Efeu - Die Kulturrundschau

Die verliebten Grauenvollen

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14.08.2018. Alles Schöne und Schreckliche findet die SZ in Jan Lauwers Salzburger "Krönung der Poppea". Die FAZ dagegen fragt: Ist das noch Performance oder schon Dekoration? Es wird wieder mit Holz gebaut, freut sich die FR. In der taz fragt die Macherin des Berliner Popkultur-Festivals,  Katja Lucker, warum eigentlich Clubkultur weggentrifiziert werden darf. Bei der Oper traut man sich das doch auch nicht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.08.2018 finden Sie hier

Bühne

Jan Lauwers' "L'incoronazione di Poppea" 2018. Foto: Salzburger Festspiele / Maarten Vanden Abeele


SZ-Kritiker Egbert Tholl ist ein Fan des belgischen Theatermachers Jan Lauwers, der mit seiner Needcompany immer grandiose Panoramen über alles Schöne und Schreckliche im Menschen entwarf. Für seine Inszenierung von Monteverdis "Krönung der Poppea" in Salzburg hat er mit der Experimental Academy of Dance gearbeitet, und Tholl ist begeistert: "Singen zwei von Liebe, haben sich verschiedene Tanzpaare lieb; wird Drusilla Folter angedroht, spielen Tänzerinnen und Tänzer Folter und Mord mit viel Bühnenblut. Verabschiedet sich Ottavia von Rom in die Verbannung, wird eine Tänzerin wie eine Stele des Leids emporgehoben. Bettet sich Poppea, beschützt von Amor, zur Ruh, versammeln sich die Tänzer zu einem Idylle verheißenden Tableau vivant, erinnernd an das Cover einer Jimi Hendrix Platte. All dies ist nie rein illustrativ, sondern folgt eigenen Regeln, die man nicht immer durchschaut."

Im Standard sah Ljubisa Tosic zwar viel opulent aufgepeppten Opernminimalismus, aber auch tolle Metamorphosen und tolle Bilder Lauwers': "Die verliebten Grauenvollen, Nerone und Poppea, lässt er auf einer Schräge über ein Fresko mit Menschenkörpern turteln." In der NZZ ist Michael Stallknecht nicht überzeugt von Lauwers demokratischer Aufführungspraxis: "Wo kein Regisseur die Sänger fordert, wächst niemand wirklich über sich hinaus." Auch in der FAZ erkennt Jan Brachmann nur in Ansätzen Deutung oder Interpretation: "Der Rest ist 'Performance', wie ein modisches Synonym für 'Dekoration' lautet."

Weiteres: In der taz berichtet Benjamin Trilling vom Beginn der Ruhrtriennale mit William Kentridges Spektakel "The Head and the Load". Wiebke Hüster resümiert in der FAZ recht missmutig die drei Choreografien zu Beethovens "Großer Fuge", mit denen das Ballett der Lyoner Oper den Tanz im August in Berlin eröffnete. Im Tagesspiegel reklamiert Ralf Stabel, Leiters der Staatlichen Ballettschule Berlin, für den Tanz eine Berücksichtigung bei der Neuausrichtung der Volksbühne.

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Architektur

Patch 22. Foto: Frantzen et al achitecten
Es wird wieder mit Holz gebaut, stellt Robert Kaltenbrenner in der FR fest. Vorreiter ist Berlin, aber auch in Hamburg gibt es ein Woodie. Denn Holz ist ein ressourcenschonender, flexibler und mitdenkender Baustoff: "Das Amsterdamer Wohnhaus Patch 22 von Frantzen et al architecten ist ein anderes, nicht minder beredtes Beispiel. Selbstbewusst und mit Witz stapelten die Architekten die sechs Wohngeschosse leicht versetzt übereinander. Das Ganze packten sie wiederum auf ein sechs Meter hohes, voll verglastes Erdgeschoss mit Gewerbenutzung. Beim Brandschutz. geht der Bau einen geradezu primitiven, aber effektiven Weg. Alle tragenden Teile wurden einfach so dick dimensioniert, dass das Holz im Brandfall zwei Stunden brennen würde."
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Stichwörter: Holzarchitektur

Kunst

taz-Kritiker Ingo Arend besucht die Globale Akademie der Salzburger Sommerschule.

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Anna Boghiguian im Salzburger Museums der Moderne, die Handels, auf Kolonialismus, Sklaverei und Ausbeutung auf verschiedenen Ebenen miteinandern verwebt (Standard), eine Schau der Malerin Charline von Heyls in den Hamburger Deichtorhallen (Welt) und eine Ausstellung des Malers Manfred Henkel in der Guardini Galerie (Tagesspiegel).
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Musik

Das Berliner Popkultur-Festival ist fast schon im Berliner Kulturleben verankert. Das anfangs wegen seiner Staatsfinanzierung belächelte Festival ist angekommen und angenommen, schreibt Steffen Greiner in der taz. "Wir wollen popkulturelle Themen auf die Ebene hieven, wo die Hochkultur steht", zitiert Greiner Kuratorin Katja Lucker: "Niemand würde auf die Idee kommen, ein Opernhaus wegzugentrifizieren. Aber Clubkultur wird ohne Not bedroht." Diesen Schutz wolle das Festival einfordern. Greiners Fazit: "Es sind merkwürdige Zeiten, wenn die veranstaltende Popbehörde, das Musicboard Berlin, noch einer der stabilsten Anker einer linken Subkultur ist, die sich zunehmend ihrer selbst unsicher wird."

Besprochen werden das neue Album von Me + Marie (SZ), der Chor-Abend "Stimmen im Kraftwerk Berlin" an eben jenem Ort (taz), Chris Watsons Field-Recordings-Album "Locations, Processed" (Pitchfork), das Konzert des Nationalen Jugendorchesters Rumäniens bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), das Konzert des Youth Chamber Orchestras St. Petersburg bei Young Euro Classic (Tagesspiegel), Justin Timberlakes Auftritt in Berlin (Tagesspiegel) und neue Re-Issues, darunter die ersten Alben von Teenage Fanclub (SZ, Pitchfork). Eine hübsche Erinnerung an den verschlufften Indie-Rock der 90er:

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Literatur

Die Zeit, als Judith Herrmann empfindsame Mittelschichtskinder mit offenen Beziehungsfragen und Massive Attack Auto fahren ließ, ist auch schon wieder zwanzig Jahre her, fällt SZ-Kritikerin Marie Schmidt auf. Die Antwort auf die Frage, wie es um diese Form Literatur heute steht, will Schmidt an zwei Neuerscheinungen ermitteln: Dirk von Petersdorffs "Wie bin ich denn hierhergekommen" und "Gefährten" der dänischen Autorin Christina Hesselholdt, Romane, in denen noch immer Beziehungsfragen in eher wattierteren Lebensumständen gewälzt werden: "Ausweislich dieser beiden Romane hat das beflissene Bewusstsein der Kulturmenschen für die Konfliktträchtigkeit und Verschiedenheit der Welt am 'Wie unter Wasser'-Lebensgefühl nichts grundsätzlich geändert. Die Käseglocke des westlichen Selbstgefühls hat sich nicht gehoben, es staut sich jetzt aber schlechtes Gewissen darunter an, ein schlimmer Verdacht gegen das eigene Wohlergehen. So etwas kann sich schlimmstenfalls zu Verlustängsten auswachsen."

Weitere Artikel: Für The Quietus spricht Robert Bright ausführlich mit dem Schriftsteller John Burnside unter anderem über dessen Arbeitsweise, kindlich-romantische paganistische Sichtweisen und die Magie der Sprache. In der FAZ perspektiviert Karl Heinz Götze die französischen Cevennen als Sehnsuchtsort der deutschen Literatur, unter anderen bei Ludwig Tieck, Moritz Hartmann und Gertrud von Le Fort. Thomas Urban schreibt in der SZ zum Tod des Schriftstellers Witali Schentalinski.

Besprochen werden die Wiederveröffentlichung von James Baldwins "Beale Street Blues" (ZeitOnline), Christoph Heins "Verwirrnis" (Berliner Zeitung), Taqi Akhlaqis Erzählband "Aus heiterem Himmel" (NZZ), Martina Hefters Gedichtband "Es könnte auch schön werden" (FR), Dietmar Krugs "Die Verwechslung" (Standard), der Briefwechsel 1938 bis 1971 zwischen Ernst Kreuder und Horst Lange (Tagesspiegel), Reiner Kunzes Gedichtband "die stunde mit dir selbst" (SZ) und Verena Roßbachers "Ich war Diener im Hause Hobbs" (FAZ).
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Film

Ein Blick zurück nach vorn, im wilden Galopp durch die frühe Filmtheorie, den sowjetischen Stummfilm, den Neuen Deutschen Film und Bündnisse mit Pop und Massenkultur: Im vom Perlentaucher dokumentierten Essay "Das Versprechen des Kinos" hält der Filmhistoriker Alexander Horwath Rückschau auf die "Utopie Film". Und heute? Digitalisierung und fortschreitender Publikumsschwund in den Kinosälen: "Man könnte von einer Zerstäubung des Films sprechen, die sich gleichzeitig anfühlt wie eine umfassende Ansteckung: eine epidemische Welteroberung von allem, was im weitesten Sinn Film evoziert.  ... Für viele ist das die Utopie Film in ihrer heutigen Gestalt. Sie hätte sich dann, wie andere Utopien auch, der Herrschsucht des gerade Neuen in der Gegenwart gefügt, um endlich aus dem Schatten ins Licht zu treten. Sie hätte das Versprechen, das vom Kino gegeben worden ist, auf diese Weise eingelöst und dabei natürlich zu einem Gutteil verraten. Es erscheint dumm oder sinnlos, dies kulturkonservativ zu beweinen (so wie es derzeit, in ihrem Feld, viele Vertreter/innen der 'Buchkultur' und des Buchhandels tun). Stattdessen spricht einiges dafür, Siegfried Kracauers 'kleinen Messianismus des Wartens' (Karin Harrasser) zum Vorbild zu nehmen und weiterhin - im Hinblick aufs Filmische wie auf alles andere auch - mögliche, noch verpuppte Zukünfte zu erkunden, darunter jene aus der Vergangenheit."

Weitere Artikel: Im Blog Eskalierende Träume rettet André Malberg die Ehre von Dario Argentos verfemtem "La Terza Madre" aus dem Jahr 2007. Fritz Göttler gratuliert Nicolas Roeg in der SZ zum 90. Geburtstag, den der Regisseur allerdings erst morgen feiert. Ebenfalls (und tatsächlich heute) 90 Jahre alt wird Lina Wertmüller, der Andreas Busche im Tagesspiegel gratuliert. In der FAZ erinnert sich Thomas Schadt an den verstorbenen NDR-Dokumentarfilmemacher Klaus Wildenhahn, dem auch der NDR heute Nacht eine kleine Werkschau bieten will. Auf New Filmkritik erinnert sich Werner Sudendorf an den Filmhistoriker Enno Patalas.

Besprochen werden Jakob Lass' "Sowas von da", in dem es laut Lukas Stern in der Berliner Zeitung um "Koksen und Kotzen und Krebs" geht, Jon Turteltaubs Monsterfilm "The Meg" (SZ, unsere Kritik hier) und Eran Riklis' israelischer Agententhriller "Aus nächster Distanz" (Welt).
Archiv: Film