9punkt - Die Debattenrundschau

Bei jeder Gelegenheit relativieren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2022. Netzpolitik und The Intercept schildern das Ausmaß der Handyüberwachung im Iran, die DemonstrantInnen in Lebensgefahr bringen kann. Der Kampf gegen das Kopftuch im Iran und der Kampf für das Kopftuch in westlichen Gesellschaften sind eigentlich dasselbe, behaupten der Soziologe Eric Fassin und die Historikerin Joan W. Scott im NouvelObs. Die NZZ erklärt, warum sich linke Intellektuelle in Frankreich um den Antisemitismusvorwurf keine Sorgen machen. Die FAZ beteuert: In den Neuen Ländern demonstriert nur eine kleine Minderheit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.11.2022 finden Sie hier

Politik

Die Intervention im Irak hat die Amerikaner und besonders die Obama-Regierung traumatisiert. Darum ließ sie Wladimir Putin in Syrien mehr oder weniger gewähren, und auch diese Nicht-Intervention war ein entscheidender Fehler, sagt die Kriegsreporterin Edith Bouvier im Gespräch mit  Jürg Altwegg von der FAZ (ihr Dokumentarfilm "Syrien - Putins Testlabor" läuft heute Abend in Arte): "Präsident Obama hatte den Einsatz chemischer Waffen als rote Linie bezeichnet. Putin hat sie überschritten - nichts geschah. Das war die entscheidende Wende. Ein paar Monate später annektierte Russland die Krim. Der Rückzug nach den Drohungen war umso unverständlicher, da eine Intervention ohne Bodentruppen möglich war. Es wäre darum gegangen, ein Signal nach Moskau zu senden."

In der taz ist Alina Schwermer begeistert, wie selbstverständlich sich im Iran Sportler politisch äußern, obwohl sie besonders scharf vom Staat kontrolliert werden: "Zurückgetreten vom Nationalteam: Taekwondo-Athletin Mahsa Sadeghi, 'aus Respekt vor den iranischen Frauen'. Zurückgetreten vom Nationalteam: Fechter Mojtaba Abedin ('die Menschen in meinem Land werden verachtet und verprügelt'). Zurückgetreten vom Nationalteam: Saijad Esteki, der Kapitän der Handballer. Ebenso zurückgetreten: Fereshteh Sarani, die Kapitänin der Rugbyspielerinnen. Es sind nicht nur die pensionierten Ikonen des Männerfußballs - Ali Karimi, Vahid Hashemian, Ali Daei -, die sich äußern; reihenweise riskieren Aktive in ungewöhnlicher Radikalität ihre Laufbahn. Soroush Rafiei vom Spitzenklub FC Persepolis erklärte, sein Team hätte kein Interesse mehr, über Fußball zu reden oder überhaupt zu spielen. 'Wer seid ihr, dass ihr mir sagen wollt, wie meine Frau sich anziehen soll?' Das ist ein nie dagewesener Ton. Man riskiert ihn, wenn man glaubt, dass eine Diktatur ihrem Ende entgegengeht."
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Stichwörter: Iran, Syrienkrieg, Krim, Irak

Gesellschaft

In der taz würdigt Lale Artun die verstorbene Mevlüde Genç, die zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen bei dem Brandanschlag in Solingen verlor, und sich dennoch für Versöhnung einsetzte. Die CDU hatte vor dem Anschlag monatelang gegen Flüchtlinge Stimmung gemacht und drei Tage vor dem Anschlag mit Hilfe der SPD eine Einschränkung des Asylgrundrechts durchgesetzt: "Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich bei der Trauerfeier in Solingen 1993 entschuldigen: Man wolle keinen 'Beileidstourismus', sagte sein Regierungssprecher, und Kohl habe 'nun weiß Gott auch andere wichtige Termine'. Sich diese gefährlichen Unverschämtheiten erinnernd vor Augen zu führen, schärft das Bewusstsein für die Leistung Mevlüde Gençs. Es braucht Größe, es braucht schier grenzenlose Menschenliebe, um nach der Ermordung fünf seiner Kinder und Kindeskinder zur Versöhnung aufzurufen - während das Land der Täter sich in Ausflüchten und Abwiegelung übt."
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Kulturpolitik

Andreas Kitschke von der "Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam" verteidigt in der FAZ das Projekt des Wiederaufbaus der Kirche, das von "einer Gruppe von Aktivisten um den Architekturhistoriker Philipp Oswalt" als rechtsextrems Projekt in Verruf gebracht worden sei. Morgen entscheidet sich, ob das Kirchenschiff wiederaufgebaut werden kann. Es gehe um die Wiederherstellung des "charakteristischen Potsdamer Drei-Kirchen-Blicks", so Kitschke. Das ganze Projekt wolle "Glanz und Elend der preußisch-deutschen Geschichte" widerspiegeln. Auch mit dem umstrittenen Gebäudeschmuck verhalte es sich ganz harmlos: "Die Wetterfahne mit dem zur Sonne (einem alten Christussymbol) auffliegenden preußischen Adler symbolisiert die Unterordnung des Herrschers unter den Willen Gottes. Die Gegner dieses Gebäudeschmucks stören sich dagegen nicht an offensichtlichen architektonischen Drohgebärden wie nach Westen fliegenden Kampfflugzeugen und einer zugehörigen Radarstation am Mosaikband des von ihnen gepriesenen Rechenzentrums, das die Ideologie des SED-Staates widerspiegelt." Und übrigens sei der "Tag von Potsdam" der Stadt schon seinerzeit peinlich gewesen.
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Überwachung

Die iranische Regierung kann offenbar problemlos kontrollieren, wer mit wem im Iran kommuniziert, berichtet bei Netzpolitik Julien Schat, der sich dabei auf eine Recherche von The Intercept beruft. "Unter anderem kann das Überwachungsprogramm Identitätsprofile und Standortverläufe von Personen ermitteln, Protestteilnehmende ausfindig machen oder bestimmte Handynutzer:innen ins unsichere 2G-Netz umleiten. Dazu müssen die Mobilfunkanbieter knapp dreißig Kontroll- und Überwachungsfunktionen bereitstellen. 'Diese Funktionen können in einem Land wie dem Iran, in dem es keine fairen Gerichtsverfahren und keine Rechenschaftspflicht gibt, zu lebensgefährlichen Situationen führen und stellen eine massive Verletzung der Menschenrechte dar', sagt Amir Rashidi, Experte für Internetsicherheit und digitale Rechte mit Schwerpunkt Iran. Sie könnten sehr einfach gegen Protestierende eingesetzt werden, die ihr Leben im Einsatz für ihre Grundrechte riskieren."
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Ideen

Der Kampf gegen das Kopftuch im Iran und der Kampf für das Kopftuch in westlichen Gesellschaften sind eigentlich dasselbe, behaupten der Soziologe Eric Fassin und die Historikerin Joan W. Scott im NouvelObs: "Es handelt sich stets um einen 'Pro-Choice'-Feminismus. Es geht um Freiheit - oder anders gesagt: um einen universalistischen Wert. Deshalb ist es kein Widerspruch, das Recht von Frauen zu unterstützen, hier ein Kopftuch zu tragen und dort keines zu tragen, kurz: sich so zu kleiden, wie sie es wollen. Im einen wie im anderen Fall protestieren Feministinnen gegen einen Staat, der die Freiheit ihrer Wahl behindert. In beiden Fällen bekämpfen sie alle Formen patriarchaler Herrschaft, das aufgezwungene Kopftuch ebenso wie die erzwungene Enthüllung." Nur: Wenn das Kopftuch eine Modeoption ist, ist es dann noch das Kopftuch?
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Stichwörter: Kopftuchdebatte, Feminismus

Internet

Elon Musk hat bekanntlich Twitter übernommen und nicht nur einige ziemlich problematische Tweets abgesetzt (etwa eine Verschwörungstheorie zum Hammeranschlag auf den Ehemann von Nancy Pelosi), sondern baut den Laden auch um - mit unabsehbaren Konsequenzen. Die Tugendfraktion bei Twitter wandert darum inzwischen zum alternativen Netzwerk Mastodon ab und behauptet, sich in diesem Szenecafé (das hoffentlich noch entwickelt) wohl zu fühlen. Federica Matteoni erklärt in der Berliner Zeitung, warum sie vorerst bei Twitter bleibt: "Soziale Medien waren nie ein von Widersprüchen befreiter 'Safe Space'. Nichts gegen den Wunsch, unter sich zu bleiben. Aber das ist das Gegenteil von freier Debattenkultur, eher der narzisstische Wunsch nach Bestätigung, zu den 'Guten' zu gehören. Und das ist - neben Hetze und Fake News - einer der negativen Entwicklungen der vergangenen Jahren im Social Web."
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Europa

In Frankreich verstehen sich linke Intellektuelle noch "ganz selbstverständlich als Kräfte des Guten", diagnostiziert Claudia Mäder in der NZZ. Da ist Antisemitismus überhaupt kein Thema. "Dass über Annie Ernaux' Engagement [für den BDS] nicht debattiert wird, ist symptomatisch. In linken Kreisen ist Antisemitismus zu einer Leerstelle geworden, Reflexionen darüber sind Raritäten. Und eben das ist der entscheidende Punkt. Über die Frage, ob diese Unterschrift unter jenem offenen Brief einen Menschen zum Antisemiten macht, kann man endlos streiten; der Erkenntnisgewinn wird gering bleiben. Denn wo die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und einer klar antisemitischen Haltung verläuft, werden verschiedene Leute in manchen Fällen unterschiedlich beurteilen. Hingegen kann kein Mensch bestreiten, dass die Intellektuellen der äußersten französischen Linken kaum noch ein Interesse an Fragen des Antisemitismus zeigen und das Problem bei jeder Gelegenheit relativieren."

Die Mauer ist zwar länger weg als sie stand. Aber das Seelenprofil der DDR-Bewohner - oder zumindest eines gewissen Milieus - hebt sich deutlicher vom Westen ab denn je. Schon werden wieder Flüchtlingsheime angesteckt, und in den Städten wird demonstriert. Es handle sich wie seinerzeit bei Pegida nur um eine "kleine radikale Minderheit", die da aufbegehrt, beteuert Philip Eppelsheim im Leitartikel der FAZ: "Die Bewegung mag neu scheinen, die Akteure aber sind die alten. Es wird ihnen auch dieses Mal nicht gelingen, im bürgerlichen Milieu Fuß zu fassen. So wie Pegida sich in die Bedeutungslosigkeit lief, wird sich auch diese Protestbewegung als öffentlich sichtbare Gruppe früher oder später von selbst erledigen. Es ist eben doch nur eine begrenzte Anzahl bereit, sich mit Extremisten zusammenzutun."
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