9punkt - Die Debattenrundschau

Ausgerechnet die Krebse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2018. Oleg Senzow ist dem Tode nahe - der Tagesspiegel berichtet über eine Petition von Filmemachern für den ukrainischen Regisseur.  Auch der Guardian berichtet jetzt über die Frage, ob  Jeremy Corbyn im Jahr 2014  bei einem Tunis-Besuch einen Kranz am Grab der Attentäter von München 1972 abgelegt hat. In der Berliner Zeitung fragt Götz Aly: Wie lange ist jemand ein Flüchtling? Wer über die "Krise des Lesens" spricht, zählt die Selfpublishing-Szene meist gar nicht mit, beobachtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.08.2018 finden Sie hier

Europa

Nach drei Monaten Hungerstreik ist der in einem russischen Lager inhaftierte ukrainische Filmemacher Oleg Senzow dem Tode nahe, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Seine Schwester (anderen Quellen zufolge seine Kusine) Natalia Kaplan nannte seine Lage 'katastrophal schlecht'. Senzow, der 40 Kilo abgenommen hat, stehe kaum noch auf. Auch bekomme er keine Briefe, der Inhaftierte wisse nicht, ob überhaupt noch jemand nach ihm fragt, lebe in einem Informationsvakuum." Derweil haben "erneut rund 120 überwiegend europäische Filmschaffende, Regisseure und Schauspieler, die Freilassung Senzows gefordert, nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Fall letzten Freitag im Telefonat mit Putin thematisierte. Macron bat, 'dringend eine humanitäre Lösung zu finden', der russische Präsident soll zugesichert haben, darauf zu antworten. Es müsse nun schnell gehandelt werden, heißt es in der Petition, die die Zeitung Le Monde am Montag veröffentlichte."

Vor zehn Jahren besetzte Russland Südossetien und Abchasien, nach einem Versuch Georgiens, die Region durch Besetzung zu sichern. Barbara Oertel schildert in der taz die heutige Lage: "Heute, zehn Jahre danach, ist das Erbe dieser Ereignisse, die weite Teile der georgischen Gesellschaft nachhaltig traumatisiert haben, allerorten spürbar. Zwanzig Prozent seines Territoriums... hat Georgien, das mit einer Größe von 69.700 Quadratkilometern etwas kleiner als Bayern ist, auf unabsehbare Zeit verloren. Armselige, provisorische Flüchtlingsunterkünfte in Georgien sind zu Dauereinrichtungen geworden."

Berechtigte Kritik an linker Hypermoral, besonders in der Flüchtlings- und Rassismusdebatte, dürfen nicht dazu führen, im Namen einer angeblich überlegenen Rationalität moralische Grundsätze fallen zu lassen, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Welt. Empathie gehöre zu den Ideen, ohne die Demokratie nicht denkbar sei: "Heute droht diese Fähigkeit schleichend abgetötet zu werden, weil angesichts von 'Flüchtlingsströmen' viele nicht mehr zwischen Einzelschicksalen differenzieren können oder wollen. Das aber führt auf die schiefe Bahn der Dehumanisierung bestimmter Menschengruppen, die man am Ende nur noch um jeden Preis loswerden will. Einwanderung zu steuern und zu begrenzen  ist ein Gebot politischer Vernunft. Zu dieser gehört aber auch, sich universaler moralischer Verantwortung bewusst zu sein."

Nun sieht sich auch der Guardian veranlasst, über diese peinliche Geschichte zu berichten, die gestern von der Daily Mail aufgebracht wurde. Kann es tatsächlich sein, dass Jeremy Corbyn im Jahr 2014 (also bevor er Labour-Vorsitzender wurde) bei einem Tunis-Besuch einen Kranz am Grab der Attentäter von München 1972 abgelegt hat? Er habe eigentlich der Palästinenser gedacht, die 1985 bei einem israelischen Angriff auf die PLO in Tunis ums Leben gekommen seien, heißt es offiziell - nur befindet sich deren Grab nicht dort, wo Corbyn mit dem Kranz aufgenommen wurde!

Daraus ergab sich ein hübscher Tweet-Wechsel zwischen Benjamin Netanjahu und Corbyn, in dem Corbyn übrigens Netanjahus Behauptung nicht widerspricht:

Corbyn dementierte die Kranz-Geschichte mit dem hinreißend butterweichen Satz: "Ich war anwesend, als er niedergelegt wurde. Ich denke nicht, dass ich dabei mitgemacht habe." Der Satz wurde zum Meme: Die Irish Times dokumentiert einige der hübschesten Variationen bei Twitter.
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Gesellschaft

Der Gesetzgeber verhält sich gegenüber psychisch Kranken unverantwortlich, konstatiert Oliver Tolmein in der FAZ und zitiert ein Menge Beispiele, in denen Länder gezwungen waren, Zwangsmaßnahmen gegen Kranke (wie etwa das Fixieren auf dem Bett) einen gesetzlichen Rahmen zugeben. Es kann aber nicht ausreichen, nur auf Gerichtsurteile zu reagieren, "statt die Gesetze umfassend zu überprüfen", so Tolmein. Dies sei auch "deshalb ärgerlich, weil es die Gewaltenteilung unterläuft: In erster Linie ist es Aufgabe der Politik, Gesetze zu normieren, nicht der Justiz, deren Inhalt vorzugeben. Nur die Politik kann hier kreative Initiativen entwickeln, Mittel bereitstellen und eine gesellschaftliche Diskussion anstoßen."
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Stichwörter: Psychiatrie, Gewaltenteilung

Politik

In der Berliner Zeitung fragt sich Götz Aly, wann jemand Flüchtlingsstatus haben muss und wann das kontraproduktiv ist. Palästinenser erben diesen Status, aber ist das hilfreich für die Lösung eines schwelenden Konflikts? Dass Jared Kushner, Schwiegersohn und Nahost-Beauftragter von Donald Trump jetzt die Zahlungen an das 1949 speziell für Palästinenser geschaffene Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) kräftig gekürzt hat, findet Aly jedenfalls nicht unplausibel: "Das allgemeine Flüchtlingshilfswerk der Uno (UNHCR), das in über hundert Staaten für Abermillionen Flüchtlinge sorgt, verfügt vergleichsweise über sehr viel geringere Mittel pro Flüchtling. Hier stimmt vieles nicht. Die Subsidien, die an die palästinensisch dirigierte UN-Organisation UNRWA fließen, stabilisieren das Leben vieler, aber auch den politischen Stillstand. ... Sie zementiert einen Zustand, der nicht zementiert werden sollte."

Für die FAZ spricht Simon Strauß mit der syrischen Frauenrechtlerin Rasha Corti, die sich recht freundlich über Assad, noch viel freundlicher über Russland, aber kritisch zum Kopftuch äußert, und die Flüchtlinge aufruft, nach Syrien zurückzukehren: "Wenn ich mit Geflüchteten spreche, dann sage ich immer: Geh an die Uni, studiere und arbeite. Und dann kehre baldmöglichst nach Syrien zurück. Das Land wird diese Leute brauchen. Meine große Hoffnung besteht darin, dass diejenigen, die jetzt nach Europa geflüchtet sind, nach Syrien zurückkehren mit all den Fähigkeiten, die sie hier erworben haben."
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Kulturmarkt

Es gibt immer weniger Buchkäufer, warnte der Börsenverein des deutschen Buchhandels vor kurzem. Das stimmt nicht ganz, erklärt Bernd Graff heute im Aufmacher des SZ-Feuilletons. Nicht mitgezählt wurden vom Börsenverein die Käufer von Self-Publishing-Titeln: "2017 schüttete Amazon 220 Millionen US-Dollar an Tantiemen für seine Autoren aus, fast eine Viertelmilliarde, im Juni 2018 allein waren es 22 Millionen." Für die Autoren ist das Self Publishing inzwischen äußerst verlockend. Eine Umfrage des "Deutschen Selfpublisher-Verbandes" vom Juli 2018 ergab laut Graff, dass an die 40 Prozent der Verfasser "mit Werken aus dem Eigenverlag mehr verdienen als in der Obhut von Verlagen, über 80 Prozent erklärten, sie würden sich ja wirklich gern auf Verlage einlassen, wenn die Bedingungen, kurz: das Geld stimmen würde. Die Amazon-Bindung sieht branchenführende Autoren-Tantiemen von bis zu 70 Prozent für eBooks vor und bis zu 60 Prozent für Taschenbücher, falls die Ebooks doch irgendwann mal gedruckt werden sollten. Das kann kein Verlag bieten." Die Käufer wiederum lieben die Tatsache, dass diese Bücher keiner Buchpreisbindung unterliegen und sehr viel günstiger sind als die Ebooks der Verlage.
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Internet

Nutzen Sie RSS-Feed!, ruft Simon Hurtz bei sueddeutsche.de, erklärt noch einmal geduldig, warum es eine gute Ergänzung zu Facebook ist, wenn man sich den Feed von Medien und Bloggern in Feedreadern selbst zusammenstellt (ganz einfach!) Und er glaubt an die Zukunft von RSS, das gewissermaßen ein Kommunikationsstandard im Netz ist. Dass Mozilla den eingebauten RSS-Reader in Firefox abgeschafft hat, ist für ihn darum keine Katastrophe. Keiner seine Freunde habe dieses Angebot je genutzt: "Stattdessen verwenden sie spezialisierte Dienste wie Feedly, Inoreader oder The Old Reader, die eigene Apps und Webseiten dafür anbieten. Im Frühjahr stellte die Wired die drei Unternehmen vor und sprach mit den Gründern. Uns geht es prächtig, sagten sie, wir wachsen. "
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Stichwörter: RSS, RSS-Reader

Medien

Vorzeichen eine fernen Zukunft, nachdem gestern berichtet wurde, dass die taz erwägt, Print abzuschaffen? Der Print-Spiegel und Spiegel online werden zumindest gesellschaftsrechtlich vereint, berichtet Maria Gramsch bei turi2: "Geschäftsführer Thomas Hass gliedert die Digitaleinheit der Spiegel Online GmbH gesellschaftsrechtlich an den Printverlag an und ändert die Rechtsform. Aus der Spiegel Online GmbH wird die Spiegel Online GmbH & Co. KG. An der Ungleichbehandlung von privilegierten Print-Redakteuren und den schlechter gestellten Onlinern ändert sich dagegen vorerst nichts."
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Stichwörter: Spiegel Online, Der Spiegel

Überwachung

Im Gespräch mit Meike Laaf in der taz begründet der investigative Sportjournalist Hajo Seppelt (der durch seine Berichterstattung über Doping bekannt wurde), warum er sich gegen das neue Staatstrojaner-Gesetz der Bundesregierung einsetzt. Er wolle nicht, "dass der deutsche Staat womöglich der Versuchung unterliegt, etwas zu tun, was der russische Staat schon die ganze Zeit tut - im Berichterstattungsgebiet, in dem auch ich unterwegs bin, oder auf anderen Feldern -, nämlich vertrauliche Kommunikationswege zu infiltrieren."
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Stichwörter: Staatstrojaner

Kulturpolitik

Russischen Städten soll das Sowjetische ausgetrieben werden, ein neues Design muss her, berichtet Inna Hartwich in der NZZ. Doch: "Beim Überwinden des Postsowjetischen offenbart sich das sowjetische Prinzip. Es ist die Staatsmacht, die bestimmt, was gut für das Volk ist. Sind die noch unter Chruschtschow gebauten Plattenbauten für die Stadt nicht mehr tragbar, fährt Moskau ein gigantisches Abrissprogramm auf und nennt es 'Renovation': Zehntausende solcher kastenförmiger Gebäude aus den 1960er Jahren werden so Jahr für Jahr abgerissen, den Menschen verspricht man komfortablere Wohnungen - natürlich eher am Stadtrand. Klagen werden zwar gehört, aber nicht berücksichtigt."
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Stichwörter: Russland, Stadtplanung

Ideen

Den Soziologen Michael Hartmann wundert es nicht, dass der Populismus in Deutschland immer stärker wird, denn vor allem die politischen Eliten (die wirtschaftliche war schon immer abgekoppelt) haben sich seit der rot-grünen Regierung 1998 immer weiter vom Durchschnitt der Bevölkerung entfernt. In der SPD etwa gebe es immer weniger Arbeiter, erklärt Hartmann im Interview mit der SZ: "Was die SPD angeht, müsste man eigentlich einen großen Teil des Spitzenpersonals austauschen, weil die alle mit der Politik der letzten zwanzig Jahre verbandelt sind. Die Partei müsste sich wie Labour in Großbritannien von unten erneuern. Man könnte auch darüber nachdenken, ob Parteien nicht ganz grundsätzlich ähnlich wie Frauenquoten Arbeiterkinderquoten einführen sollten. Das wäre im Übrigen in allen gesellschaftlichen Eliten begrüßenswert - also etwa auch in Wirtschaft, Wissenschaft und in den Medien."

Hedwig Richter, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung, kann das Jammern über die Fehler oder den Niedergang der Demokratie nicht mehr hören: Demokratie war weltweit noch nie so erfolgreich wie heute, schreibt sie in der SZ. "Gab es in den Zwanzigerjahren rund 30 Länder mit demokratischer Herrschaft, so waren es 1989 knapp 70 und 1995 schon 115, während es heute mehr als 120 sind. Noch nie lebten so viele Menschen in Demokratien wie in diesem Jahrtausend - sowohl absolut als auch prozentual. Nur Zyniker können darüber hinwegsehen, welch ein Gewinn das für die Bevölkerungen bedeutet."

In Amerika ist der kanadische Psychologe Jordan Peterson längst ein Phänomen und charismatischer Tröster für alle, die den neuen Gender-Sprech verabscheuen (unsere Resümees). Die Soziologin Hella Tietz versucht, dies Phänomen in Zeit online zu fassen zu bekommen: "Wofür genau steht Jordan B. Peterson? Und was fasziniert seine Follower an ihm?" Sie setzt sich gründlich mit seinen Artikeln und Vorträgen auseinander. Eines seiner Erfolgsrezepte sei, dass er seine Beispiele aus der Evolution für seine Theorien über Mann und Frau völlig willkürlich herbeizitiere. Warum zum Beispiel Krebse? Damit schaffe er es zwar, "auf unterhaltsame Weise den Mechanismus wie auch die Frustration in der männlichen, auf Fortpflanzung ausgerichteten Dominanzhierarchie illustrieren. Doch versucht Peterson nicht einmal zu begründen, warum ausgerechnet die Krebse das noch heute für Menschen gültige Modell (und nicht etwa eine auf spezifische Umweltherausforderungen reagierende Abweichung) darstellen sollten."
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