9punkt - Die Debattenrundschau

Grundlegende Abwehrhaltung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2015. Die EU reagiert auf die Flüchtlingskatastrophe mit einer Verdreifachung der Mittel für die Grenzkontrollen - mehr Flüchtlinge will man auf keinen Fall aufnehmen, resümiert Politico.eu den gestrigen Sondergipfel in Brüssel. Bundespräsident Gauck sprach gestern Abend den Satz mit "Völkermord" aus, der heute auch im Bundestag gesagt werden wird. Die türkische Gesellschaft ist in der Auseinandersetzung mit dem Thema wesentlich weiter als die türkische Politik, konstatiert die FAZ. Und der BND scheint in Wirklichkeit für die NSA zu arbeiten, hat Spiegel Online herausgefunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.04.2015 finden Sie hier

Europa

Die Ergebnisse des EU-Gipfels zur Flüchtlingskatastrophe sind enttäuschend, schreibt Craig Winneker bei Politico.eu. Man gibt ein bisschen mehr fürs "Triton"-Programm aus - das war"s: "Die EU wird nun 9 Millionen Euro jährlich für Triton ausgeben, aber es gibt keine Vereinbarung, die Triton-Aufgabe von Grenzkontrolle auf ein aktiveres Rettungsprogramm umzustellen... Es gab auch keine Vereinbarung für ein freiwilliges Programm, um Flüchtlinge über ganz Europa zu verteilen. Die politischen Realitäten der Immigrationsdebatte erwiesen sich als schwierig. "In Ländern mit starker Einwanderungsdebatte gibt es eine klare Zurückhaltung, wenn es darum geht, sich stärker zu engagieren", sagt Charles Michel, Belgiens Premierminister. "Es war eine harte Diskussion." Belgien gehörte zu den Ländern, die mehr Flüchtlinge aufgenommen hätten, aber Michel sagt, dass andere Länder eine Vereinbarung verhinderten." Europa hat vor den Populisten gekuscht.

Dem stimmt Albrecht Meier im Tagesspiegel zu: "Da ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien nicht absehbar ist, gehört zu einer ehrlichen Diskussion über den Umgang mit den Flüchtlingen nämlich auch das Eingeständnis, dass die EU-Staaten noch mehr von ihnen werden aufnehmen müssen."

Im SZ-Magazin gibt es ein sehr wunderbares Gespräch über Paris hundert Tage nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo, in dem sich der Autor Karim Miské, die Politikerin Rashida Dati, der Architekt Yves Lion und Künstlerenkel Oliver Picasso sehr lebhaft streiten. Und die Autorin und Witwe Maryse Wolinski erzählt, dass sie gerade vom Friedhof kommt: "Ich musste entscheiden, was auf dem Grabstein meines Mannes stehen soll. Es wird das Datum draufstehen, 7. Januar 2015. Und: Ermordet. Darauf bestehe ich. Er ist ja nicht einfach so gestorben. Mir war dann so kalt, dass ich mich zu Hause aufwärmen musste, bevor ich hierher kommen konnte."

Weiteres: Hans-Hagen Bremer porträtiert im Tagesspiegel die 36-jährige französische Erziehungsministerin Najat Vallaud-Belkacem, die den schulischen Deutschunterricht abschaffen will.
Archiv: Europa

Geschichte

Die türkische Gesellschaft ist in der Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern wesentlich weiter als die türkische Politik, schreibt der Korrespondent der FAZ, Michael Martens: "Eine Gruppe von Historikern und Intellektuellen protestierte unlängst in einem offenen Brief an die Regierung gegen den "offenen Hass und die Feindschaft" in der Darstellung der Ereignisse von 1915 in türkischen Schulgeschichtsbüchern, die immer noch voll von nationalistischem Gerümpel sind. Über die Deportationen von 1915 erfahren türkische Schüler darin fast nichts, und über das hunderttausendfache Sterben der Armenier enthalten die Bücher nur einen Halbsatz an der Schwelle zur Lüge." Zu den Unterzeichnern gehört Orhan Pamuk.

In seiner Rede zum Jahrestag des Völkermords an den Armeniern sagte Bundespräsident Joachim Gauck gestern Abend jenen Satz, der auch in der Petition des Bundestag steht, berichtet Spiegel online mit Agenturen: "Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist." In einer weiteren Passage "ging er auch auf die Mitschuld des Deutschen Reiches ein, im Ersten Weltkrieg Verbündeter des Osmanischen Reiches. Auch die Deutschen müssten sich insgesamt "noch der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht"."

In der taz begrüßt der Publizist Jürgen Gottschlich, dass sich die deutsche Regierung zum Begriff "Völkermord" durchringen konnte und stellt fest: "Die deutsche Entscheidung ist keine Verurteilung der Türkei, sondern in allererster Linie ein Anerkenntnis eigener Mitschuld. Wenn die erste Empörung in Ankara sich gelegt hat, könnte das sogar ein Signal sein, welches es der türkischen Regierung leichter macht, sich aus ihrer jetzigen Sackgasse herauszumanövrieren. Deutsche Diplomatie hat Erfahrung mit Wiedergutmachungsfragen und der Aufarbeitung historischer Schuld. Es wäre hervorragend, wenn man der Türkei damit in aller gebotenen Vorsicht helfen könnte."

Ariane Bonzon stellt auf slate.fr einige Graphic Novels zum Völkermord an den Armeniern vor, darunter "Mission spéciale, Némésis" von Jean-Blaise Djian und Jan Varoujan, die auf der folgenden Seite die Ermordung Talaat Pachas, eines der Hauptverantwortlichen für den Völkermord, in Berlin 1921 zeigt - auf allzu genaues Lokalkolorit legt der Zeichner offenbar keinen Wert!



Weiteres zum Thema: Fürs Feuilleton der FAZ schreibt Christian H. Meier über die Nachfahren der Opfer in der Türkei heute. In der taz informiert Selcuk Oktay über Stiftungen, die versuchen, das 1915 von der Türkei konfiszierte armenische Eigentum zurückzubekommen; der Politologe Ruben Mehrabyan benennt im Interview den deutschen Umgang mit dem Holocaust als geeignetes Vorbild für den Umgang der Türken mit dem Völkermord an den Armeniern; und Isil Cinmen erinnert an den um Verständigung zwischen Türken und Armeniern bemühten, 2007 ermordeten Journalisten Hrant Dink.

Seit langem gibt es Streit um die sogenannten Elgin Marbles, einen antiken Kunstschatz aus 15 Metopen und 56 Reliefdarstellungen, den Thomas Bruce, der siebte Earl of Elgin, als britischer Botschafter in Konstantinopel Anfang des 19. Jahrhunderts aus Athen nach England überführte und der heute im British Museum steht. Wie nicht anders zu erwarten hat die britische Regierung die Ansprüche Griechenlands erneut zurückgewiesen, berichtet Georges Waser in der NZZ: "Allerdings befürwortete Sir Richard Lambert, der Aufsichtsratspräsident des Museums, in einem Brief an die Unesco "direkte Gespräche" mit den Griechen. Zu Leihgaben sei man bereit, so Lambert, aber nur, wenn deren Rückkehr nach London garantiert werde. Doch gerade für eine solche Idee hatte Athen bisher kein Ohr, widerspricht man dort doch der Ansicht, dass Lord Elgin "mit der Erlaubnis der damaligen Behörden" handelte."

Weiteres: Im Interview mit der FR spricht der Historiker Ian Kershaw über die frappierende Stabilität und den wirksamen Terror des NS-Systems in den letzten Kriegswochen. Andreas Kilb (für die FAZ) und Stephan Speicher (für die SZ) besuchen die Ausstellung zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Historischen Museum, die auch Eckhard fuhr in der Welt bespricht.
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Überwachung

Der BND hat offenbar jahrelang für die NSA die Kommunikation europäischer Unternehmen und Politiker ausgespäht, melden Maik Baumgärtner, Hubert Gude, Marcel Rosenbach und Jörg Schindler auf Spiegel Online. Das geschah im Rahmen der Praxis, bei der der BND auf Wunsch der NSA seine eigenen Daten aus der elektronischen Überwachung von Telefon- und Internetverkehr nach sogenannten Selektoren, also Telefonnummern, E-Mail- oder IP-Adressen, durchsucht und den US-Partnern die gefundenen Überwachungsdaten weitergeleitet: "Mindestens seit dem Jahr 2008 fiel BND-Mitarbeitern mehrfach auf, dass einige dieser Selektoren dem Aufgabenprofil des deutschen Auslandsgeheimdienstes zuwiderlaufen - und auch nicht von dem "Memorandum of Agreement" abgedeckt sind, das die Deutschen und die Amerikaner zur gemeinsamen Bekämpfung des globalen Terrorismus 2002 ausgehandelt hatten. Stattdessen suchte die NSA gezielt nach Informationen etwa über den Rüstungskonzern EADS, Eurocopter oder französische Behörden. Der BND nahm das offenbar jedoch nicht zum Anlass, die Selektorenliste systematisch zu überprüfen."

Für Markus Beckedahl (netzpolitik) ist das "nicht nur ein politischer Skandal, sondern die Verantwortlichen sind zugleich Gesetzesbrecher. Dass die Ermittlungsbehörden nicht ihrerseits aktiv werden und Verstöße gegen die Strafgesetze, die eine Beihilfe zu geheimdienstlicher Agententätigkeit auf deutschem Boden verbieten und bestrafen, ist der Skandal im Skandal."
Archiv: Überwachung

Internet

Deprimierend liest sich Christian Heises Resümee der Netzpolitik der Bundesregierung bei sueddeutsche.de: "Acht Monate nach der Veröffentlichung der "Digitalen Agenda" der Bundesregierung kann man festhalten: Die Netzpolitik der schwarz-roten Koalition ist ein Witz. Sie ist gekennzeichnet durch fehlenden Sachverstand und eine grundlegende Abwehrhaltung gegenüber der Digitalisierung."
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Medien

René Martens geht in der taz den Rechercheverbünden auf den Grund, mit denen die Öffentlich-Rechtlichen und einige Printmedien ihren Burgfrieden zementieren - der bekannteste ist der zwischen NDR, WDR und SZ: "Ex-Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo, Dirigent und Gesicht des NDR/WDR/SZ-Verbunds, etwa hat seinen Arbeitsplatz beim NDR, wird aber als freier Mitarbeiter separat von der SZ und den beiden Sendern bezahlt. Der NDR sagt, es gebe keine förmlichen Vereinbarungen zwischen den drei Beteiligten. Wenn man zusammenarbeite, handle es es sich um projektbezogene Kooperationen."

(Via Carta) Seine Lesegewohnheiten haben sich durch das Netz so sehr geändert, dass er etwa beim Lesen des Spiegel vor kurzem regelrecht fremdelte, schreibt Christoph Kappes bei Carta: "Mal war ein Kasten links wichtig, mal eine Headline im unteren Drittel oder auch etwas oben rechts. Ich kann es kaum in Worte fassen, aber die Kombination aus Bildanzahl und frei layouteten Textmengen macht mir zu schaffen, strengt mich an, machte mich irgendwie ungehalten. Und wenn ich ein beeindruckendes Bild sehen wollte, war ein verzerrender Knick in der Mitte." Und dann die folgenden Fragen: "Warum soll ich lesen, was ich nicht teilen kann? Warum soll ich lesen, was ich nicht kopieren kann, was ich nicht kommentieren kann?"
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