9punkt - Die Debattenrundschau

Einblick in den Schmerz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2021.  In der SZ staunt Friedrich Christian Delius über den Einfluss der Lyrik auf Joe Bidens politischen Werdegang. Golem.de berichtet, dass die VG Media sich jetzt in "Corint" umbenennt, um jetzt auch international die Bagatellgrenzen zu überwachen.  Die USA müssen sich politisch modernisieren, fordert der Philosoph Christian Lotz in der FR. In der NZZ hofft Timothy Garton Ash auf einen konservativ-sozialistischen Liberalismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.01.2021 finden Sie hier

Europa

Alexej Nawalny ist gleich nach seiner Rückkehr nach Moskau und einem fingierten Schnellverfahren für dreißig Tage ins Gefängnis gesteckt worden, in einer kurzen Videobotschaft konnte er immerhin noch den "Opa im Bunker" attackieren. Für Kerstin Holm in der FAZ gleicht Nawalny "auch dem Helden des russischen Märchens, der den Kampf gegen den bösen Zauberer, den unsterblichen Kaschtschej, aufnimmt, der die Menschen in Stein verwandelt."

Es interessiert die Deutschen und die Medien, die unaufhörlich über Laschet-Merz-Spahn-Söder spekulierten, zwar kaum, aber der neue CDU-Vorsitzende und mögliche Kanzlerkandidat Armin Laschet hat ein paar ziemlich problematische außenpolitische Positionen, auf die Mathieu von Rohr gestern bei spiegel.de hinwies: "Laschet beschuldigte die USA fälschlicherweise, den 'Islamischen Staat' gegen Assad unterstützt zu haben - in Wahrheit kämpften die von den USA unterstützten Oppositionsgruppen gegen den 'IS'. Doch Laschet teilte die Regime-Propaganda, die alle Oppositionsgruppen mit dem 'IS' gleichsetzte - und teilte auf Twitter 2018 die vom Assad-Regime verbreitete These, der 'IS' habe die Chemiewaffenattacke auf das von Rebellen kontrollierte Ost-Ghouta bei Damaskus zu verantworten und nicht das Regime selbst - obwohl der 'IS' in Ost-Ghouta gar nie vertreten war. Laschet schrieb zudem: 'Lösung in Syrien gibt es nur mit Russland'. Mit dem Russland also, das in Syrien Assad unterstützt und seit Jahren Zivilisten und Krankenhäuser bombardiert."
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Medien

Nachdem Hauptlobbyist Springer das Leistungsschutzrecht für Presseinhalte europäisch durchgesetzt hat, ändert die VG Media, die bisher innerhalb Deutschlands vergeblich Gelder von Google eintreiben wollte, ihren Namen in "Corint", berichtet Friedhelm Greis bei golem.de. Damit will die Verwertungsgesellschaft nun international agieren: "Die Marke Corint leitet sich demnach aus den Wörtern Copyright International ab. Zudem soll sie auf die antike griechische Stadt Korinth Bezug nehmen. Die Stadt sei 'einer der demokratiegeschichtlichen Ausgangspunkte Europas'. Laut Geschäftsführer Markus Runde müssen 'der Schutz und die Durchsetzung geistigen Eigentums starke Säulen jeder demokratischen Gesellschaft sein'." Schöner Gedanke das, aber darf man ihn künftig noch zitieren?

Der NDR kürzt der Mediensendung "Zapp" das Budget um ein Viertel, lässt sie nur noch monatlich auf den Sender und im übrigen ins Internet abwandern, berichtet Steffen Grimberg in der taz. Auswirkungen könnten ähnlich wie bei Streichungen in Zeitungen sein (über die in Zeitungen selbstverständlich kaum  berichtet wird): "Was passiert, wenn die garantierte 'Abwurfstelle', also die Fachsendung, verloren geht oder drastisch beschnitten wird, konnte man bei der Zeit oder im Spiegel besichtigen. Seitdem hier die Medienseite(n) beziehungsweise die Medienressorts abgeschafft wurden, hat die Zahl der verhandelten Medienthemen massiv abgenommen."
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Ideen

In der FR diagnostiziert Christian Lotz, Professor für Philosophie an der Michigan State University, eine strukturelle Krise der USA, die vor allem von einer Verfassung geprägt ist, die nicht mehr ins 21. Jahrhundert passt. Auch, weil ihre durch und durch förderalistische Ausrichtung jede nationale Anstrengung zur Behebung von Missständen untergräbt. Besonders gut kann man das bei den Wahlen erkennen: "Die Wahlverfahren sind unorganisiert und basieren auf Regeln und Technologien, die nicht national einheitlich sind, selbst wenn es um die Wahl des Präsidenten geht. Die Briefwahl hat dieses Jahr gezeigt, wie das System dysfunktional wird. Zum Beispiel konnte man in einigen Staaten erst kurz vor der Abstimmung die Briefwahl beantragen, obwohl klar war, dass die nationale Post mit riesigen Lieferverzögerungen zu kämpfen hatte. Die Wahlkarten sind nicht immer eindeutig, so dass viele Menschen sie an der falschen Stelle unterschreiben und ihre Stimmen ungültig werden. Aufgrund von schwerer Überlastung der nationalen Post wurde den Gerüchten, dass es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugeht, Vorschub geleistet. Die Wahlregistrierung bleibt aufgrund von unterschiedlichen Pass- und Identitätsdokumenten chaotisch und kann so von Trumpisten ausgenutzt werden."

Der neue Präsident der USA ist ein guter Mann und das nicht zuletzt, weil er als Kind gestottert hat, schreibt in der SZ Friedrich Christian Delius, der sich auf Youtube eine Rede Joe Bidens bei einem Galaabend der National Stuttering Association angehört hat: "Wer so über Schmerzen, Scham, Selbsthass und Demütigungen spricht, kann kein ganz schlechter Politiker sein", schreibt ein tief beeindruckter Delius. "Anschaulich und witzig erzählt der Vizepräsident, wie er als Junge vor dem Spiegel stand und sich dafür hasste und schämte, dass sein schweres Stottern, seine verzerrte Sprache auch seine Gesichtszüge verzerrten und hässlich machten. Wie er vor dem Spiegel trainierte, Gedichte von Ralph Waldo Emerson und William Butler Yeats so zu lesen, dass sich seine Gesichtsmuskeln immer weniger verzogen. Wie er über den Rhythmus der Verse für sich selbst einen Sprechrhythmus fand, der seine Züge nicht mehr entstellte, und wie er nach und nach Kontrolle gewann über das, was er sagte. ... Über keine Behinderung wird so gelacht wie über das Stottern. Das schärft bei denen, die solche Kränkungen erlebt haben, die Menschenkenntnis. Sie wittern schnell, auf wen man sich verlassen kann. Bei Joe Biden wird diese Erfahrung des Stotterns sogar zu einer staatstragenden Haltung: Der Kampf mit dem Stottern 'gab mir Einblick in den Schmerz, in das Leid anderer Menschen, ich lernte, dass jeder etwas hat, wogegen er kämpfen muss und manchmal versucht zu verstecken'."



Die NZZ hat einen Text von Timothy Garton Ash aus dem britischen Prospect Magazin übernommen, in dem sich der britische Denker für einen neuen Liberalismus einsetzt, der es mit dem "Entwicklungsautoritarismus" Chinas aufnehmen kann: "Wir hätten auf Pierre Hassner hören sollen. Der brillante französische Politphilosoph, in Rumänien geboren, äußerte schon 1991 die Warnung, auch wenn wir zu Recht den Triumph der Freiheit am Ende des Kalten Krieges feierten, müssten wir bedenken, dass die Menschheit nicht von universeller Freiheit allein lebe. Er sagte voraus, dass der Drang zu Nationalismus und Sozialismus zurückkehren werde, und er erklärte ihn auch: als Sehnsucht nach Gemeinschaft und Identität einerseits, nach Gleichheit und Solidarität anderseits. Dank dieser klarsichtigen Analyse können wir eine Diagnose stellen, was in vielen liberalen Demokratien schiefgelaufen ist, aber auch ein Rezept finden. Gemeinschaft und Identität sind Werte (und menschliche Grundbedürfnisse), die das konservative Denken pflegt, während die sozialistische Tradition auf Gleichheit und Solidarität achtet. Im nicht nur scherzhaften Geist eines gefeierten Essays des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski schlage ich deshalb vor, dass wir uns als konservativ-sozialistische Liberale versuchen."
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Gesellschaft

Die Coronakrise ist auch eine Krise der Öffentlichkeit und des öffentlichen Raums, fürchtet Adrian Lobe in der taz: "Die Soziologin Jane Jacob schreibt in ihrem Klassiker 'Tod und Leben großer amerikanischer Städte', dass Städte 'Generatoren von Vielfalt' seien. Büros, Fabriken, Schulen locken Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft an. Wenn diese Einrichtungen aber geschlossen sind, wenn die Kontaktfunktion der Gehwege, wie Jacobs es nennt, wegen des Lockdowns außer Kraft gesetzt ist, bleibt die Vielfalt auf der Strecke."
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Religion

Die Aufklärung über sexuellen Missbrauch wird von Kirchenoberen weiter kräftig hintertrieben. Vor kurzem wollte der Kölner Erzbischof Woelki Journalisten ein bisher zurückgehaltenes Gutachten zeigen, aber nur wenn sie darüber schweigen, was sie nicht schriftlich versichern wollten. Beraten wird Woelki von einer Anwaltskanzlei, die sonst für Tayyip Erdogan ud die AfD arbeitet, berichtet Philipp Gessler in der taz: "Die Website der Kanzlei warb mit dem Versprechen: 'Mit 'Zuckerbrot und Peitsche' vermeiden wir negative Berichterstattung schon im Vorfeld. Sollten wir sie nicht ganz verhindern können, mildern wir sie zumindest ab.' Am Rhein kursiert die Einschätzung, die Beratung des Erzbistums durch angebliche PR-Profis und Anwälte habe schon Hunderttausende Euro gekostet. Eine Schande, wenn man bedenkt, mit welchen Brosamen fast alle Missbrauchsopfer abgespeist wurden."
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Geschichte

Am 19. Januar 1871, in den Tagen der Reichsgründung, wurde der Historiker Ferdinand Gregorovius, Autor der berühmten "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter", fünfzig. Wenig später zog er sich doch lieber wieder nach Rom zurück, erzählt Gustav Seibt auf sueddeutsche.de in einem schönen Gedenkartikel: "Im selben Jahr, in dem auch Richard Wagners "Ring" erstmals in Bayreuth aufgeführt wurde, bilanzierte er in einem Brief mit einem fast nietzscheanischen Akzent den modischen Germanenkult des neuen deutschen Reichs: 'Die Größe des deutschen Genius, ja seine wahrste und innerste Nationalität, bestand bisher in seiner kosmopolitischen und humanen Idee - nun sollen diese geweihten Gefilde verlassen werden, und man zwingt uns in die Eiszeit des Germanentums mit ihren Recken, Lindwürmern und Höhlenbären zurück. Dieser Anachronismus wird sich rächen.'"
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