9punkt - Die Debattenrundschau

Auf den Prüfstand

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2018. Was ist gegen "migrantischen Antisemitismus" zu tun, gibt es ihn überhaupt, und werden Angriffe auf Muslime auch ausreichend wahrgenommen, fragen die Medien nach der antisemitischen Attacke in Berlin. Die NZZ greift einen amerikanischen Streit um den Genetiker David Reich auf, der behauptet, dass es genetische Unterschiede zwischen Ethnien gibt. Die ARD will nicht mehr sparen, berichtet die taz. Ebenfalls in der taz: die bange Frage, was wäre, wenn es in Facebook Meinungsfreiheit gibt, auch für Trolle? Und in der SZ nimmt der Archäologe Markus Hilgert die Argumente des IS zur kolonialen Konstruktion der Vergangenheit auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.04.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Interview mit Katharina Schmidt-Hirschfelder (Jüdische Allgemeine) denkt der Historiker Yehuda Bauer darüber nach, wie gegen radikal-islamischen Antisemitismus in Europa vorgegangen werden könnte: "Die einzige Möglichkeit, islamistischen Antisemitismus zu bekämpfen, ist, sich mit dem nichtradikalen, antiradikalen Islam zu verbünden. Und er existiert. Hunderte Millionen Muslime sind nicht antisemitisch."

Zu Recht gibt es einen Aufschrei angesichts der antisemitischen Angriffe in Deutschland, meint Malte Lehming im Tagesspiegel, aber: "Wo ist der Aufschrei, wenn muslimische Frauen in Deutschland wegen ihres Kopftuches attackiert und beschimpft werden, noch dazu in Begleitung ihres Kindes? Es gibt Dutzende solcher Fälle. Wo ist der Aufschrei, wenn Moscheen in Brand gesteckt werden? Wo ist der Aufschrei, wenn Flüchtlinge, die zum Christentum konvertiert sind, verprügelt werden? Und zuletzt: Ist es eigentlich gefährlicher, als Mann mit einer Kippa durch Berlin zu laufen oder als Frau mit einem Kopftuch?" In der SZ sieht es Matthias Dobrinski genauso.

Dieser "Whataboutism" hilft nicht weiter, meint hingegen Simon Strauss in der FAZ: "Wenn Menschen in Deutschland reflexhaft wegen religiöser Kleidung angegriffen werden, fordert das den ganzen gesellschaftlichen Ernst. Das heißt: Abstandnehmen von den üblichen Beschönigungen ('Die Täter sind selbst Opfer'), auf Distanz bleiben zu Erhöhungen der Tat ('Israel-Kritik') und Zurückhaltung gegenüber der Kultur ('Gangsta-Rap') als Ausrede für Diffamierung."

Andreas Rosenfelder verfolgte in Berlin eine Debatte nach den Chatham-House-Regeln (das heißt, die Diskussionspartner dürfen nicht benannt werden) zum Thema des "migrantischen Antisemitismus". Abgesehen von der befremdlichen Inszenierung der Debatte, scheint's aber interessant gewesen zu sein. Rosenfelders Kommentar zu dem beliebten Argument, dass Antisemitismus thematisiert werde, "Islamfeindlichkeit" aber nicht: "Antisemitismus, seit dem Mittelalter untrennbar mit Auslöschungsfantasien und Verschwörungstheorien verwoben, kann nicht einfach mit anderen Formen von Rassismus und Hass verrechnet werden."
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Ideen

Markus Schär greift im Aufmacher von NZZ Online (jedenfalls heute morgen) eine heikle Diskussion um den Genetiker David Reich und sein Buch "Who We Are and How We Got Here - Ancient DNA and the New Science of the Human Past" auf. Reich, so Schär, studiere eigentlich die DNA aus alten Knochenfunden, aber er kommt auch zu dem Ergebnis, dass es Unterschiede zwischen Populationen gebe, die nicht gesellschaftlich zu erklären seien, auch wenn er andererseits immer wieder betone, dass die Menschen heute quasi alle Ergebnis genetischer Mischungen seien. In Amerika habe Reich mit Fragen wie "Warum zum Beispiel findet  sich in allen Finalisten des 100-Meter-Laufs an den Olympischen Spielen seit 1980 das Erbgut aus Westafrika?" für Aufregung gesorgt. "In den letzten Jahren haben Studien gezeigt, dass es zwischen Populationen genetische Unterschiede gibt, die nicht nur die Hautfarbe bestimmen, sondern auch die Körpergröße, die Krankheitsanfälligkeit oder eben die Fähigkeit, schnell zu laufen."

Schär verweist auch auf zwei Artikel von Reich in der New York Times, in denen er sich erklärt (hier und hier) und eine Antwort von 67 Kollegen.
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Medien

Die ARD lässt es auf einen Konflikt ankommen und verweigert weitere Sparnaßnahmen, obwohl sie von maßgeblichen Politikern gefordert werden, berichtet Daniel Bohs in der taz. Der ARD Vorsitzende Ulrich Wilhelm hat gesagt, er könne kein weiteres Sparpaket vorlegen: "Wilhelm stützt sich stattdessen auf neue Zahlen seiner Medienforschung: 94 Prozent aller hiesigen NutzerInnen ab 14 Jahren griffen zumindest wöchentlich auf Angebote der ARD zurück. Täglich seien es 80 Prozent. Seine Botschaft ist eindeutig: Das Publikum wolle die ARD. Wenn die Politik darauf Rücksicht nehme, seien Kürzungen tabu."
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Internet

Nach dem NetzDG löscht Facebook von sich aus Beiträge, die ihm misslich erscheinen. Nutzer sprechen dann von "Zensur". Nur dass Facebook als privater Anbieter nicht der Meinungsfreiheit verpflichtet ist, erläutert Dinah Riese in der taz. Allerdings gibt es eine seltsame Dialektik: Facebook ist heutzutage eine Struktur der Öffentlichkeit - und da könnte es laut einem Urteil des  Bundesverfassungsgerichts am Ende doch sein, dass auch Facebook die Meinungsfreiheit ermöglichen muss: Falls aber "die Plattform der Meinungsfreiheit verpflichtet ist, heißt das auch, dass rechte Stimmen ihre Inhalte ohne Einschränkung durch eine Netiquette oder AGB verbreiten dürfen - wenn sie nicht den Rahmen des rechtlich Zulässigen übertreten. Björn Höckes Dresdner Hetzrede zum Berliner Holocaustmahnmal etwa - Sie erinnern sich, 'Denkmal der Schande' und die Forderung nach einer 'erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad' - erfüllt den Straftatbestand der Volksverhetzung in den Augen der Staatsanwaltschaft nicht und dürfte bleiben."

Außerdem: Bei politico.eu erläutern Mark Scott und Nancy Scola, dass Facebook sämtliche Regeln der neuen EU-Datenverschutzordnung, die sich der Konzern hier in teuren Zeitungsanzeigen zu eigen machte, außerhalb der EU nicht implementieren wird.
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Politik

An alle rechtspopulistischen und linkspopulistischen Unterstützer Baschar al-Assads schreibt Mehdi Hasan bei The Intercept: "Liebe Baschar-al-Assad-Apologeten - euer Held ist ein Kriegsverbrecher, selbst wenn er syrische Zivilisten nicht vergast haben sollte." Und zählt dankenswerter Weise noch einmal das Ausmaß der Verbrechen auf, die Assad in seiner Heimat mit Hilfe Wladimir Putins und der iranischen Geistlichen beging.
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Kulturpolitik

Der islamistische Kulturvandalismus im Nahen Osten dient nicht nur religiösen Fundamentalisten, das Zerstören archäologischer Kulturgüter ist vom IS auch zur Verteidigung gegen eine "nationalistische Agenda des Westens" stilisiert worden, schreibt Markus Hilgert, Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin, in der SZ. Die Argumentation des IS, die dem Westen die kolonialistische Konstruktion nationaler und kultureller Identitäten vorwirft, nimmt er gern auf: "Es wird deutlich, dass die Sprengung assyrischer Paläste und palmyrenischer Tempel in ein Narrativ eingebettet werden kann, das unseren bisherigen Umgang mit dem Kulturerbe anderer Gesellschaften auf den Prüfstand stellt und zugleich drängende Herausforderungen für die Zukunft aufzeigt. Wir werden uns fragen müssen, was wir auf welche Weise tun können, um Kulturerbe im Ausland zu schützen, ohne uns dem Vorwurf neokolonialer Bevormundung auszusetzen; noch konsequenter als bisher müssen wir eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber jenen Kulturgütern in unserem Land einüben, die als Ergebnis kolonialer oder imperialer Asymmetrien aus ihren Herkunftsgesellschaften entfernt wurden."
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