9punkt - Die Debattenrundschau

Die Grammatik der Selbstrechtfertigung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2014. In der taz fordert Thomas Piketty eine Vermögenssteuer, schon als Grundvoraussetzung für jede Demokratie. Auf Neunetz ahnt Marcel Weiß, warum die Presseverlage so gegen Google giften: Sie wollen ein neues Gesetz. Aber auch die Verlage erheben sich gegen Amazon. Die FAZ warnt vor den Gefahren des Internets. Und kann man heute noch Zoos machen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.06.2014 finden Sie hier

Politik

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty plädiert im Interview mit der taz für eine Vermögenssteuer. Die erst würde die Grundvoraussetzung für eine Debatte schaffen, sie würde nämlich Daten über die Besitzverteilung liefern: "Und diese Daten sind wichtig für die demokratische Debatte. Als 1902 die erste progressive Erbschaftsteuer in Frankreich eingeführt wurde, war die bedeutendste Folge, dass man plötzlich statistische Aussagen treffen konnte. Der Spitzensteuersatz betrug nur 2 Prozent. Aber die Daten zeigten, dass wir überhaupt keine gleiche Gesellschaft waren. Die Konzentration des Reichtums war exakt so hoch wie in Großbritannien - trotz der Französischen Revolution. Dieses neue Wissen hat dann die politische Debatte erst möglich gemacht."

Außerdem: Ulrike Hermann berichtet in der taz vom ersten TED-Salon in Deutschland, der mit Thomas Piketty eröffnete. Auf Slate.fr berichtet Bachir El Khoury von der Flucht der Christen aus der von Dschihadisten eingenommenen Stadt Mossul. Von den 30.000 Christen sind nur noch rund 50 Familien übrig.
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Internet

Mit ihrer Beschwerde gegen Google vor dem Bundeskartellamt wollen die Verlage vor allem eines, meint Marcel Weiß auf Neunetz, nämlich Google zwingen, für ihre Inhalte zu zahlen. Den nächsten Schritt kann er sich auch schon ausmalen: "Sollte die Beschwerde vor dem Kartellamt scheitern, haben die Presseverlage noch mehr Munition für ihren eigentlichen Plan. Wir armen Presseverlage können uns nicht gegen das übermächtige Google wehren, werden sie dann argumentieren. Unser Leistungsschutzrecht ist nicht durchsetzbar, werden sie in den Feuilletons analysieren. Wir brauchen ein weiteres Gesetz, werden sie schlussfolgern."

Auch die Buchverlage stehen auf, meldet Buchreport.de - und zwar gegen Amazon: "In den vergangenen Wochen hat der Börsenverein wiederholt Amazon für den Umgang mit Verlagsgruppen wie Bonnier kritisiert. Jetzt folgen Taten: Der Verband hat nach eigenen Angaben Beschwerde beim Bundeskartellamt eingereicht."

Detailliert geht Astrid Herbold auf Zeit Online den Meldungen des Buchhandels nach, die Leser würden Amazon allmählich den Rücken kehren und wieder in der Buchhandlung einkaufen. Herbold kann das nur in kleinsten Prozentzahlen bestätigen, die größere Verluste nicht wettmachen.

Im Leitartikel auf der Seite 1 der FAZ möchte Eckhard Lohse dringend Schutz vor den "Gefahren des Internets" - des Internets, nicht der Politiker, die uns mittels digitaler Technologien massenhaft ausspionieren. Im Gegenteil, gerade diese Politiker sollen"s nach Lohses Wunsch richten. Im Feuilleton fragt Jordan Mejias: Müssen wir Angst vor Supercomputer Watson haben? Klar, Angst! Mehr Angst, mehr, mehr, mehr.

Während deutsche Institutionen zähneklappernd in die Zukunft blicken und hoffen, sie ginge an ihnen vorbei, stutzt man in den USA über den Rückgang der Zahl von Programmierern. Offenbar ist die Ausbildung einfach zu langweilig und abstrakt, erklärt Tasneem Raja im amerikanischen Magazin Mother Jones. Vietnam macht das zum Beispiel viel besser, musste ein Googlemitarbeiter dort kürzlich lernen. Dabei sind Computer gar nicht so abstrakt wie man denkt: "So what is computational thinking? If you"ve ever improvised dinner, pat yourself on the back: You"ve engaged in some light CT. There are those who open the pantry to find a dusty bag of legumes and some sad-looking onions and think, "Lentil soup!" and those who think, "Chinese takeout." A practiced home cook can mentally sketch the path from raw ingredients to a hot meal, imagining how to substitute, divide, merge, apply external processes (heat, stirring), and so on until she achieves her end. Where the rest of us see a dead end, she sees the potential for something new."
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Gesellschaft

Im Aufmacher der FAZ berichtet Christian Geyer über eine Tagung von Zoodirektoren, die sich mit den Foderungen "beinharter Tierrechtler" auseinandersetzen mussten. Und Hellmut von Laer, Sprecher der Initiative yes2gaslicht.berlin, bangt in Berlin um die Gaslaternen, deren funzeliges Licht durch das "kalte, seelenlose Licht" neuer Elektrolampen ersetzt werden soll. (Vielleicht können dann ja Radfahrer und Fußgänger endlich auch nachts die Löcher in der Straße sehen.)
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Medien

Im Standard kommentiert Michael Völker empört den Versuch der österreichischen Regierung, die Berichterstattung über Untersuchungsausschüsse mittels einer "Geheimschutzverordnung" einzuschränken: Danach sollen "in einem ausgeklügelten System Informationen, die in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Sprache kommen könnten, katalogisiert und kategorisiert - und für geheim erklärt werden. Ausschusssitzungen müssten unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten werden. Medien, die dennoch berichten, werden mit strafrechtlichen Konsequenzen bedroht. Das ist nicht nur ein dreister Angriff auf die Pressefreiheit, das schränkt auch ganz massiv die Arbeit der Opposition ein, die ihrerseits wiederum auf Öffentlichkeit angewiesen ist."

Nach einem Streit zwischen Elke Heidenreich und Moderator Stefan Zweifel, der zum Rausschmiss des Moderators führte (obwohl er in der Frage eines von Heidenreich angeführten falschen Heidegger-Zitats recht hatte) lief gestern der neue "Literaturclub" des Schweizer Fernsehens. Als Zuschauer fragte man sich, ob der Moderator wenigstens nun wenigstens irgendwie verabschiedet wurde, schreibt Guido Kalberer im Tages-Anzeiger. Aber nein: "Der aus Hamburg eingeflogene Gastmoderator Rainer Moritz fand zwar viele hübsche Worte für die Romane, die besprochen wurden, aber kein einziges Wort für seinen Vorgänger. Korrekt ist das nicht, zumal Zweifel den Job mehr als zwei Jahre mit Engagement und Verve gemacht hat."
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Überwachung

Ilija Trojanow staunte beim Dresdner Theaterfestival "Parallel Lives" über die Aufführungen aus den ehemaligen kommunistischen Ländern, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzten: Was da alles erklärt werden muss, damit die Jungen es verstehen! Ungarische Revolution, Prager Frühling - kennen die jungen Leute gar nicht mehr. Dabei ist das alles wieder so aktuell, schreibt Trojanow in der taz: "Besonders eindrücklich ist in dem rumänischen Stück "Tipografic majuscul" (Schrift in Großbuchstaben) das Porträt eines gerade einmal sechzehnjährigen Schülers, der die Gleichschaltung in seiner Gesellschaft nicht erträgt und mit Kreide Parolen auf die Mauern schreibt, die Gerechtigkeit und Freiheit fordern. Geschickt baut das Stück den Konflikt zwischen individueller freiheitlicher Tat und der Reaktion eines gewaltigen Apparats auf, der sich in seiner perversen Existenz durch diese Parolen geradezu bestätigt sieht. Am Ende, nach getaner Vernichtungsarbeit, sitzen die Mitarbeiter der Securitate wie fröhliche Gäste in einer Talkshow mit übereinandergeschlagenen Beinen nebeneinander und deklinieren die Grammatik der Selbstrechtfertigung durch."

Nichts gegen Zuvorkommenheit, aber dass der Bundestag sein Internet ausgerechnet vom amerikanischen Anbieter Verizon bezieht, hält Andre Meister auf Netzpolitik doch für einen bemerkenswerten Service: "Verizon wird von der NSA bezahlt, um Daten an sie auszuleiten."
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Ideen

In der Welt würdigt Ulf Poschardt den vor dreißig Jahren verstorbenen Michel Foucault als Querdenker im Anzug: "Foucault nahm Drogen und lebte seine sexuellen Fantasien wohl aus, wenn man Klatsch und Biografien ernst nimmt. Sein Glatzkopf-eckige-Brille-enger-Anzug-Style wurde prägend für mehrere Generationen von Intellektuellen, seine Texte bleiben eine Herausforderung. Sie machen es niemandem einfach. Sie gehen eigentlich gegen jede Form banaler Gewissheit vor."

Tania Martini und Enrico Ippolito reisen für die taz anlässlich seines 30. Todestages zum Geburtsort Foucaults. Und Eva Dietrich reist für die NZZ auf der Suche nach Prometheus nach Stepanzminda, einem georgischen Dorf am Fuße des Bergs Kasbek.
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