9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schicksal des Gedenkens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2021. In Moskau hat das Internet die Medien besiegt, das Staatsfernsehen kommt gegen Alexei Nawalnys Film "Putins Palast" nicht an, berichtet die FAZ. Und Viktor Jerofejew sieht Putin und Nawalny in der FAZ  "in einem tödlichen Kampf". Heute ist Auschwitz-Gedenktag, aber "die deutsche Erinnerungskultur ist ein seltsames Wesen", schreibt Henryk Broder in der Welt. Springer-Chef Mathias Döpfner fordert in einem offenen Brief an Ursula von der Leyen die Entmachtung von Google, Facebook und Co. Die Schriftstellerin Nele Pollatschek grübelt in der SZ über das Für und Wider des generischen Maskulinums.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2021 finden Sie hier

Europa

In Moskau hat das Internet die Medien besiegt, das Staatsfernsehen kommt gegen Alexej Nawalnys Film "Putins Palast" nicht an, berichtet FAZ-Korrepondent Friedrich Schmidt. Und die russischen und belarussischen Protestbewegungen bestärken sich: "Nawalny und Maria Kolesnikowa eint, dass sie die Heimat um den Preis von Haft oder Schlimmerem dem Exil vorzogen: Nawalny kehrte trotz Drohungen aus Deutschland nach Russland zurück, Kolesnikowa lehnte eine Rückkehr nach Deutschland, wo sie lange arbeitete, ab, zerriss, als der Geheimdienst sie in die Ukraine schaffen wollte, ihren Pass. Am Samstag sah man in Moskau die weiß-rot-weiße belarussische Protestflagge, hörte den Protestslogan 'Es lebe Belarus' und das aus Minsk bekannte Hupen von Autofahrern in Solidarität mit den Demonstranten." Ein Schwerpunkt des Stuttgarter Festivals für neue Musik "Eclats" ist übrigens Kolesnikowa gewidmet, die dort vor ihrer Rückkehr als Social-Media-Expertin gearbeitet hatte - mehr hier.

Die Vergiftung Nawalnys und seine Rache durch Bloßstellung durch Rückkehr und Video hat in Russland selbst Menschen elektrisiert, die sonst mit Politik nichts am Hut haben, schreibt Viktor Jerofejew in der FAZ: "Ein tödlicher Kampf zwischen Nawalny und Putin hat begonnen. Allerdings hat Putin schon vor dem rachevergifteten Palast-Video Nawalnyj keineswegs unterschätzt. Bezeichnenderweise nennt er ihn nie beim Namen. Im System des Zaubermärchens, in dem Russland seit je existiert, ist dies das größte Kompliment."
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Geschichte

Heute ist Auschwitz-Gedenktag. Henryk Broder wirkt in der Welt eher resigniert: "Die deutsche Erinnerungskultur ist ein seltsames Wesen, fast so rätselhaft wie die Willkommenskultur. Sie dient nicht einer Erinnerung, die in die Zukunft wirkt, sondern einem verklärenden Blick zurück, voller Verlangen nach Absolution und Anerkennung." Die Rede von der "Singularität" des Holocaust erscheint Broder übrigens eher wie eine Ausrede: "Wenn Auschwitz, wie immer wieder festgestellt wird, ein 'einzigartiges' Verbrechen war, etwas, das es vorher in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben hat, dann muss man sich auch keine Sorgen machen, dass es sich wiederholen könnte. Etwas, das einzigartig, 'singulär', ist, kann sich nicht wiederholen." Welt-Thomas Schmid erzählt zum Gedenktag drei Geschichten aus Lodz, unter anderem die von den Nazis eingesetzten Bürgermeisters der Stadt, Werner Ventzki, der die Vernichtung des Ghettos überwachte und später als Vertriebenenfunktionär eine prächtige Karriere machte.

Michael Wuliger, ehemals Redakteur der Jüdischen Allgemeinen, schreibt bei Facebook: "Im Frühjahr 1944 wurden die mehr als 7000 Juden aus Kisvárda und Umgebung von der ungarischen Gendarmerie in einem provisorischen Ghetto zusammengetrieben. Von dort deportierten die Deutschen sie zwei Wochen später, an Schawuot, nach Auschwitz. Dort starben Armin Wulliger, Berta Wulliger, Charlotte Wulliger, Ethel Wulliger, Jenni Wulliger und Wilma Wulliger."

Bernd Müllender erzählt in der taz die Geschichte des SS-Manns Hans-Ernst Schneider, der als Mitglied von Heinrich Himmlers "Ahnenerbe" etwa für die Plünderung der Bibliothek Lion Feuchtwangers verantwortlich war und nach dem Krieg als vermisst galt. In Wirklichkeit hat er seinen Namen in Hans Schwerte geändert und seine Scheinwitwe neu geheiratet. Ein Fall erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung! "1965 kam er nach Aachen und avancierte endgültig vom Germanen zum Germanisten. Schwerte war Faust-Fachmann mit, ach, zwei Seelen in der Brust. Er gab sich ausgewiesen fortschrittlich und linksliberal, galt als Grandseigneur des Fachbereichs, absolut integer, bei den Studierenden überaus beliebt. 1995 flog die Doppelidentität auf."

Angesichts eines erstarkenden Antisemitismus zeigt sich Rüdiger Mahlo von der Jewish Claims Conference in Deutschland erfreut, dass die Bundesregierung 2020 die Ahndung von Holocaustleugnung verschärft hat. Aber es braucht mehr, vor allem mehr Unterricht in den Schulen zum Thema, meint er: "Als größter Förderer von Projekten zur Erforschung und Vermittlung der Schoah hat die Claims Conference in mehreren Ländern Studien in Auftrag gegeben, die das Wissen über den Holocaust unter Jugendlichen abfragen sollten. Das erschreckende Ergebnis: Ein großer Teil kann bereits mit dem Begriff Auschwitz nichts mehr anfangen. Auf der anderen Seite sagen etwa drei Viertel der Befragten, dass das Lernen über den Holocaust wichtig sei und 82 Prozent begrüßen die Vermittlung des Holocausts in der Schule. Das Schicksal des Gedenkens an die Schoah in unserer Gesellschaft und der daraus ableitenden Haltungen, gegen Antisemitismus und Rassismus einzustehen, liegt in unser aller Hand."

Dabei gibt es gute Ansätze, erzählt Steffi Hentschke auf Zeit online, vor allem im Netz die Erinnerung zu bewahren: "Michael Löffelsender weiß, was an diesem Tag vor 76 Jahren geschah. Für das Projekt #otd1945 hat der Historiker einzelne Geschehnisse im Konzentrationslager Buchenwald und der Außenstelle Mittelbau-Dora recherchiert. Seit Anfang Januar veröffentlicht er täglich einen Ausschnitt auf dem Blog liberation.buchenwald.de. ... 2005 erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zum internationalen Holocaust-Gedenktag. In diesem Jahr finden die Veranstaltungen dazu erstmals und fast überall auf der Welt ausschließlich online statt. Die Stadt Freiburg lädt zur Podiumsdiskussion über Antisemitismus damals und heute, das Holocaust-Museum in Skokie in Illinios bietet ein Gespräch mit zwei Überlebenden an. Das Goethe-Institut Israel debattiert über 'das Monster der Erinnerung', inspiriert vom Roman Monster von Yishai Sarid. In dem Buch untersucht der israelische Schriftsteller, warum das Geschichtsbewusstsein trotz Erinnerungspolitik schwindet. Die Feststellung treibt auch Gedenkstätten und Holocaustforscherinnen um und lässt sie fragen: Kann digitales Erinnern gelingen?" (Im Tagesspiegel verweist Simone Reber noch auf eine Online-Schau im Willy-Brandt-Haus mit rund 200 Porträts von Überlebenden des Holocaust.)

Wenn die letzten Überlebenden der Schoah gestorben sind, wer erbt dann ihre Autorität, fragt in der FR Aleida Assmann, die die Frage der neuen Deutungshoheit umtreibt, vor allem was die Definition von Antisemitismus angeht: "Wenn sie nicht mehr mit- und widersprechen können, wem gehört dann der Holocaust, wer übernimmt die Verantwortung und Deutungshoheit? Die Politiker? Sicher nicht allein, denn die Verantwortung tragen wir alle. Als eine problematische Form der Politisierung erfahre ich zurzeit eine neue Antisemitismusdefinition, die sich vom klassischen Antisemitismus zunehmend auf den sogenannten modernen Antisemitismus verlagert, womit Kritik an der israelischen Regierung gemeint ist. Problematisch ist diese Verschiebung des Begriffs vor allem deshalb, weil denen, die ihn forcieren, das Schmieden rechter politischer Allianzen offensichtlich mehr bedeutet als der gerade jetzt so wichtige gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus."
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Politik

Der irische Katholizismus, aus dem Joe Biden kommt, hat nichts von der barocken Buntheit des mediterranen, schreibt der Amerikanist Michael Hochgeschwender in der FAZ über Bidens so ostentativ vorgetragenen Glauben: "Selbst die St. Patrick's Parade wurde von anglikanischen Iren erfunden und erst spät von irischen Katholiken übernommen. Es ist ein Katholizismus, der aus Erzählungen über Verfolgung, Unterdrückung, Massensterben und religiöse und patriotische Opfergänge seine Intensität bezieht, und dies nicht nur in Irland, sondern auch in den Vereinigten Staaten."
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Gesellschaft

Für den Duden sind Ärzte jetzt Männer, immer. Und Ärztinnen Frauen, immer. Das generische Maskulinum hat er damit nicht abgeschafft, meint leicht müde die Schriftstellerin Nele Pollatschek in der SZ, das kann er nicht, aber er hat es sozusagen unsichtbar gemacht. Ist das ein Gewinn? Pollatschek hat Zweifel: "Die meisten Menschen wollen nicht, dass jeder Aspekt ihrer Identität immer sichtbar ist. Schafften wir das generische Maskulinum nach Dudenvorbild ab, dann wäre jeder Berufsausübende in jeder Berufsbezeichnung männlich oder weiblich markiert. Ob wir wollen oder nicht. Und es gibt Menschen, die das nicht wollen. Nicht nur nicht-binäre Menschen ... Sondern auch alle Menschen - und zu denen gehöre ich -, die einfach nicht in jeder Berufsbezeichnung eindeutig männlich oder weiblich markiert werden wollen. Weil sie Geschlecht für nicht sehr wichtig halten ... Weil sie denken: Mein Geschlecht gehört mir. Nicht der Öffentlichkeit, nicht meinem Arbeitgeber."

Warum kann man die oft riesigen, jetzt leer stehenden Museumsräume, Theater oder Konzerthäuser in Deutschland nicht für die Schulen öffnen, fragen Catrin Lorch und Paul Munzinger noch einmal in der SZ und unterhalten sich mit NRWs Jusovorsitzender und Lehrerin Jessica Rosenthal, die erklärt, wie wichtig das wäre: "Nein, auch Rosenthal will die Schulen nicht einfach wieder öffnen. Aber sie will sich auch nicht einfach damit abfinden, dass bis Mitte Februar und womöglich noch darüber hinaus Lernen nur auf Distanz möglich sein soll. Das sei 'fatal', findet sie. Für viele Kinder heiße das nämlich, dass überhaupt kein Lernen möglich ist. Weil die Schule kein Wlan hat, weil die Eltern sich zwar Mühe geben, aber kaum Deutsch sprechen, weil die Kinder sich mit vier Geschwistern ein Zimmer teilen müssen."
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Medien

Der Springer-Chef und Hauptlobbyist der Zeitungsbranche Mathias Döpfner entwickelt in einem ausufernden offenen Brief an Ursula von der Leyen viel Tremolo (so gut wie sein einstiger Kumpel Frank Schirrmacher ist er dabei aber nicht), um die EU-Kommissionspräsidentin aufzufordern, endlich Google, Facebook und Co. zu entmachten. "In der EU sollte es Plattformen verboten sein, private (also: persönlichkeitsrelevante und sensible) Daten zu speichern und für kommerzielle Zwecke zu verwenden. Dies muss Gesetz werden. Und es muss über die geltende Datenschutzgrundverordnung und andere bestehende Gesetze in einem entscheidenden Punkt hinaus gehen: Jede Relativierung durch vermeintliche Freiwilligkeit muss ausgeschlossen sein."

Julia Reda kommentiert Döpfners Text auf Twitter so:



Die CDU des Landes Sachsen-Anhalt wollte bei der bereits als beschlossen geltenden Gebührenerhöhung für die öffentlich-rechtlichen Sender nicht mitmachen. Nun wird die ARD ausgerechnet in Halle sparen, berichtet Peter Weissenburger in der taz: "Schon am Freitag hatte der MDR bekanntgegeben, dass die geplante 'gemeinsame Kulturplattform' der ARD-Anstalten, die in Halle angesiedelt sein sollte, bis aus Weiteres nicht kommen wird. Entsprechendes angedeutet hatte schon ARD-Chef Tom Buhrow im alten Jahr: keine Finanzierung, kein Ausbau in Halle. Das kann man entweder als Strafe verstehen oder als notwendige Konsequenz, je nachdem, wo man steht. Dem MDR fehlen - wenn die Erhöhung des Rundfunkbeitrags nicht doch noch nachgeholt wird - in den nächsten vier Jahren 165 Millionen Euro."
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Ideen

In der NZZ fühlen sich der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld und der Ökonom Philipp Kovce von den Ratschlägen der Wissenschaft in der Pandemie entmündigt - vor allem, wenn sie als alternativlos hingestellt werden. Schließlich stürben vor allem über 80-Jährige, die man einfach besser schützen müsse: "Die Freiheit des einen hört in liberalen Demokratien selbstverständlich dort auf, wo sie andere konkret bedroht. Doch diese Bedrohung besteht - den ebenso freiwilligen wie wirksamen Schutz von Risikopersonen vorausgesetzt - durch das sogenannte 'Killervirus' gerade nicht. Dennoch gibt es zahlreiche Corona-Krieger, die unter falscher Flagge der Wissenschaft den Staatsfeind Nummer Sars-CoV-2 unverzüglich um jeden Preis vernichten wollen (Stichwort: 'Zero Covid'). Für Mündigkeit und Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung haben diese Kriegstreiber keine Zeit. Sie beschwören lieber harte, härtere, härteste Maßnahmen und verklären deren Befolgung zu einem Akt nationaler Solidarität."
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