Efeu - Die Kulturrundschau

Im konkreten Raum der Gabel

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22.08.2016. Die SZ spricht mit der ägyptischen Comiczeichnerin Deena Mohamed über ihre Superheldin mit Kopftuch und das Dilemma der muslimischen Frau.  Die taz erfährt bei der Künstlerin Georgie Sagris, was Künstler für Geld machen müssen. Die NZZ bemerkt viel Essen in der zeitgenössischen Kunst: Die Globalisierung ist Schuld, glaubt sie. Die FAZ interessiert sich mehr für geschmacklose Architektur in Wien. Und critic.de denkt über die Rolle des Kurators nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.08.2016 finden Sie hier

Kunst

Im Grunde genommen sehr folgerichtig ist Georgia Sagris am Rande der Zürcher Manifesta entstandene Videoarbeit "Georgia Sagri as Georgia Sagri (still without being paid as an actress)", in dem sich die Künsterin mit den Arbeitsbedingungen während der Manifesta auseinandersetzt, die bei den Künstlern unter dem Motto "What People Do For Money" Arbeiten in Auftrag gegeben hat. Tazlerin Gina Bucher hat sich mit Sagris unterhalten: Der Künstlerin ging es "darum, die Idealisierung der Arbeit und ganz konkret die Idealisierung der künstlerischen Arbeit zu durchbrechen. Und das heißt eben auch, offenzulegen, was es bedeutet, wenn Künstler bestimmte Arbeiten für Geld erledigen. Im Rahmen der Manifesta stand jedem Künstler ein bestimmtes Budget zu. Gleichzeitig wurden von den Künstlern Making-of Videos erwartet, um weitere Gelder für die Manifesta zu akquirieren und so zumindest einen Teil der Aufgaben der Kuratoren zu übernehmen. Das wollte ich nur unter der Bedingung machen, nicht selbst als Künstlerin, sondern als Schauspielerin zu erscheinen, die innerhalb dieses Manifesta-Marketing-Rahmens die Rolle der Künstlerin Georgia Sagri spielt."

(Bild: Att Poomtangon. No Land Without Stones, No Meat Without Bones, 2014-2015. Courtesy: the artist und: Rasmus Søndergard Johannsen Detach/adjust/connect, 2014-2015 Courtesy: the artist. Foto: Peter D. Hartung)

In der NZZ denkt Samuel Herzog anlässlich der Ausstellung "Ökologien des Alltags" darüber nach, warum das Thema Essen in der zeitgenössischen Kunst derart präsent ist. Die Globalisierung ist Schuld, glaubt er: "Nicht nur weil sich unsere Speisekarte seit einigen Jahren aus Elementen zusammensetzt, die aus allen Ecken und Enden des Kontinents zu uns geflogen und geschifft werden, nein, auch weil in allen Teilen der Erde gegessen wird, gegessen werden muss - und weil das Essen überall in Rituale und Gewohnheiten, religiöse und hygienische Vorstellungen, politische und soziale Prozesse eingebunden ist. Das Thema Essen, so könnte man sagen, holt die Globalisierung aus dem abstrakten Bereich der Modelle und theoretischen Vorstellungen in den konkreten Raum der Gabel."

Auf nach Zürich, ruft uns in der FAZ Hubert Spiegel zu. Dort zu sehen gibt es eine reichhaltige, anregende Ausstellung über die "Gärten der Welt", die in dem Rezensenten manche Einsicht reifen lässt: "Gärtner sind Sünder, die der Vergebung gewiss sein dürfen. Diese Ausstellung ist Labsal für Seele und Verstand. Denn sie zeigt auf faszinierende Weise: Gartengeschichte ist Geistesgeschichte, Gartenkunde ist Menschheitskunde."

 Critic.de dokumentiert die im Mai in Oberhausen geführte Diskussion zwischen Hans Ulrich Gumbrecht, Julia Voss und Andreas Siekmann über die neue Prominenz der Figur des Kurators. Voss glaubt: "Das Unbehagen, das uns der Kurator bereitet, steckt im Begriff selbst. 'Kurator' kann auf der einen Seite 'Pfleger' bedeuten und auf der anderen Seite auch 'Vormund'. Wir teilen alle dieses Unbehagen, wenn wir das Gefühl haben, dass Kunst nur noch zur Illustration einer These dient und in ihrer Eigengesetzlichkeit gar nicht mehr beachtet wird. Eigentlich ist der Kurator ja eine Art Botschafter, ein Mittler zwischen verschiedenen Welten."

Weiteres: Nach Christos "Floating Piers" (mehr dazu hier) gibt es jetzt Auseinandersetzungen wegen der Folgekosten des Aufsehen erregenden Projekts, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel.

Besprochen werden Per-Anders Petterssons Bildband "Afri­can Catwalk" (taz) und die Ausstellung "Painting With Light: Art and Photography from the Pre-Raphaelites to the Modern Age" in der Tate Britain (FAZ).
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Musik

Die Spex meldet, dass Frank Ocean mit "Blond" jetzt tatsächlich ein neues Album veröffentlicht hat: "Beim ersten Durchlauf wirkt 'Blond' auch gleich schlüssiger als das Freitag veröffentlichte 'Endless'." Eilig schreibt sich Juliane Liebert in der SZ durch das Album - recht umgehauen wirkt sie von dem Produkt allerdings nicht: Mit "Geschmackssache" wählt sie das denkbar lauwarmste Fazit, das man nach einem Hörerlebnis äußern kann. "Insgesamt alles sehr balladig, alles sehr ähnlich. Könnte sein, dass es ein Grower ist, ein Album, das mit jedem Hören wächst. Es könnte aber auch sein, dass 'Blonde' schneller vergessen ist, als es gedauert hat, es zu erschaffen."

Beim Lucerne Festival hört Christian Wildhagen in der NZZ dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Dirigenten Bernhard Haitink zu, wie sie dem Alter letzte Wahrheiten abringen. Gerade bei Pollinis Chopin werde dies deutlich: "inzwischen scheint Pollini der Sinn nicht mehr nach Eleganz zu stehen, geschweige denn nach der Galanterie des Salons, dem diese Musik entwachsen ist. Stattdessen treibt er Chopins Werken alles Eingängige aus, und nicht immer ist dabei klar, ob dies aus tieferer Einsicht geschieht oder aus latentem Überdruss an seinen einstigen Paradestücken."

Für die taz hört Jens Uthoff Jamila Woods' hier zum freien Download angebotenes, sehr politisches Album "HEAVN" und staunt darüber, "wie viel Leichtigkeit, Verspieltheit und unzerstörbare Lebensfreude in Woods' Sound liegt, während sie brutalste Realitäten in Verse gießt. ... 'HEAVN' ist der klingende Beweis, dass mit Chicago als Heimstätte von afroamerikanischer Popmusik wieder zu rechnen ist."

Weiteres: Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel offenbart sich beim  Kammermusikfestival auf Lesbos in der regen Mitarbeit der lokalen Bevölkerung etwas vom Geiste Europas. Andreas Hartmann berichtet in der taz von den Berliner Feierlichkeiten zu Rio Reisers 20. Todestag. In der Zeit gratuliert Nina Pauer den Kessler-Zwillingen zum Achtzigsten.

Besprochen werden "Nichts überstürzen" von Phoria (Spex), eine Ausstellung in Berlin mit Alfred Steffens bislang unveröffentlichten Fotos von Prince (taz), ein Auftritt lettischer Musiker beim Berliner Yuung Euro Classic (Tagesspiegel), ein Konzert des Belcea Quartets (FR), das Berliner Konzert des norwegischen Jugendorchesters Ungdomssymfonikerne (Tagesspiegel) und das neue Album von Wendy Bevan (FR).
Archiv: Musik

Literatur

SZler Philipp Bovermann porträtiert die ägyptische Comiczeichnerin Deena Mohamed, die die Kopftuch tragende Superheldin Qahera geschaffen hat. Der Künstlerin, die selbst keine Verschleierung trägt, sieht dies auch als Statement in den ideologisch gefärbten Auseinandersetzungen: Die Figur sei "nicht deshalb eine mächtige Superheldin, weil sie einen Hidschab trägt, so Mohammed, sondern weil sie es in den Augen des Westens nicht ist. Qahera verkörpert das Dilemma der muslimischen Frau, die zwangsläufig vor den Karren einer Ideologie gespannt wird. ... Die Superheldin [verteidigt] das Recht auf innere Heldenhaftigkeit und Freiheit, während sie äußerlich aus dem ideologischen Tauziehen und dem damit verbundenen sozialen Druck als Frau sowieso nicht herauskommt."

Weiteres: In einer Notiz auf Tell empfiehlt Anselm Bühling Emmanuel LeRoy Laduries bereits 1986 erschienene Mittelalterstudie "Montaillou - Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324". FAZler Martin Lhotzky staunt über das lange Nachleben von Sherlock Holmes.

Besprochen werden Chris Petits "Butchers of Berlin" (The Quietus), die Neuauflage von Ilja Ehrenburgs "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" (Jungle World), Peter Careys "Amnesie" (FR), Franco Morettis "Distant Reading" (Zeit) und Aris Fioretos' "Mary" (SZ). Mehr aus dem literarischen Leben im Netz auf unserem Metablog Lit21.
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Bühne

Für die SZ unterhält sich Egbert Tholl mit Björn Bicker über dessen Duisburger Stadtraumprojekt "Urban Prayers Ruhr".

Archiv: Bühne

Film

Für den Tagesspiegel hat Nadine Lange das Filmfestival in Sarajevo besucht. Im ZeitMagazin träumt die Schauspielerin Alice Dwyer. Und der Bayerische Rundfunk befasst sich in einem großen Radiofeature mit der Geschichte der Prüderie im Film.

Besprochen werden die arte-Doku "Hollywood Confidential" (FR, hier in der Mediathek), der interaktive Online-Kurzfilm "Possibilia" des Regie-Duos Daniels (SZ) und Mia Hansen-Løves "Alles was kommt" mit Isabelle Huppert (taz, unsere Kritik hier).

Und Vice hat sich mit Werner Herzog unterhalten:

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Architektur

Von den Auflagen des guten Geschmacks lässt sich die Schau "Béton" in der Kunsthalle Wien glücklicherweise nicht leiten, berichtet Nicole Steyerer: Die Ausstellung rückt einen verfemten Baustoff und im Zuge auch den lange als hässlich geltenden, mittlerweile aber in Ansätzen wiederentdecken Brutalismus in Vordergrund: "Ist die Beschäftigung mit geschmacklich und ideologisch umstrittener Architektur nicht viel spannender, als bloß abgesegnete Perlen der Baukunst aufzufädeln", fragt sich die Kritikerin der FAZ und unterstreicht: "Nicht Nostalgie, sondern ein analytischer Zugang zeichnet die Schau aus, die das Scheitern der humanistisch orientierten Wiederaufbauphase in den Mittelpunkt rückt."

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