9punkt - Die Debattenrundschau

Die Erosion des Vertrauens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2018. Für ein paar Sekunden unterbrachen Aktivistinnen von Pussy Riot das WM-Finale und erinnerten daran, dass wir es bei Russland nicht mit einem "himmlischen Polizisten" zu tun haben - Masha Gessen schreibt im New Yorker. Golem.de zeigt, wie Russland und Wikileaks kooperierten, um Trump in seinem Wahlkampf zu helfen - Trump nennt die EU unterdessen in einem CBS-Interview "einen Feind". Die Debatte über die Flüchtlingsretter geht weiter: Man solle nicht die Moral nur um vermeintlicher Objektivität willen beiseite schieben, meint Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2018 finden Sie hier

Europa

Für einige Sekunden wurde das gestrige WM-Finale durch ein paar Personen unterbrochen, die aufs Spielfeld rannten. Es zeigt sich, dass es sich um Mitglieder von Pussy Riot handelte, die sich russische Polizeiuniformen angezogen hatten, um an den "himmlischen Polizisten" des vor elf Jahren verstorbenen Dichters Dmitri Prigow zu erinnern. Bei ihm hütet der "himmlische Polizist" den Schlaf von Babies, während die irdischen Polizisten politische Gefangene machen. Masha Gessen beschreibt die Aktion im New Yorker: "Anders als die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi, wo Pussy Riot ebenfalls protestierte, hat die Weltmeisterschaft wenig Kritik von westlichen Politikern oder Medien hervorgerufen. Sie ist so ungestört verlaufen, als hätte ein himmlischer Polizist über ihren Schlaf gewacht. Für die Russen, deren Städte mit ausländischen Fußballfans gefüllt waren, entstand auch eine Vision eines anderen Lebens in einem Land, das in eine große und freundliche Welt integriert wäre. 'Der World Cup hat uns an die Möglichkeit eines himmlischen Polizisten in einem wunderbaren Russland der Zukunft erinnert', sagt ein Pussy-Riot-Statement. 'Aber der irdische Polizist, der jeden Tag ins Spiel eingreift und keine Regel kennt, zerstört unsere Welt.'" Der Perlentaucher hatte im Jahr 2003 ein "Vorgeblättert" aus den Erinnerungen Prigows. Letztes Jahr schrieb Marie-Luise Knott aus Anlass der Documenta in einer "Tagtigall" über ihn.

Die Debatte über Seenotretter geht weiter.

An die Adresse der moralischen Reinheitsapostel in der Flüchtlingsfrage und der Debatte über die Seenotretter schreibt Welt-Autor Thomas Schmid: "Eine befriedigende Lösung des Migrationsproblems kann es auf absehbare Zeit nicht geben. Es wird nur die Wahl zwischen zweit-, dritt- und viertbesten Lösungen geben. Deswegen wird das Migrationsproblem quälend bleiben. Der Widerspruch ist nicht auflösbar."

Ganz anderes sieht es Christian Bangel bei Zeit online, ein direkter Kollege Mariam Laus also, der ihr zwar Argumente zugesteht, aber findet, sie hätte es nicht sagen sollen: "Wer die Moral zugunsten vermeintlicher Objektivität auch nur kurz beiseiteschiebt, versachlicht nicht etwa das Gespräch, sondern entmenschlicht es. Er schafft eine Atmosphäre, in der die Menschenwürde nur dann einen Raum hat, wenn sie politisch opportun ist. Ein Land, wie es sich die AfD herbeisehnt. Wer diese Gefahr sieht, der wirft nicht ausgerechnet, wie Mariam Lau, den wenigen Seenotrettern vor, das politische Klima zu vergiften. Der übernimmt nicht von der AfD das Bild vom unaufrichtigen Gutmenschen, dessen selbstsüchtiger moralischer Rigorismus auf Kosten aller anderen gehe."

Auf einen tiefer liegenden Aspekt diese Debatte weist der Migrationsforscher Frank Wolff in der FAZ hin: "Ziehen wir Lehren aus der deutschen, amerikanischen und europäischen Erfahrung, dann gibt es wenig Anlass, sich den Schutz der Demokratie durch die Sicherung der Grenzen gegen die Migration von Zivilpersonen zu erhoffen. Der angebliche Handlungsdruck an den Grenzen verweist zuallererst auf die Erosion des Vertrauens der Politik in den eigenen Staat."

In der SZ unterhält sich Philipp Bovermann mit dem Seenotretter Benedikt Funke, dessen Arbeit in einem Film dokumentiert ist: "Manche der Geretteten konnten nicht mehr gehen. Sie hatten auf den völlig überfüllten Booten gekauert, konnten sich aber kein bisschen bewegen und bekamen dadurch Nervenschäden in den Beinen. Das ist im Film drin. Man sieht dort allerdings nicht, dass sie teilweise auch in die Boote urinieren und sich übergeben mussten. Oft schwamm da eine ätzende Mischung aus Salzwasser und Benzin und hat den Leuten die Haut verätzt. Wir haben Michele, dem Regisseur des Films, gesagt, dass wir solche drastischen Bilder nicht wollen, die das Leid und die Not ausstellen. Mittlerweile bin ich persönlich der Ansicht, wir müssen das erzählen."

Außerdem: Die Rechte in Polen ist vor allem deshalb so stark, weil die Opposition so schwach ist, meint Claus Leggewie, der in der FR seine Reportagereise durch Polen fortsetzt.
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Internet

Seit zwölf Monaten ist die gesamte Wikipedia in der Türkei gesperrt. Anlass waren einige Artikel, denen die türkische Regierung propagandistische Verzerrung vorwarf. Diese Artikel sind längst verändert, schreibt Eileen Hershenov von der Wikimedia Foundation bei Netzpolitik: "Die türkische Blockade ist das weitreichendste Verbot Wikipedias durch eine Regierung in der Geschichte des Projektes... Die betroffenen Artikel unterscheiden sich erheblich von den Versionen, die dem Gericht vor mehr als einem Jahr zur Beurteilung vorlagen. Die Artikel wurden den Wikipedia-Standards entsprechend verbessert und enthalten nun zusätzliche Aussagen von verlässlichen türkischen und internationalen Quellen, decken bei Kontroversen unterschiedliche Seiten ab und verwenden eine neutrale Sprache."
Archiv: Internet
Stichwörter: Wikipedia, Türkei, Netzpolitik

Kulturmarkt

Die Schwierigkeiten der Buchbranche werden nicht verschwinden, wenn sie nicht ein Verhältnis zur Digitalisierung findet, meint Konstantin Nowotny im Freitag. Als Zeugen führt er den Netzjournalisten Lars Sobiraj an, der sich in seinem Blog Tarnkappe.info mit der Thematik befasst: "Sobiraj meint, erschwingliche, hochwertige und legale Angebote wären die einzige effektive Maßnahme gegen den illegalen Markt. In der Musik- und Filmbranche zeichnet sich ab, dass er recht haben könnte. Der Bundesverband Musikindustrie gab für das Jahr 2017 an, dass knapp die Hälfte aller Umsätze mittlerweile mit digitalen Produkten erzielt wird, ein Drittel allein mit dem Streaming. In der Fernsehbranche verlaufen die Entwicklungen ähnlich."

Endlich mal eine erfreuliche Nachricht: Die Stimmung unter den österreichischen Buchhändlern ist gut, berichtet Michael Wurmitzer im Standard. Sie sehen den Einbruch der Umsatzzahlen geradezu positiv - bei anderen. Für die Wiener Buchhändlerin Ulla Harms "geht es darum, 'einen anderen Zugang zum Produkt Buch zu finden'. Gerade Krisen wie beim Aufkommen des E-Books hätten positive Impulse auf die Branche ausgeübt, meint Harms. Manche Verlage hätten sich nach Jahren von billiger Überproduktion plötzlich wieder um wertiges Papier und schöne Umschläge bemüht. Eine Chance in der aktuellen Situation sieht auch Stefan Mödritscher vom Familienunternehmen Morawa. Der Umsatz von 50 Millionen ging zuletzt um zwei Prozent zurück, besorgt klingt Mödritscher aber nicht. Die Menschen hätten Sehnsucht nach Geschichten, sagt er. Was die Branche aber nicht brauche, sei 'more of the same'."
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Politik

Friedhelm Greis beschreibt auf golem.de detailliert, wie die russische Einflussnahme auf den amerikanischen Wahlkampf durch Hacken demokratischer Mailkontos gelang. Anlass ist die FBI-Anklage gegen zwölf russische Geheimdienstler. Aus ihr geht hervor, dass die Hacker unter der Tarnidentität "Guccifer 2.0" operierten und intensiv mit der Plattform Wikileaks zusammenarbeiteten, um dem Wahlkampf Hillary Clintons zu schaden: "Mitte Juli 2016 soll Guccifer schließlich eine Anweisung geschickt haben, um das Archiv mit den kopierten E-Mails herunterzuladen. Dieses wurde von Wikileaks dann am 22. Juli 2016 veröffentlicht. Die E-Mails legten parteiinterne Störmanöver gegen Bernie Sanders offen. Das sorgte für einen Skandal, der schließlich zum Rücktritt von Parteichefin Debbie Wasserman Schultz führte."

In diesem viel retweeteten CBS-Interview nimmt Trump, der heute in Helsinki Wladimir Putin trifft, Stellung zu der FBI-Anklage, und betont außerdem die Notwendigkeit guter Beziehungen zu Russland, während er die EU "einen Feind" nennt. EU-Ratspräsident Donald Tusk reagierte mit einem entschiedenen Tweet: "Wer auch immer sagt, wir seien Feinde, verbreitet Fake-News." Mehr bei Zeit online.

Aber man kommt ja kaum noch hinterher. In der Washington Post resümiert Anne Applebaum noch "Trumps katastrophalen Besuch in Britannien" und wirft einen Blick auf die sich abzeichnende traurige Alternative zu Theresa May. Der eigentliche Nutznießer von Trumps Porzellanladenauftritt könnte Jeremy Corbyn sein: "Jeremy Corbyn, der Führer der Labour Party in jüngster Zeit, ist seit mehr als drei Jahrzehnten konsequent antiamerikanisch, ja antiwestlich. Dies ist ein Mann, der die Ermordung von Osama bin Laden als 'Tragödie' bezeichnet und die NATO für die russische Annexion der Krim verantwortlich gemacht hat."

In der Berliner Gethsemane-Kirche fand ein Gedenkgottesdienst für Liu Xiaobo statt (warum ein Gottesdienst - war Liu Christ?), berichtet Sven Hansen in der taz. Unter anderem hat Wolf Biermann gesungen, Herta Müller trug Gedichte Liu Xias vor, die aber aus Sorge um ihren jüngeren Bruder nicht gekommen war: "Der wurde in einem mutmaßlich fingierten Verfahren wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe verurteilt und ist nur auf Bewährung frei.  Das dient als Druckmittel, um Liu Xia von öffentlichen Auftritten in ihrem neuen Berliner Exil abzuhalten. Doch sollen auch Ärzte der 57-Jährigen, die im Hausarrest unter Depressionen litt, von der Teilnahme abgeraten haben." In der FAZ berichtet Hannah Bethke.
Archiv: Politik