struktur wieder voraus, die vorher dazu geführt hat, dass man die Bändigung des Kapitalismus durch sozialdemokratische Politik im nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr voraussetzen kann."

Wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen res und pragmata, also zwischen den Dingen, auf die man sich bezieht und den Dingen, die man tut, schreibt der Kulturtheoretiker Jan Söffner in der NZZ. Denn der postmoderne Grundsatz, Beliebigkeit immer nur im Reich der Realität durchzuspielen, nicht aber in der Praxis, werde in der "Politik des Postfaktischen" außer Kraft gesetzt: "Die Dinge, auf die man sich bezieht - die Fakten -, sind gar nicht der maßgebliche Austragungsort dieser Politik. Davon zeugt nicht zuletzt die Beobachtung, welche Effizienz sie darin entwickelt hat, die politisch korrekte Haltung und damit das pragmatische Erbe der Postmoderne als 'unrealistisch' zu brandmarken. Dabei hatte es sich ja nie um eine realistische Rede gehalten - sondern um eine pragmatische: eine, die nicht sagen wollte, wie die Dinge sind, sondern eine, die erreichen wollte, dass sie eines Tages so würden."
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Gesellschaft

Am Samstag fand nach den Ruhrtriennalen-Streitigkeiten um Stefanie Carp (Unser Resümee) nun eine Podiumsdiskussion in Anwesenheit unter anderem von Carp, NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, Schorsch Kamerun und dem BDS-Aktivisten Udi Aloni statt. Für die Welt berichtet Christine Hoffmans von der Diskussion, in der wesentliche Fragen, etwa zu den Beweggründen des BDS umgangen wurden und Carp auf die Frage, ob sie einen Fehler begangen habe, antwortete: "Die Young Fathers ausgeladen zu haben. Außerdem fragte sie, ob sie künftig nur noch Künstler einladen dürfe, die mit dem 'Wording' der Bundesrepublik einverstanden seien." In der SZ berichtet Martin Krumbholz von der Diskussion.

Sie habe erst in diesem Jahr vom BDS gehört, so Carp, schreibt Patrick Bahners in der FAZ kopschüttelnd. Außerdem erlebt er bei der lautstarken Diskussion, wie sehr das Thema auch zu innerjüdischen Auseinandersetzungen führt: "Das New Yorker Kapitel von BDS, sagt Aloni, sei identisch mit der Gruppe Jewish Voice for Peace. 'Von Deutschen lasse ich mir nicht sagen, was ich als Jude zu tun habe!' Lammert weist diesen Vorwurf zurück: Das habe auf dem Podium niemand getan. Aber Aloni bezieht sich auf den Bundestag: Die Verurteilung von BDS als antisemitisch trifft auch die jüdischen Unterstützer. Nun gibt es auch jüdische Antisemiten. Es gibt zur Erklärung des Phänomens sogar einen Topos: den jüdischen Selbsthass." Müsste der Umherschluss dann also lauten: Wenn sogar Juden für Israelboykott sind, muss wohl was dran sein?
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