9punkt - Die Debattenrundschau

Paradoxer Kult des Echten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2016. Im Standard geißelt die türkische Autorin Ece Temelkuran die Mitschuld europäischer Politik an den türkischen Entwicklungen. Vanity Fair staunt immer noch sehr über die ideologische Verblendung der Brexit-Kampagne. Die taz porträtiert die junge Feministin Merle Stöver, die sich gern auch mal mit Laurie Penny und Judith Butler anlegt. In Spiegel online staunt der Ökonom Oliver Nachtwey über die modernen Linken, die so egalitär sind, außer, es geht um ihren Nachwuchs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2016 finden Sie hier

Europa

Die türkische Journalistin und Schriftstellerin Ece Temelkuran hat zwar keine Sympathie für Erdogans Autoritarismus, aber der Westen unterschätzt auch die gefährliche Macht der international operierenden Gülen-Bewegung, meint sie im Interview mit dem Standard: "Denken Sie daran, dass das türkische Modell stets von der internationalen Gemeinschaft hervorgehoben wurde. Es war praktisch unmöglich, das Modell in internationalen intellektuellen Zirkeln zu kritisieren. Der Westen sollte sich an seine eigenen Fehler erinnern, die zum Wiedererstarken des Konservatismus der Region geführt haben. Die AKP und die Gülen-Bewegung wurden als magische Kur gegen den radikalen Islam erachtet: der marktfreundliche Islam. Ich wünschte, man würde die säkularen Kräfte nicht nur in der Türkei, sondern in der ganzen Region ernster nehmen."

Die norwegische Außenministerin Elizabeth Vik Aspaker hat die Briten wissen lassen, dass sie sie nicht so gern in der EFTA sähe, einem Zusammenschluss kleiner europäischer Länder außerhalb der EU, die zwar fast so viel zahlen wie Mitglieder, aber keine Rechte haben (außer Freihandel und Freizügigkeit). Henry Porter staunt in der Vanity Fair nachträglich noch einmal über die ideologische Verblendung der Brexit-Kampagne: "Man hätte doch gedacht, dass irgendjemand im Brexit-Lager die Norweger gefragt hätte, bevor man - wie es der britische Außenminister Boris Johnson vor dem Referendum tat - leichthin behauptete, dass das Vereinigte Königreich alle Vorteile des Gemeinsamen Marktes ohne lästige Verpflichtungen genießen könne. Die Briten gelten als eine vernünftige Nation mit einer großen Erfahrung in internationalen Beziehungen. Es ist erstaunlich und ziemlich beschämend, dass sie die norwegischen Einwände nicht voraussahen."

Außerdem: In der FAZ beklagt der Philosoph Wolfgang Scheppe die weitere Untergrabung Pariser Authentizität durch Vermietung privater Wohnungen an Touristen.
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Ideen

Maike Brülls porträtiert in der taz die junge Feministin Merle Stöver, die in der Szene aneckt, weil sie in ihrem Blog Position pro Israel bezieht und Antizionismus nicht von Antisemitismus trennen will - auch die Israel-Boykott-Kampagne, die von den Idolen der Szene unterstützt wird, kritisiert sie, schreibt Brülls: "Kaum verwunderlich, dass Stöver mit Aussagen wie diesen aneckt. Vor allem, weil sie sich auch nicht scheut, bekannte Feministinnen wie Laurie Penny oder Judith Butler in ihren Antisemitismus-Vorwurf miteinzubeziehen. Weil Merle Stöver sie namentlich in der Ankündigung zu ihrem Vortrag 'Antisemitismus im Feminismus' beim Barcamp Frauen im März in Berlin erwähnte, ging Penny sie öffentlich an. Das wiederum löste einen riesigen Shitstorm aus. Stöver erhielt private Nachrichten mit Gewaltandrohungen und öffentlichen Beleidigungen." Einen Hintergrund zum Streit Penny-Stöver gibt's bei der Jungle World.

Rechte Parteien wie die AfD oder der Front National sind derzeit im Aufwind, weil die Linke keine "alternative Erzählung" für die absteigende Mitte anzubieten hat, meint im Interview mit Spon der Soziologe Oliver Nachtwey, der für sein Buch "Die Abstiegsgesellschaft" von der Kritik viel gelobt wurde. Das zeige sich sehr deutlich am Umgang mit dem eigenen Nachwuchs: "Denken Sie an die sogenannten Helikopter-Eltern. Die sagen häufig, sie schicken ihr Kind schon mit vier Jahren zum Mandarin lernen, damit es gebildet ist. In Wirklichkeit wollen sie aber auch, dass es in Zukunft, wenn es noch viel härter wird da draußen, der Konkurrenz standhalten kann. Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen - aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht."

In der NZZ denkt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über den Kult der Authentizität nach, der absurde Formen angenommen hat: "Selbst in den Casting-Shows und Scripted-Reality-Sendungen des Fernsehens, den Sphären eines besonders aggressiven Realitätsdopings, regiert ein paradoxer Kult des Echten und Wahren, ein Spiel mit Schicksalen und Tränen, dem plötzlichen Ausflippen und der scheinbar spontanen Attacke. Es ist ein Spiel, das klaren Drehbüchern folgt und Nicht-Inszeniertheit im Medium der Totalinszenierung suggerieren soll."
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Politik

In einem beeindruckenden kleinen Essay für die New York Times schildert Lina Sergie Attar, die in Aleppo aufwuchs, wie sie aus der Ferne die Bilder aus ihrer Heimatstadt und die Karten mit den sich verschiebenden Frontlinien verfolgt: "Ich studiere diese Karten und rechne aus, wie weit meine Wohnung von der Frontlinie entfernt ist. Meine Nachbarschaft schwankt vom Westen Aleppos (der von der Regierunsseite gehalten wird, d. Red.) in den Osten. Wird sie das nächste Ziel von Assads Fassbomben sein? Oder wird sie der Gnade der Rebellen ausgeliefert, die versprochen haben, Privateigentum nicht zu plündern und Zivilisten nicht umzubringen? Warum sollte meine Wohnung verschont bleiben, wenn das für Millionen andere nicht gilt? So fühlt es sich an, wenn sich deine Stadt vor deinen Augen zerlegt, ein konstantes Schwanken zwischen Schuld und Erleichterung, Furcht und Stolz."
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Stichwörter: Aleppo, Syrien, Ausgeliefert

Wissenschaft

Immer wieder melden Medien die Entdeckung einer "zweiten Erde", das heißt eines Planeten mit einigermaßen passendem Abstand zu einer Sonne. Und immer wieder und auch jetzt erklärt Florian Freistetter bei den Scienceblogs, warum das Quatsch ist: "Man muss wissen, wie groß und schwer der Planet ist. Wie weit entfernt er von seinem Stern ist. Man muss ebenfalls wissen, wie seine Atmosphäre zusammengesetzt ist. Idealerweise weiß man auch noch über Phänomene wie tektonische Aktivität oder ein Magnetfeld Bescheid. Denn all das bestimmt die Bedingungen auf der Oberfläche und die Lebensfreundlichkeit. Mit den technischen Mitteln die uns derzeit zur Verfügung stehen können wir das aber gar nicht feststellen. "
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Stichwörter: Astronomie

Gesellschaft

Der Horrorklassiker "Tanz der Teufel", der von der Bundesprüfstelle seit den Achtzigern indiziert war, ist nun endlich freigegeben. Thomas Groh mokiert sich in der taz über die altmodische Zensurpraxis in Deutschland: "Die sehr deutsche, sehr bürokratische Praxis des Indizierens und Beschlagnahmens ist in der heutigen Medienkultur so possierlich und anachronistisch wie eine Videokassette, kostet aber viel Steuergeld, das woanders besser aufgehoben wäre."

Im Standard geht Tobias Moorstedt der neue hippe Lokalpatriotismus - "100 % Meidlinger" - gewaltig auf den Keks: "Donald Trump wird seine Mauer an der Grenze zu Mexiko nie errichten. Aber in unseren Köpfen haben die Bauarbeiten längst begonnen: 'Zu Hause ist es doch am schönsten', 'Hauptsache es schmeckt'. Da erscheint es fast heilsam, dass der Suhrkamp-Verlag Ende des Jahres einen neuen Thomas-Bernhard-Band herausgeben wird, Düsseldorf oder München oder Hamburg: lauter Provinzen, Untertitel: Städtebeschimpfungen: 'Salzburg, Augsburg, Regensburg, Würzburg, ich hasse sie alle, weil in ihnen jahrhundertelang der Stumpfsinn warmgestellt ist.'" Darauf ein Craft-Bier!
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