9punkt - Die Debattenrundschau

Im grünen Tarnhemd

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2015. Hat die Regierung geflunkert?, fragt Zeit online, nachdem sich herausstellte, dass die Amerikaner nicht auf einer Geheimhaltung der "Selektorenliste" beharrten. Marica Filipovic vom Nationalmuseum in Sarajewo erklärt in der taz, warum das Land nicht vorankommt. An die Adresse Anja Reschkes sagt Mikolaj Ciechanowicz in der Welt, dass der Aufstand der Anständigen schon Tag für Tag stattfindet. Jeff Jarvis verlangt im Observer einen Journalismus, der nicht permanent wiederholt, was nur einen Klick entfernt ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.08.2015 finden Sie hier

Überwachung

Hat die Regierung den NSA-Untersuchungsausschuss angeflunkert? Die letzte Entscheidung über eine Freigabe der berühmten Selektorenliste sei der Bundesregierung überlassen worden, berichtet Martin Klingst in der Zeit online mit Bezug auf Obama-Berater. "Auch sei es eine "absolute Mär", dass die US-Regierung mit einer Einschränkung der Geheimdienstkooperation gedroht habe, sollte die Liste öffentlich werden."

Christian Rath ahnt in der taz, dass der Vorwurf des Landesverrats jetzt häufiger auf Journalisten zukommen könnte: "Erst in jüngster Zeit hat der Gesetzgeber den Schutz der Pressefreiheit verbessert. Seit 2012 ist im Strafgesetzbuch festgehalten, dass Journalisten, die ein vertrauliches Dokument veröffentlichen, sich nicht wegen Beihilfe zur Verletzung von Dienstgeheimnissen strafbar machen (§ 353 b). Es ist wohl auch kein Zufall, dass nun andere Möglichkeiten ausgetestet werden, gegen Journalistinnen und Journalisten vorzugehen - und sei es mit der juristischen Superkeule des Landesverrats. Deshalb muss nun versucht werden, auch hier einen expliziten Schutz der Pressefreiheit einzubauen."

Josef Joffe erklärt sich in der Zeit das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihren Geheimdiensten mit der Zahnlosigkeit der Kontrolleure, die über die Medien spielen müssen, wenn sie in den Gremien auf Granit stoßen.
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Europa

Seit drei Jahren ist das Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina geschlossen. Im taz-Interview mit Thomas Brock beklagt die stellvertretende Direktorin Marica Filipovic den ethnischen Separatismus im Land, der dafür verantwortlich sei: "Alles was heute in der Politik zählt, sind Nationalität und Religion. Das Land ist ethnisch gesäubert, Dörfer und Städte sind verlassen worden, andere sind um ein Vielfaches gewachsen. Es hat sich so viel verändert, und wir als Volkskundler konnten nicht einmal untersuchen oder dokumentieren, wie sich im und nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina die Demografie, das soziale Miteinander und die Lebenskultur verändert haben."

Das verarmte, korrupte und diktatorische Kosovo, aus dem die Menschen jetzt zu Tausenden fliehen, ist auch das Produkt einer völlig gescheiterten europäischen Interventionspolitik, erinnert Caspar Shaller in einer Reportage in der Zeit, in der er auch völlig hoffnungslose Menschen zu Wort kommen lässt: "Früher, vor dem Zerfall Jugoslawiens, vor den ethnischen Säuberungen, vor dem Krieg und der Unabhängigkeit, gab es in der Gegend von Mirash Ölraffinerien, Minen, eine Schuhfabrik. Heute ist da nichts mehr. Im ganzen Kosovo lebt ein Drittel der Bevölkerung von weniger als 1,80 Euro pro Tag, die Arbeitslosigkeit beträgt 50 Prozent. "Heute gibt es zwar keine Gewalt mehr, sagt der Fahrer des Fiats, der zum nächsten Laden holpert, "aber ansonsten ist alles schlimmer geworden."""

An die Adresse Anja Reschkes, die in ihrem berühmten Tagesthemen-Kommentar den enormen Mut an den Tag legte, Selbstverständlichkeiten zu sagen, schreibt Mikolaj Ciechanowicz in der Welt: "Der Aufstand der Anständigen findet bereits statt, Tag für Tag in den Aufnahmelagern, wo Freiwillige mithelfen, in den Arztpraxen, die dem Ansturm der Bedürftigen kaum gewachsen sind und trotzdem weiterarbeiten, aber auch in den Medien und sozialen Netzwerken, wo der relevante Teil dieser Gesellschaft zeigt, dass Hass und Ablehnung die Haltung einer Minderheit sind. Zu diesem Teil der Gesellschaft gehören auch Menschen mit meinen Erfahrungen: neue Deutsche, die selbst einmal Schutz und Heimat in Deutschland gesucht haben."

In der FAZ fragt Patrick Bahners im gleichen Zusammenhang, ob die Versammlungsfreiheit vor Flüchtlingsheimen beschnitten werden sollte. In der taz prangert Ines Kappert die "soziale Verwahrlosung" der Berliner Behörden an, die Tausende von Flüchtlingen unter katastrophalen Bedingungen und ohne Wasser in der Hitze schmoren ließen. Hilfe sei nur von privaten HelferInnen gekommen. Der Standard berichtet von den Innsbrucker Festwochen, die sich mit der Flüchtlingsthematik auseinandersetzen und bei deren ERöffnung sich Bundespräsident Heinz Fischer gegen Hasskommentare im Internet wandte.

Außerdem: Italien-Liebhaberin Petra Reski klagt im Zeit-Feuilleton über deutsche Arroganz und Ignoranz, weil die Mafia den Süden in Armut hält, Europa die kleinen Ölkännchen verbietet und Matteo Renzi genauso korrupt und unfähig ist wie Berlusconi, aber niemand in Berlin Beppe Grillo ernst nimmt. Oder so. Sonja Zekri meldet in der SZ eine neue Eskalation im russisch-ukrainischen Kulturkampf, da die Ukraine eine Liste mit 38 russischen Titeln auf die Schwarze Liste gesetzt hat.
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Gesellschaft

Niklas Maak wendet sich in der FAZ gegen Sozialbauten "im grünen Tarnhemd" und greift eine Vorschlag des Architekten Arno Brandlhuber auf, der die Traufhöhe in Berlin um ein paar Meter erhöhen will: "Damit soll privaten Hausbesitzern der Aufsatz von luxuriösen und lukrativen Penthäusern ermöglicht werden, wenn das Belichtung und Belüftung der Nachbarhäuser nicht beeinträchtigt - und wenn sie sich, und das ist der wesentliche Punkt, im Gegenzug verpflichten, über den ganzen Lebenszyklus des Gebäudes eine Etage für 6,50 Euro pro Quadratmeter zu vermieten, um so den dringend benötigten Wohnraum für Geringverdiener zu schaffen."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Brandlhuber, Arno, Städtebau

Politik

Mit Blick auf die linken Aktivisten vom Unsichtbaren Komitee, dessen Sabotageakte die französische Justiz von terroristischen zu kriminellen Taten herabgestuft hat, erklärt Joseph Hanimann, warum Revolutionäre von heute gegen die Bewegung und für den Stillstand plädieren: "Als die etablierte Macht statisch gewesen sei, habe man mit Bewegung und Erschütterung dagegen angehen müssen: Heute hingegen sei sie selber reine Bewegung, also sei die Lahmlegung von Verkehrs-, Geld-, Informationsflüssen der Anfang jedes revolutionären Akts - lautet die Grundüberlegung."
Archiv: Politik

Medien

Im Zeitalter der Massenmedien agierte jedes Medium für sich und hatte exklusiven Zugang zu seinem Publikum. Das Problem mit der Logik der Massenmedien im Internet ist, dass die Leser nun sehen, wie sich überall die gleichen Inhalte wiederholen, meint Jeff Jarvis im New York Observer und fordert einen Journalismus, der spezifische und unwiederholbare Inhalte liefert: "Ein Maß für diesen Wert ist natürlich, dass manche Leute bereit sind, Journalisten zu bezahlen. Es geht mir zu Herzen, dass die Krone des Journalismus, die New York Times, heute eine Million digitale Abonnenten hat und dass die Financial Times, die heute stark von ihren Lesern getragen wird, 1,3 Milliarden Dollar wert ist. Aber dies sind die großen Ausnahmen. Die meisten Publikationen sind schlicht nicht gut genug, um dafür zu bezahlen und produzieren zu viel von dem, das nur einen Klick entfert ist."

Wikileaks hat Whistleblowern 100.000 Euro für vertrauliche Informationen über das Freihandelsabkommen TTIP angeboten. In der SZ kann das alte Schlachtross Hans Leyendecker die Empörung über diese neue Form des Scheckbuch-Journalismus nicht teilen: "Der frühere Zeit-Herausgeber Theo Sommer hat diesen Konflikt mal in einer Augstein-Hommage beschrieben. Viele rümpften übers Scheckbuch die Nase, schrieb Sommer. Er nicht. Die Zeit habe zwar niemals Geld für Informationen bezahlt. "Aber wir sind da ein bisschen in der Lage der Klosterschülerin, deren Schulgeld die Mutter auf dem Strich verdient.""
Archiv: Medien