9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Desaster, das sich in Zeitlupe entfaltet

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2017. Liu Xiaobos Leichnam ist bereits eingeäschert - Menschenrechtler und Medien machen sich Sorgen um seine Witwe Liu Xia. Polen ist auf dem Weg in die Autokratie am "Point of no return" angelangt, warnt politico.eu. Die Türkei ist auf diesem Weg schon ein paar Schritte weiter, zeigen zwei Essays in der taz. Amerikanische Zeitungen beginnen den Widerspruch der Informationsökonomie zu begreifen, hofft Slate. Und der Guardian sucht Wege aus dem Brexit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2017 finden Sie hier

Politik

Der Leichnam Liu Xiaobos ist bereits eingeäschert worden. An der Zeremonie nahmen auch Brüder Lius und seine Frau Liu Xia teil, berichtet AFP (hier im FAZ.Net): "Seit dem Tod des Dissidenten mehren sich die Stimmen, die von der Pekinger Führung fordern, seine Frau freizulassen und ihr die Ausreise zu ermöglichen, wenn sie dies wünsche. Obwohl die 56 Jahre alte Liu Xia nie verurteilt wurde, steht sie seit 2010 unter Hausarrest."

Warum genau hat Emmanuel Macron seinen amerikanischen Kollegen Donald Trump so umgarnt?, fragt Adam Gopnik im New Yorker und findet eine recht intelligente Antwort: Macron wolle die Nüchternheit seiner zentristischen Politik mit dem Brimborium der Fünften Republik kombinieren, um sie fürs französische Publikum, das Präsidenten mit bonapartistisch-royaler Attitüde schätzt, verdaubar zu machen: "Und darum spielt er die Trump-Karte aus. Die gaullistische Tradition wollte nicht eigentlich antiamerikanisch erscheinen, sondern es französischen Präsidenten erlauben, mit amerikanischen Präsidenten auf Augenhöhe zu verkehren - zumindest im kosmetischen Sinne, so wie es De Gaulle mit Kennedy tat und Mitterrand mit Reagan, trotz der Diskrepanz in der Machtfülle. Dafür gab es nie einen günstigeren Moment als jetzt, wo Amerika in den Augen der Welt absteigt und Trump isolierter ist denn je."
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Medien

Amerikanische Zeitungen rufen in diesen medienfeindlichen Zeiten den Kongress auf, Ausnahmen vom Kartellrecht zu machen, damit sie kollektiv mit Google und Facebook verhandeln können (unsere Resümees) - ein Eingeständnis der Schwäche, findet Will Oremus  bei Slate, aber ein willkommenes und richtiges: "Der Widerspruch ist doch, dass Information, vor allem in Form investigativen Journalismus, weithin ein öffentliches Gut ist. Und doch sind die Firmen, die sie leisten, mit seltenen Ausnahmen privat und gewinngetrieben. Zeitungen mochten in der Vergangenheit diesen Widerspruch kaum anerkennen, denn über lange Zeit haben sie es hinbekommen, beides zu erfüllen. Aber ihre Anfrage an den Kongress und die Appelle ans Publikum bedeuten einen zögernden Schritt zur Einsicht, dass diese beiden Seiten nicht mehr vereinbar sind."
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Europa

Polen ist auf dem Weg in die Autokratie am "Point of no return" angelangt, schreibt Maciej Kisilowski in politico.eu. Gerade hat sich die Regierung per Gesetz den Gerichtsrat unter den Nagel gerissen, der für die Besetzung von Richterposten zuständig ist. Aber nun ist ein noch schlimmeres Gesetz geplant, "das die sofortige Freistellung des gesamten Kaders der 83 höchsten Richter in polnischen Appellationsgerichten ermöglicht. Die Säuberung wird innerhalb von Tagen nach Gültigkeit des Gesetzes stattfinden, Ausnahmen dieser erzwungenen 'Verrentung' - die unabhängig vom Alter des Richters in Kraft treten kann - können vom Justizminister der PiS-Partei völlig wilkürlich entscheiden werden. Die Entscheidung des Ministers ist nicht widerruflich, Alle geleerten Sitze können dann von dem neuen, politisch willfährigen Gerichtsrat besetzt werden."

Seit dem 15. Juli letzten Jahres, dem Tag des Putschversuchs mit 249 Toten, nimmt die Türkei bis hin in die Inszenierungen des Alltags totalitäre Züge an, die Pınar Ögünc in einem Essay für die taz beschreibt: "Für die Märtyrer und Veteranen jener Nacht wurden Panzer aus Massivgold gegossen und panzerförmige Kuchen gebacken. Aufgrund der Assoziation mit Erdogans Imtimfeind Fetullah Gülen wurden alle Fahrzeugnummernschilder mit der Buchstabenkombination FG aussortiert. Ja, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem in Mathematikschulbüchern aus den Innenwinkeln von Dreiecken die Buchstaben F und G gesäubert werden. In allen Schulen wurden Informationstafeln zu den Ereignissen des 15. Juli installiert, die unter anderem blutige Szenen enthalten und keinerlei pädagogischer Kontrolle unterliegen... Zahllose Foto- und Gedichtwettbewerbe fanden statt, Schüler*innen wurden ermuntert, Briefe an die Märtyrer zu verfassen."

Aber die Regression an türkischen Schulen hat auch reaktionäre Züge, die Fabian Köhler ebenfalls in der taz beschreibt. Zum Beispiel änderte sich vor zwei Wochen der Biologielehrplan: "Da kündigte das türkische Bildungsministerium an, die Lehre von der Entstehung des Lebens via Vererbung, Mutation und Selektion aus dem schulischen Unterricht zu streichen. Es handle sich um eine 'archaische Theorie', die kaum belegt sei, hatte schon Anfang dieses Jahres der türkische Vizepremier Numan Kurtulmuş gewettert. Als 'zu fragwürdig, zu kontrovers und zu kompliziert für Schüler' bezeichnete sie nun ein Vertreter des türkischen Bildungsministeriums und kündigte an, ab dem Jahr 2019 den 'eurozentrischen Unterricht' durch die Lehren muslimischer und türkischer Wissenschaftler zu ersetzen." Köhler versucht in der Folge seines Artikels ernstlich nachzuweisen, dass die Evolutionstheorie nicht unislamisch sei.

"Brexit ist ein Desaster, das sich in Zeitlupe entfaltet", schreibt Jonathan Freedland im Guardian. Er zählt wirtschaftliche und politische Auswirkungen auf, die jetzt schon deutlich werden, und beobachtet, dass prominente Brexit-Anhänger seltsam stumm sind oder sogar zurückrudern: "Aber wenn  selbst in unerwarteten Ecken die Einsicht wächst, dass der Brexit ein Akt nationaler Selbstzerstörung ist, der um jeden Preis verhindert werden muss - wie können wir ihn stoppen? Gespräche, die ich in dieser Woche mit Schlüsselfiguren unter Konservativen, Labour und Gewerkschaftern und der Scottish National Party hatte, machen klar, dass der Weg voller Hindernisse und Schlaglöcher ist - aber es muss einen Weg geben. " Und das könne nur einer sein: ein neues Referendum: "Ein demokratisches Votum kann nur von einem anderen demokratischen Votum ungültig gemacht werden."
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Gesellschaft

Ein Auslaufmodell sind die Kämpfer des "Schwarzen Blocks", der irgendwann mal in den Achtzigern entstand, und zwar ein ziemlich komisches, meint Isolde Charim in der Wiener Zeitung: "Diese Autonomen wollen nur spielen - Krieg spielen. Von daher rührt auch die große Diskrepanz zwischen ihren proklamiertem Ziel - dem 'Untergang des Kapitalismus' - und dem, was sie als Erfolg verbuchen: das Recht auf Schlafen in den Camps durchgesetzt zu haben! Die Protokollstrecken blockiert zu haben! Den Gipfel verzögert zu haben!" Aber diese "antiimperialistisch-autonome Linke" aus dem "Revolutionsmuseum"  trägt an den Krawallen die Hauptschuld, meint Andreas Fanizadeh in der taz-Essay.

Und Arno Widmann fragt sich in der Berliner Zeitung, ob das ganze nicht eine virtuose List der Kanzlerin war: Sie inszeniert sich als Gastgeberin der Granden, und einer der beliebtesten SPD-Politiker, der sie in vier Jahren gefährden könnte, kann nicht mal die Probleme vor seiner Haustür lösen.
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Ideen

Angst ist in der modernen Präventionsgesellschaft, die Gefährlichkeit zu einem Hauptkriterium für die Ausübung von Rechtsnormen erhoben hat, "systemrelevant" geworden, konstatiert der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in der Literarischen Welt. Er sieht die Demokratie bedroht, denn der Gesellschaftsvertrag habe sich "zu Sicherheitsverträgen verschoben, die auf einem Emissionshandel mit Angstderivaten beruhen und zu punktuellen Abgabe von Rechten (Datenschutz, Fernmeldegeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung etc.) im Tausch mit Sicherheitsversprechen aufrufen. Das prägt die politische Dimension der Angst... Wenn es sich dabei um eine Ausweitung von Angstzonen handelt, die sich mit einem Rückzug von Rechtsgarantien deckt (das Recht reicht nicht hin, Sicherheitsbedürfnisse zu befriedigen), dann muss man daran erinnern, dass der Einzug der Angst in den Binnenraum politischer Macht stets mit der Sache der Tyrannis und der Position des Tyrannen verbunden waren."

Die Bürgergesellschaft ist am Ende, ruft der Historiker Jörg Baberowski in der NZZ, und schuld ist die Elite, die am liebsten den Nationalstaat ganz abschaffen würde: "Der Siegeszug der identitären Politik, die nur noch Kultur, Religion und Geschlecht zu ihrem Gegenstand hat, von sozialen Fragen aber nichts mehr hören will, ist eine Folge dieses Wandels. Die politische Elite hat sich von den sozialen Strukturen befreit, deren Teil sie einmal gewesen war, sie schwebt ohne Bodenhaftung in einer Welt von Gesinnungsfreunden, in der es kein anderes Ziel mehr zu geben scheint als jenes, die Nation als Organisationsprinzip des Politischen zu zerstören. ... Wer hätte es noch vor Jahrzehnten für möglich gehalten, dass Wettbewerbsfetischisten und Linke einmal die gleiche Sprache sprechen würden, wenngleich sie es aus unterschiedlichen Gründen tun: die einen, weil sie grenzenlose Gewinne machen wollen, die anderen, weil sie von der Weltgesellschaft träumen."

Außerdem: In der SZ fragt Adrian Lobe, ob per Supercomputer künftig eine perfekte Berechnung von Angebot und Nachfrage - und damit Planwirtschaft - denkbar ist.
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