9punkt - Die Debattenrundschau

Alle schauen und er selbst schaut auch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.08.2016. Wann sollte noch mal der Brexit kommen?, fragt der Guardian. Die taz wirft Erdogan vor, den syrischen Bürgerkrieg in die Türkei geholt zu haben. Die EU fördert keine freie Wissenschaft, sondern Populismus und Technokratie, beklagt die FAZ. Die SZ versucht, Facebooks erratisches Privatrecht zu verstehen. Die NZZ duscht im Permaregen der Information. Die FR sonnt sich in der Republik der Blicke.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.08.2016 finden Sie hier

Internet

In der SZ würde sich Johannes Boie gern erklären lassen, wie Facebook einerseits mit Hilfe vom Bertelsmann-Dienstleister Arvato und andererseits mit der Antifa-Brigade der Amadeu-Antonio-Stiftung Debatten im Netzwerk zensiert. Aber ach: "Für Journalisten ist kein Zugang möglich. Die Urteile der Facebook-Mitarbeiter darüber, wer was sagen darf, fallen nicht nur ohne Öffentlichkeit, sondern auch ohne demokratisch legitimiertes Verfahren. Es handelt sich um eine Art Privatrecht. Wäre Facebook ein Staat, wäre es eine Diktatur."

In ihrer Maschinenraum-Kolumne berichtet Constanze Kurz, dass eine Gruppe namens Shadowbroker auf einer Aktion die Angriffswaffen versteigert, die sie von der Equation Group der NSA erbeutet haben will: "Wer immer hinter der Auktion der 'Shadowbrokers' steckt: Das Vorgehen erinnert ein wenig an Kampfsport, wo man sich eingangs gegenseitig die Muskeln zeigt. Nur leider finden die Kämpfe dann auf dem Rücken von höchst verletzlichen Gesellschaften statt, deren Abhängigkeit von sicherer Computertechnik wächst." Auf BoingBoing spottet Cory Doctorow über den schlampigen Code der NSA-Hacker.

Bei Svenja Bergt hält sich in der taz die Vorfreude auf die neue Bezahl-App in Grenzen, die Payback im Herbst in Deutschland für Supermärkte starten will: "So räumt sich die Payback-App unter anderem das Recht ein, die WLAN-Verbindungen abzurufen, den Standort, basiert auf GPS- und Netzwerkdaten, zu bestimmen sowie auf die Kontakte zuzugreifen, auch wenn diese Funktion nach Unternehmensangaben nicht mehr genutzt wird."

In der NZZ fürchtet Euard Kaeser schließlich, dass wir bereits ins postfaktische Zeitalter übergegangen sind: "Ein Permaregen von Informationen lässt uns fast nichts anderes übrig, als allmählich auf Standards wie Objektivität und Wahrheit zu verzichten."

Weiteres: Der Algorithmus spuckt nur aus, was hineingesteckt wird, lernt Adrian Lobe zudem in der FAZ bei einer Fahrt ins kalifornische Manteca, das nur auf Yelp und Google Maps wie San Francisco aussehe. In der FR ätzt Jörg Schindler über all die Apps zu Selbsthilfe und Angstmanagement, die dem Individuum in seiner Einsamkeit helfen sollen.
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Europa

Der Sommer hat den Brexit beträchtlich ausgebremst, schreibt Jon Henley im Guardian: Ohne eigenes Büro trifft sich der zusammengestellte Stab noch immer im Starbucks an der Victoria Station: "Some estimates suggest 'full Brexit' may take 10 years and involve up to 10,000 people, not only in the new and other so-called 'hot' departments such as foreign, home, environment and business, but across the civil service nationally, at an administrative cost of close to 5 billion pounds."

Im Welt-Gespräch mit Inga Pylypchuk fordert der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, endlich die Lenin-Denkmäler abzureißen und die Ereignisse auf dem Maidan aufzuarbeiten. Er will Exempel statuiert sehen: "Meiner Meinung nach brauchen wir einen großen, öffentlichen Prozess, der zügig durchgeführt wird, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse in Deutschland. Es geht nicht nur darum, die Verantwortlichen zu bestrafen, sondern die Präzedenzfälle zu präsentieren, damit sie sich nie wieder wiederholen."

Anlässlich des Treffens von Angela Merkel, Françoise Hollande und Matteo Renzi in Ventotene fordern mittelalte Prominente wie Daniel Cohn-Bendit, Wim Wenders oder Sascha Waltz in einem offenen Brief in der Welt einen Neustart in Europa mit der Jugend zu beginnen. Wir wäre es an den Schulen mit Unterricht über die europäische Kultur? "Geschichte, Sozialkunde und Kultur sollten dabei den Kern des Europa-Fachs bilden. Mit dem Wissen der jungen Generation über das gemeinsam Erreichte auf unserem Kontinent wird auch die Identifizierung mit Europa wachsen."
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Politik

Für die New York Times hat Andrew Kramer recherchiert, das Wladimir Putin immer unerbittlicher gegen seine Feinde vorgeht und es nicht nur bei Schwarzer Propaganda belässt: "He has invested considerable money and energy into building an image of a strong and morally superior Russia, in sharp contrast with what he portrays as weak, decadent and disorderly Western democracies. Muckraking journalists, rights advocates, opposition politicians, government whistle-blowers and other Russians who threaten that image are treated harshly - imprisoned on trumped-up charges, smeared in the news media and, with increasing frequency, killed."

Dass der syrische Bürgerkrieg nun auch in der Türkei ausgefochten wird, hat sich Tayyip Erdogan selbst zuzuschreiben, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz nach dem schweren Anschlag auf eine kurdische Hochzeitsgesellschaft: "Weil der IS und die syrischen Kurden sich seit der Schlacht um die syrische Grenzstadt Kobani erbittert bekriegen, hat Erdoğan lange den IS in der Türkei geduldet und dadurch die USA gegen sich aufgebracht. Die unterstützen nun die Kurden, was wiederum Erdoğan in Rage versetzt. Weil die andere Großmacht Russland aufseiten Assads kämpft, den Erdoğan stürzen will, um seine sunnitischen Muslimbrüderfreunde an die Macht zu bringen, hat er sich zeitweilig mit beiden Supermächten angelegt. Das Ergebnis war eine international völlig isolierte Türkei, die von Anschlägen des IS und der PKK gleichzeitig erschüttert wurde."
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Ideen

In der FAZ fürchtet Heike Schmoll um die Geistes- und Sozialwissenschaften in Europa, die nur noch gefördert werden sollen, wenn sie von volkswirtschaftlicher Relevanz seien und echte Lösungen für echte Probleme böten, wie EU-Forschungskommissar Carlos Moedas sagt: "Neugier in der Wissenschaft oder gar Grundlagenforschung, erst recht riskante Forschungsprojekte, die auch scheitern und in Sackgassen landen können, sind nicht mehr vorgesehen und werden auch nicht gefördert. Wenn die impact-gebundene Forschung gegen die wissenschaftliche Neugier ausgespielt wird, ist es ausgeschlossen, den intellektuellen und kulturellen Reichtum in den europäischen Gesellschaften noch zur Geltung zu bringen."

Alexander Menden fügt in der SZ hinzu, dass Großbritannien auch seine Bibliotheken in Grund und Boden spart.
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Geschichte

In Bulgarien wurde eine vermutlich 5000 Jahre alte Tonplatte mit Symbolen gefunden, die als Beleg dafür gelten könnte, dass die Ur-Schrift aus Europa stammt, berichtet Matthias Heine in der Welt.
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Stichwörter: Bulgarien, Schriftsystem

Gesellschaft

In der FR huldigt Arno Widmann den Wonnen des Badeurlaubs: "Alle schauen und er selbst schaut auch. Am Strand entsteht jeden Sommer eine Republik der Blicke, in der jeder zum selbstbewussten Mitbürger wird. Jeder und jede. Hässlich oder schön. Die Befreiung der Blicke war Teil der sexuellen Revolution. Die fand natürlich vor allem im aktivsten Sexualorgan des Menschen, im Gehirn, statt, aber ihr Trainingscamp und Schauplatz waren von Anfang auch die Strände Europas, der USA - oder der Copacabana!"

Peter Richter verteidigt in der SZ die weißen alten Männer, die jetzt auch in Deutschland zum allgemeinen Problembär stilisiert werden (#Demografie).
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