9punkt - Die Debattenrundschau
Es ging um dreihundert Wörter
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2017. Es war der merkwürdigste Wahlkampf der Fünften Republik. Und es ist das Ende einer Ära, schreibt Laurent Joffrin in der taz vor der ersten Runde der französischen Wahlen. In Le Monde beschwört Martin Walser die Franzosen, Emmanuel Macron zu wählen. Der Konflikt zwischen der Religionsfreiheit der Eltern und der der Kinder ist noch nicht erledigt, sagt der Deutschlandfunk mit Blick auf eine neue Debatte über Beschneidung. Die New York Times berichtet über die Pogrome gegen Homosexuelle in Tschetschenien.
Efeu - Die Kulturrundschau
vom
22.04.2017
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Europa

Jean Quatremer, ebenfalls von Libération, konstatiert, dass nur einer der vier aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten, Emmanuel Macron, ein vernünftiges Verhältnis zu Europa hat: "Man hat in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten ignoriert, dass Frankreich, obwohl Gründungsmitglied, ein echtes Problem mit seiner Beziehung zur Europäischen Union hat, genau wie Großbritannien. Es scheint, als schafften es die zentralisierten Länder - allesamt ausgestattet mit einer unermüdlich drängelnden Exekutive - nicht, ihren Platz in einem föderalen Ensemble zu finden, in dem starke Gegenkräfte wirken."
Außerdem: In Le Monde plädiert Martin Walser mit Verve für Emmanuel Macron: Es scheint ihm unvorstellbar, dass "dieser Macron einer Le Pen unterliegen könnte. Macron hat eine Biografie, die wir Deutschen nur mit Bewunderung und Neid erleben können." Die NZZ übersetzt das Le Monde-Interview mit Peter Sloterdijk (unser Resümee) ebenfalls über die anstehenden Wahlen.
Heuchlerisch werde jetzt mangelnde Integration für das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken bei dem Referendum vor eine Woche verantwortlich gemacht. Denn gerade die Grünen und die Linkspartei, die diese Klage führen, seien mit schuld am Schlamassel, schreibt Regina Mönch in der FAZ: "Vor dem Europäischen Gerichtshof haben Linke und Grüne für 'ihre Türken' erstritten, dass sie sich, bevor sie einwandern, nicht wie alle anderen einem Sprachtest unterziehen müssen. Es ging um dreihundert Wörter der deutschen Alltagssprache! Eine Chance für die vielen sprachlosen jungen Bräute, die Jahr um Jahr hierhergeholt werden."
Politik
Andrew A. Kramer hat für die New York Times mit Menschenrechtsorganisationen und einigen Homosexuellen aus Tschetschenien gesprochen, um den Pogromen gegen Schwule in dieser von Putin gleichgeschalteten Region auf die Spur zu kommen. Ein 25-jähriger Betroffener namens Maksim erzählt ihm, dass er von einem Undercover-Agenten in chats gezogen wurde. Dann hatte er sich mit dem Agenten verabredetet: "Als Maksim in die vereinbarte Wohnung kam, wurde er von Sicherheitsbeamten zusammengeschlagen. Fünf andere Männer waren mit dem gleichen Trick in die Wohnung gelockt worden, erzählt Maksim. Sein Bericht über die Täuschung deckt sich mit anderen Berichten, die von Human Rights Watch dokumentiert wurden und mit Berichten zweier schwuler Männer, die für diesen Artikel getrennt befragt wurden. Alle sechs Männer aus der Wohnung wurden in einem verlassenen Gebäude festgesetzt, wo sie einer nach dem anderen mit elektrischem Strom gefoltert wurden, erzählt Maksim."
Ideen
In der Welt erinnert Hans Ulrich Gumbrecht geisteswissenschaftliche Forschergruppe "Poetik und Hermeneutik", die zwischen 1963 und 1994 die Geisteselite der alten Bundesrepublik versammelte: "In der retrospektiven Distanz des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts können wir die Leistung dieser Institution mit drei übergreifenden Funktionen verbinden: Hier vollzog sich ein folgenreicher intellektueller Übergang von der Generation der Kriegsteilnehmer hin zu den unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen. Als ein bald schon zentrales Forum mit hohem Prestige brachte 'Poetik und Hermeneutik' das Potenzial jener beiden Generationen zu seiner maximalen Artikulation. Und schließlich prägte die Forschergruppe nachhaltig - vielleicht tatsächlich bis heute - den Stil und die Prioritäten einer geisteswissenschaftlichen Elite in Deutschland."
Medien
Der Guardian zieht sich aus den direkt auf der Plattform publizierten "Instant Articles" von Facebook und aus den Apple-News zurück, berichtet Jessica Davies bei Digiday.com, vielleicht ein erster Schritt, um die übergroße Macht von Facebook anzukratzen: "Der Guardian ist nicht das einzige Medium, dessen Verhältnis zu Instant articles abgekühlt ist. Verschiedene Medien bringen sehr viel weniger Artikel in diesem Format. BBC News, National Geographic und das Wall Street Journal scheinen fast ganz darauf zu verzichten. Die New York Times hat sich ganz daraus zurückgezogen."
Kulturpolitik
Der Glanz unserer maroden Hauptstadt wird ein bisschen aufpoliert. Unsere Berliner Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Kanzleramt hat sich für Berlin gelohnt, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel über den neuen "Hauptstadtfinanzierungsvertrag": "Bei den Philharmonikern steigt der Bund erstmals mit ein, zu einem guten Drittel mit über 7 Millionen Euro. Die Opernstiftung erhält künftig 10 Millionen Euro aus der Schatulle von Kulturstaatsministerin Monika Grütters statt bislang 1,8 Millionen für die Staatskapelle. Der Hauptstadtkulturfonds wird um ein Drittel aufgestockt, auf knapp 15 Millionen Euro. Und der Bund entlastet das Land bei den anteiligen Zahlungen fürs Humboldt-Forum um weitere 5 Millionen Euro. Das macht in der Summe voraussichtlich 25,7 Millionen Euro mehr."
Gregor Dotzauer unterhält sich zugleich im Tagesspiegel mit Till Brönner über das von ihm ersehnte, aber noch weit von der Realisierung entfernte "House of Jazz".
Gregor Dotzauer unterhält sich zugleich im Tagesspiegel mit Till Brönner über das von ihm ersehnte, aber noch weit von der Realisierung entfernte "House of Jazz".
Religion
Die Debatte um die Beschneidung von Jungen ist vor fünf Jahren nach einer eilends herbeigerufenen Abstimmung im Bundestag entschlafen. Einige Gegner gibt es aber noch, die sich am 8. Mai in Düsseldorf zu einer Tagung treffen. Hüseyin Topel spricht für den Deutschlandfunk mit Kritikern und Befürwortern des Eingriffs: "In der Frage der Beschneidung von Männern ist zurzeit in Deutschland kein Kompromiss in Sicht. Geschieht sie aus religiösen Gründen, fällt sie unter die Religionsfreiheit, die sich auf das Grundgesetz berufen kann. Sie kollidiert aber mit der gesetzlich festgelegten Religionsmündigkeit, wonach ein Junge mit 14 Jahren über seine Religionszugehörigkeit selbst entscheiden kann. Kritiker sehen dieses Recht auf freie religiöse Entscheidung bei der Beschneidung nicht ausreichend geschützt. "
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