9punkt - Die Debattenrundschau

Überall wird die Demokratie gewürgt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2017. Was hat der 2. Juni 1967 noch mit heute zu tun? Eine Menge, meinen eine Menge Autoren und Autorinnen, die dabei waren, überall. In der Welt erklärt Eva Quistorp, wie das mit den Fake News damals ging. Die taz fordert vom Berliner Senat eine Entschuldigung für das damalige kriminelle Behördenversagen. Der scheint auch geneigt zu sein. Außerdem: Das Silicon Valley schimpft auf Donald Trump. Die Berliner Zeitung ist entsetzt über die durchgepaukte Grundgesetzänderung für die Privatisierung von Autobahnen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2017 finden Sie hier

Geschichte

1967 war das deutsche 1968. Überall Texte zum 2. Juni. Bei aller Kritik, die man an den 68ern haben kann, meint Max Thomas Mehr im Deutschlandfunk: "Die APO sorgte ... für eine grundlegende Modernisierung der Gesellschaft - Stichwort: das Private ist politisch. Frauenemanzipation und Schwulenbewegung, antiautoritäre Kinderläden, aber auch die Impulse der Alternativ- und Anti-Atomkraftbewegung sind heute aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken."

Eva Quistorp, die bei der Demo am 2. Juni dabei war, erzählt - übrigens in der Welt - wie das mit den Fake News damals funktionierte: "In jener Zeit gab es weder Handys, noch Computer, kein Internet, und die wenigsten von uns hatten Telefone in ihren WGs, manchmal eines für alle, und das auf dem Flur. Wir waren auf Gerüchte angewiesen und auf die Radionachrichten. Und schließlich erschienen die Meldungen und die Fotos in der BZ unter anderem, angeblich sei die Gewalt von den Studenten ausgegangen, die allesamt als 'Krawallbrüder' beschimpft wurden. In dieser Nacht ist mir klar geworden, wie dringend wir Gegeninformationen brauchten." Ebenfalls in der Welt erinnerte Wolfgang Kraushaar an das kleine Detail, dass die Idee, selbst Gewalt auszuüben, bei Rudi Dutschke oder Bahman Nirumand nicht erst durch den 2. Juni ausgelöst wurde (unser Resümee).

"Es geht auch um Verantwortung", schreibt Gereon Asmuth in der taz: "Noch immer. Für die Gewalt einer Berliner Polizei, in der es 1967 noch alte Nazi-Seilschaften gab. Für deren von oben gedecktes brutales Vorgehen. Für die systematische Vernichtung von Beweisen, die Vertuschung des tödlichen Schusses aus der Waffe eines Polizisten. All das ist so unglaublich, dass es nicht nur die damals Beteiligten, sondern auch jüngere Generationen fassungslos macht. Es ist mehr als überfällig, dass sich der Berliner Senat zu seiner politischen Verantwortung bekennt. Mit einer Bitte um Entschuldigung. Der 2. Juni 2017 wäre dafür das passende Datum." Und tatsächlich sagt der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt im Interview Plutonia Plarre: "Ich denke über eine Entschuldigung nach." Ebenfalls in der taz liefert Christian Ströbele seine Version der Heldengeschichte.

Der ehemalige tazler Klaus Hartung erinnert - in der taz - an die Konfrontation von Jürgen Habermas und Rudi Dutschke, zu der es bei einem Kongress nach dem 2. Juni kam: Habermas' "böses Wort vom linken Faschismus führte zu heftigem Streit innerhalb der Linken. Habermas revidierte später den Begriff. Aber die Idee der emanzipierenden Gewalt in ihrer diffusen Virulenz geisterte fortan durch die antiautoritäre Bewegung. Revolution durch die Revolutionierung der Revolutionäre, also durch gewaltsamen Ausbruch aus der bürgerlichen Herkunft - das war die Suggestion des entfesselten Selbst."

Außerdem: In der Mediathek der ARD findet sich - noch bis zum 5. Juni - eine Doku über die Todesumstände Benno Ohnesorgs und die Vertuschungsversuche der Behörden. Beim BR gibt es Margot Overaths Feature "Chronik einer Hinrichtung". In einem weiteren Feature für den SWR kontextualisiert Stefan Zednik den Tod Ohnesorgs mit der "Zauberflöte", die der Schah von Persien im Opernhaus sah, während der Polizist Kurras seinen Schuss auf Ohnesorg abgab.
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

In Berlin wurde jetzt der dritte Beschluss zum Einheitsdenkmal gefällt: Erst wurde es beschlossen, dann das Geld für Kolonnaden am Schloss umgewidmet und jetzt soll die "Einheitswippe" doch gebaut werden. Die Diskussion ist damit jedoch nicht beendet, ahnt Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Während Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) bei der Diskussion lieber zurück auf Los gehen würde, spricht Hiltrud Lotze, SPD-Kulturberichterstatterin, vom 'richtigen Denkmal zur richtigen Zeit' ... Lotze nennt die Umwidmung der Schlossfreiheit 'bestechend'. Das sehen viele anders, etwa der Schloss-Förderverein um Wilhelm von Boddien, die Gesellschaft Historisches Berlin und laut aktueller Umfrage auch etliche Bürger der Nachwende-Republik. Nur 16 Prozent befürworten die Waage, 43 Prozent hingegen die Kolonnaden."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

Das Silicon Valley distanziert sich von Donald Trump und seiner Absage an das Pariser Klimaabkommen, berichtet Keith Wagstaff bei Mashable: "'Sich von dem Abkommen zurückzuziehen ist schlecht für die Umwelt, schlecht für die Wirtschaft und setzt die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel', sagte Mark Zuckerberg am Donnerstag auf Facebook. Tesla-Gründer Elon Musk und Google-CEO Sundar Pichai kritisierten Trump gleichfalls für seine Rückzug aus dem Abkommen, dem bisher nur zwei Länder nicht beigetreten sind, Syrien und Nicaragua - letzteres Land, weil ihm das Abkommen nicht weit genug ging."

Die große Koalition will vor der Sommerpause noch schnell das Grundgesetz ändern: In 48 Stunden statt in der normalen Frist von drei Wochen soll eine Änderung durchgesetzt werden, wonach "der Bau, Erhalt und Betrieb der deutschen Autobahnen ab 2020 von einer privaten GmbH gesteuert [werden soll], die nach Expertenmeinung die teuren Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP) zu einem Standardmodell etablieren würde", erklärt die Berliner Zeitung. Kai Schlieter ist in einem Kommentar entsetzt über das Vorhaben, mehr noch aber über das Tempo: "Was manche jetzt als gelungenen Kompromiss feiern, ist ein Tiefpunkt der politischen Kultur. Und ein Zeichen des Wandels, den Donald Trump nur am geschicktesten umsetzt. Überall wird die Demokratie gewürgt. Collin Crouch bezeichnete diesen Wandel 'Postdemokratie'. Demokratische Verfahrensweisen sind mittlerweile oft nur noch Staffage. Es herrschen andere Gesetze als die, an die sich die Bürger zu halten haben."
Archiv: Politik

Europa

Heute wird das dänische Parlament den seit 1683 bestehenden Blasphemieparagrafen abschaffen, annonciert Reinhard Wolff in der taz: "Den Paragrafen beibehalten will ausgerechnet nur die Partei, die vor 45 Jahren einmal die Initiative zu seiner Abschaffung angeführt hatte: die Sozialdemokratie. 'Wir sehen nicht, dass Koran- oder Bibelverbrennen Teil der Meinungsfreiheit sein muss', sagt deren justizpolitische Sprecherin Trine Bramsen. Das Blasphemie-Verbot diene dem Schutz des öffentlichen Friedens. Das sieht auch der Verfassungsschutz PET so, der vor einer gesteigerten Terrorgefahr in Dänemark warnt, falls Taten wie das Koranverbrennen nicht mehr strafbar sein würden."
Archiv: Europa

Urheberrecht

Welche Auswirkungen ein immer ausufernderes Urheberrecht hat, kann man am Streit zwischen Kraftwerk und dem Produzenten Moses Pelham beobachten. Seit 20 Jahren zieht Kraftwerk Pelham vor die Gerichte, weil dieser 1997 für ein Stück von Sabrina Setlur ein zwei Sekunden langes Beat-Sample aus einem Kraftwerk-Stück benutzt hatte. Jetzt hat der BGH die Sache an den EuGH verwiesen, meldet Jan Kedves in der SZ: "Das bedeutet konkret: Der Bundesgerichtshof zweifelt an, ob das Bundesverfassungsgericht in der Sache überhaupt etwas zu sagen hat. Dieses hatte zwar im Mai vergangenen Jahres für die Kunstfreiheit votiert und das von Kraftwerk erwirkte Verbot des Setlur-Songs gekippt. In der Hip-Hop-Welt wurde diese Entscheidung mit Erleichterung aufgenommen, denn Sampling gehört zu ihren kreativen Grundpfeilern. Aber die relevanten Urheberrechts-Vorschriften sind in der EU vereinheitlicht, deswegen muss nun eben, vor einer finalen Entscheidung in Karlsruhe, erst Luxemburg gehört werden."
Archiv: Urheberrecht