9punkt - Die Debattenrundschau

Via Style-Check-Funktion

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2018. Die taz interviewt die Historikerin Ruta Vanagaite, die in ihrem Buch "Musiskiai" (Die Unsrigen) die Beteiligung der Litauer am Holocaust nachweist - all ihre Bücher sind jetzt von ihrem litauischen Verlag zurückgezogen worden. Die SZ erläutert, wie staatliche Spionage-Software neuartige Geräte wie Amazons lauschenden Lautsprecher "Alexa" nutzt. Bei Zeit online fordert Cigdem Toprak ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14. Und in der FR erklärt die Juristin Ann-Katrin Kaufhold, dass ein systemrelevantes Bankinstitut niemals allein ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.04.2018 finden Sie hier

Geschichte

Die Autorin Ruta Vanagaite erzählt in ihrem Buch "Musiskiai" (Die Unsrigen) von der massiven Beteiligung der litauischen Zivilbevölkerung an der Ermordung der Juden des Landes. 200.000 Juden wurden zumeist erschossen. Litauer beteiligten sich auch am Holocaust in Weißrussland. Die Bücher der Autorin, die nur auf Litauisch erschienen sind, wurden jetzt sämtlich von ihrem Verlag zurückgezogen - nur weil sie unter anderem nachweist, dass der litauische Nationalheld Adolfas Ramanauskas KGB-Agent war. Ralf Leonhard führt mit der Autorin ein faszinierendes Interview für die taz, in dem sie darlegt, wie der Holocaust in Litauen organisiert wurde: "Die Litauer waren in erster Linie Bauern, während die städtische Bevölkerung bis zu 90 Prozent jüdisch war. Die Zivilregierung schuf dann Gettos und siedelte die Juden dorthin um. Die Initiative dafür kam natürlich von den Deutschen, aber die Ausführenden waren Litauer. Als die Deutschen kamen, planten sie den Blitzkrieg gegen Russland. Die Rote Armee zog sich aber gleich Richtung Osten aus Litauen zurück und die Wehrmacht folgte ihr. Es verblieben also nur zwischen 600 und 900 Deutsche im Land. Ganz wenige von ihnen beteiligten sich am litauischen Holocaust. In der Zivilregierung arbeiteten um die 30.000 Litauer und weitere 25.000 waren in Freiwilligenbataillonen organisiert." Der litauische Antisemitismus, so Vanagaite, war traditionell katholisch geprägt.

Der Aufstand im Warschauer Ghetto jährt sich zum 75. Mal. Ulrich Krökel beleuchtet das Ereignis in der FR vor dem Hintergrund der jüngsten nationalkatholischen Wende in Polen: "Waren die Juden im Warschauer Getto, die 1943 um ihrer Würde willen einen scheinbar sinnlosen, weil aussichtslosen Aufstand gegen die Nazis entfesselten, etwa keine Helden der polnischen Nation? Über den Versuchen, solche Fragen zu beantworten, liegt in Polen, dem Land der doppelten Opfer, oft ein abgründiges Unbehagen."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Es reicht, ruft Ulf Poschardt in der Welt nach einem neuerlichen antisemitischen Angriff durch einen Jugendlichen in Berlin: "Es braucht drastische Urteile gegen Gewalttäter wie den jungen Mann im Video. Die arabischen Jugendlichen, die so voller Wut auf Kippas und israelische Fahnen reagieren, haben diesem Land in der Regel wenig zu bieten außer ihren Hass, ihren Größenwahn und ihr tief komplexbeladenes Selbstbild, in dem Fremd- und Selbstwahrnehmung so weit auseinanderklaffen, dass mit der Erniedrigung anderer die eigenen bescheidenen Bildungs- und Karriereleistungen kompensiert werden sollen."

Der Fall ist allerdings auch ein Beleg für die hysterisierte Stimmung - denn der angegriffene Mann, stellt sich heraus, war nicht jüdisch, sondern trug die Kippa als Experiment. Er sei in Israel in einer arabischen Familie aufgewachsen, heißt es in einer Agenturmeldung unter anderem bei Spiegel online: "Ein Freund habe ihn gewarnt, man sei in Deutschland nicht sicher, wenn man eine Kippa trage. Das habe er nicht geglaubt, erklärte der junge Mann weiter. Drei Männer beleidigten ihn und seinen 24 -jährigen deutschen Begleiter, der ebenfalls eine Kippa trug, am Dienstagabend in Prenzlauer Berg. Einer der Männer schlug schließlich mit einem Gürtel auf den 21-Jährigen ein."

Weiteres: Der von Zuwanderern ausgehende Judenhass darf nicht mehr kleingeredet werden, meint auch Maritta Adam-Tkalec in der Berliner Zeitung und denkt über Möglichkeiten nach, Antisemitismus in Deutschland frühzeitig zu bekämpfen. In der taz interviewt Volkan Agar den Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias), Benjamin Steinitz, zu dem Vorfall.

Von "illegaler Masseneinwanderung" oder Rechtsbruch, wie es die Unterzeichner der "Erklärung 2018" behaupten, kann gar nicht die Rede sein, erklärt der Jurist Daniel Thym im Tagesspiegel mit Blick auf die komplizierten Dublin-Regeln, die die Rückführung von Asylbewerbern nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten ermöglichen. Außerdem arbeite man in Brüssel an einer Dublin-Reform, die mehrfache Asylanträge in Europa verbieten soll, der Bundestag vereinfachte zudem die Abschiebung: "Zu all dem schweigt die 'Erklärung 2018', und das dürfte kein Zufall sein. Es geht ihr nicht um den politischen Streit mit Sachargumenten, sie will das System diskreditieren."

Nachdrücklich fordert die Journalistin Cigdem Toprak in Zeit online ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren: "Nicht weil das kleine Kind mit dem Kopftuch die Gesellschaft bedroht oder Deutschland islamisieren möchte, sondern weil die Freiheit und das Wohl des Kindes in einer liberalen säkularen Gesellschaft über der Religionsfreiheit der Eltern stehen. Gleichzeitig würde das Verbot symbolisch und faktisch die Rolle des Kopftuchs in dieser Gesellschaft definieren: Das Tragen des Kopftuchs darf nur als individuelle Entscheidung im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts der Frau akzeptiert und respektiert werden - ohne das Kopftuch zu verharmlosen oder zu idealisieren."

Ann-Katrin Kaufhold ist Juristin. Sie hat ein Buch über das System der Bankenaufsicht geschrieben - selten wird so jemand interviewt. Arno Widmann hat sie ihre Thesen in der FR erläutern lassen. Krisen werden nie allein durch "systemrelevante" Akteure ausgelöst, erklärt sie: "Alle Teilnehmer sind eng miteinander vernetzt. Das kann auch sehr riskant sein. Wenn einer den Schnupfen bekommt, bekommen ihn alle. Selbst wenn es um die sogenannten systemrelevanten Banken geht, also um einzelne Unternehmen, die eine Krise auslösen können, reden wir letztlich doch über Beziehungen."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Das kulturelle Milieu in Deutschland beharrt auf Partizipation, seufzt Monika Grütters im Tagesspiegel-Interview mit Rüdiger Schaper über Berliner Personalpolitik an Volksbühne, Humboldt-Forum und Berlinale: "Manchmal würde auch der Kulturbetrieb eine Autorität gut vertragen. In ihrem Habitus sind das ja viele Intendanten und beispielsweise Dirigenten auch. In dem Expertenkreis mit über 20 Personen, der mich bei der Suche nach einer Nachfolge für den Berlinale-Chef Dieter Kosslick berät, gab es auch prominente Stimmen, die sagten: Man empfehle jemanden für die Zukunft, der 'less smart' und 'not too soft' sei. Jemanden, der mal ansagt, worum es geht, und nicht immer nur versucht, es allen recht zu machen."

Außerdem: Ebenfalls im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn von einem Gespräch zwischen Ulrike Knöfel (Spiegel) und Benedicte Savoy in der Berlinischen Galerie.

Archiv: Kulturpolitik

Europa

Das großzügige System der Subventionierung von im Bundestag repräsentierten Parteien kommt nun auch der AfD zugute und hilft die Partei zu stabilisieren - inklusive einer nicht geringen Zahl ausgewiesen rechtsextremer Mitglieder und Mitarbeiter, schreibt Nina Juliane Rink in der taz nach der Recherche der Zeitung zu den Mitarbeiterstäben der Partei (unser Resümee): "Fakt ist, dass unter den Mitgliedern und jetzt den neuen MitarbeiterInnen extreme Rechte aller Couleur vertreten sind, von Exmitgliedern der 'Heimattreuen deutschen Jugend' (HDJ) bis zur Identitären-Bewegung. Ein Sammelbecken für Rechte war die AfD schon vorher, jetzt ist sie auch eine Jobbörse. Die Bundestagsfraktion wirkt wie ein brauner Schwamm, der Rechte aus allen Milieus absaugt - vom rechten Flügel der Union bis zu völkischen Neonazis."
Archiv: Europa

Politik

Israel wird siebzig. In der taz interviewt Klaus Hillenbrand die 105-jährige Pionierin Gretel Merom aus dem Anlass. Aber Israel-Korrespondentin Susanne Knaul ist nicht zufrieden: "Der Friedensprozess mit den Palästinensern interessiert leider kaum noch jemanden. Nur ein paar Hundert solidarisierten sich mit dem Protest im Gazastreifen, bei dem schon über 30 Palästinenser erschossen wurden. Im Vergleich: Die Solidarität mit den Geflüchteten aus Afrika trieb 25.000 Bürger auf die Straße. Die Israelis werden keine Friedensgespräche vorantreiben, denn warum sollten sie etwas ändern? Für sie selbst ist die Situation so, wie sie ist, gut auszuhalten." Im Tagesspiegel erinnert Gerd Appenzeller an die deutsche Pflicht, das Existenzrecht Israels zu verteidigen. In der SZ schlägt Alexandra Föderl-Schmid ein föderales System vor, um eine Koexistenz von Israelis und Palästinensern zu ermöglichen.
Archiv: Politik

Überwachung

In der SZ erklärt die Juristin Lisa Blechschmidt, wie durch das deutsche "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens" digitale Kommunikationsinhalte von Alexa und anderen Geräten durch den Einsatz staatlicher Spionage-Software gesammelt werden dürfen: "Staatliche Behörden könnten damit heimlich auf sämtliche Funktionen informationstechnischer Systeme zugreifen, so auch auf das Mikrofon von Alexa. Die damit verbundenen Möglichkeiten scheinen fast grenzenlos zu sein, wenn man sich die neueste Entwicklung des Herstellers anschaut - den Echo Look. Der Nutzer soll via Style-Check-Funktion sein Outfit bewerten lassen können. Alexa wird hierfür mit einer Kamera vernetzt. Sie bekommt Augen. Diese Ermittlungsmaßnahmen stehen den Strafverfolgungsbehörden nicht nur bei Mord und Totschlag zur Verfügung. Das Gesetz verweist in diesem Zusammenhang etwa auch auf besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung oder die Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Spionage, Steuerhinterziehung