9punkt - Die Debattenrundschau

So gehen die Deutschen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2014. Im Tagesspiegel erklärt Justizminister Heiko Maas, den deutschen Mordparagrafen endlich von der Handschrift Roland Freislers befreien zu wollen. Der Harvardprof Jonathan Zittrain versteht immer noch nicht, warum der EuGH Google entscheiden lassen möchte, was wir lesen dürfen. In Frankreich kann man der Amazon-Flatrate wenigstens eine gute Seite abgewinnen, meldet Rue 89. Im Guardian besteht Edward Snowden darauf, dass es keinen Unterschied gibt zwischen on- und offline. In der taz fühlt sich Klaus Theweleit schamlos betrogen: von der ARD, dem DFB und der Nationalelf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.07.2014 finden Sie hier

Internet

Auch in Frankreich versetzte Amazons Ankündigung der Bücherflatrate "Kindle Unlimited" die Buchbranche in Angst und Schrecken, berichtet Philippe Vion-Dury auf Rue89.fr. Vor allem hinsichtlich kleiner schon etablierter Anbieter von E-Books - wie Youboxx - fürchtet man die rücksichtslose Gefräsigkeit des "notorischen Raubtiers" Amazon. Doch zumindest ein gute Seite hätte die Entwicklung, so Fabien Sauleman von Youboxx:"Die Piraterie von literarischen Werken nimmt rasant zu und vielleicht stellt ja das "Streaming" von Büchern eine Antwort auf diese Bedrohung dar."

(via neunetz) Bis jetzt schlägt Google sich wacker, was das "Recht auf Vergessen" angeht, meint der amerikanische Juraprof Jonathan Zittrain in seinem Blog. Aber er findet es doch immer noch mehr als fragwürdig, dass der EuGH die Entscheidung darüber, welche Informationen die Öffentlichkeit erhalten soll, in die Hände eines Konzerns legt: "To place Google in that role is to diminish Europe"s sovereign power, not enhance it, even if the role is compelled by European authorities. It turns a rights problem into a customer service issue, and one that Google and others in its position no doubt rightly disdain. If Google can process 70,000 requests, so can and should the data protection authorities. And not every public decision needs the full, lawyer-heavy trial format to be sufficient to the cause - any more than Google is using it now. This would place decisions about rights in the public sphere where they belong, and limit the scope to the sovereign"s jurisdiction, so a European decision would still not affect use beyond the relevant country-specific Google portals."

Außerdem: In der SZ präsentiert Johannes Boie warnende Beispiele dafür, wie sehr unser Leben bereits von Algorithmen bestimmt ist. In der taz präsentiert Simone Schlindwein ein positives Beispiel: Kongos Ingenieurinnen entwickeln intelligente Verkehrssysteme, um die horrenden Unfallzahlen zu senken.
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Politik

Bundesjustizminister Heiko Maas annonciert im Tagesspiegel eine Reform der Tötungsdelikte im Strafgesetzbuch. Dazu gehört auch der 1941 umgeschriebene Mordparagraf, den der Nazi-Richter Roland Freisler maßgeblich mitbeeinflusst hatte: "Das geltende Tötungsstrafrecht beschreibt nicht, wann eine Tat ein Mord ist, sondern es beschreibt einen Menschentypus mit moralisch aufgeladenen und schwammigen Gesinnungsmerkmalen wie "niedrige Beweggründe" oder "Heimtücke". Das ist die beklemmende Beschreibung eines Mörders, wie ihn sich Freisler vorgestellt hat. Nach der kruden Ideologie der Nazis wurde man nicht durch seine Tat zum Mörder, sondern man war es von jeher."

Der als moderat geltende Präsident Irans, Hassan Rohani, hatte kürzlich erklärt, man könne die Menschen nicht mit Gewalt ins Paradies schleifen. Dagegen regt sich nun massiver Widerstand der Konservativen, berichtet Bahman Nirumand in der taz: ""Wenn unser Anliegen rein wirtschaftlicher und materieller Art gewesen wäre, hätten wir 1979 keine Revolution zu machen brauchen", sagt der Geistliche Mesbah Yasdi. Seine Vorstellung vom Islam ist gesellschaftlich allumfassend; sie bestehe eben nicht allein aus Beten, Fasten und religiösen Trauerfeiern, sagt er. Auf der Webseite des Obersten Rats der Kulturrevolution heißt es dazu genauer: "Ziel des Rats ist die Erstellung eines Modells zur Entwicklung der Gesellschaft vom jetzigen zu einem Idealzustand.""

Außerdem: Auf Zeit oline erklärt Gil Yaron, warum ihn nichts wütender macht "als der Argumentationsstrang, der den völkerrechtswidrigen Terror der Hamas als zwingendes Resultat der israelischen Besatzung beschreibt". Und in der Welt sieht Richard Herzinger wenig Chancen auf eine "wahrhaftige, lückenlose Aufklärung" des Abschusses einer Zivilmaschine über der Ostukraine.
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Überwachung

Der Guardian hat jetzt sein mehrstündiges Interview mit Edward Snowden online gestellt, mit Transkription. Hier eine Zusammenfassung. Einer der wichtigsten und viel zu selten ausgesprochenen Punkte ist Snowdens Bestehen darauf, dass es keinen Unterschied gibt zwischen on- und offline: "Snowden is not against targeted surveillance. But he returns to the philosophical, ethical, legal and constitutional objections to security agencies routinely seizing digital material from innocent people, when they would not dream of entering their houses to plant spy cameras, or walk off with personal diaries and photographs. If these things are wrong in analogue life, why not in our digital lives?"
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Ideen

Martin Mulsow analysiert in der NZZ die Dynamik von Gelehrtenfamilien: "Heute würde es befremden, wenn ein Luhmann-Sohn den Soziologie-Lehrstuhl seines Vaters erklimmt, ein Koselleck junior dort anfängt, wo der Senior aufgehört hat. Aber im 16. oder 17. Jahrhundert war das normal. In Basel etwa verknüpfen sich die Namen Amerbach, Zwinger, Bernoulli, Buxtorf, Burckhardt, Iselin oder auch Merian jeweils mit einer solchen gelehrten Dynastie. Allein die Bernoullis sind Legion: Jöchers Gelehrten-Lexikon bemüht sich redlich, all die Johanns, Nikoläuse und Jakobs auseinanderzuhalten, die deshalb als Johann I, Johann II, Jakob I, Jakob II usw. durchnummeriert werden. Und fast alle sind sie Mathematiker, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, so wie alle Buxtorfs Hebraisten sind."

Und: In der taz erklärt der Philosoph Wilhelm Schmid, warum Arbeit nicht alles ist.
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Kulturpolitik

Andreas Kilb möchte in der FAZ, dass Kulturstaatsministerin Monika Grütters ganz schnell einen Intendanten für das Humboldt-Forum ernennt, der die geplante Abschottung der Wissenschaftler in den oberen Stockwerken verhindert: "Man muss sich das vorstellen: An der Schnittstelle zwischen dem Rummelplatz im Parterre und den Museen in den Obergeschossen herrscht Windstille."
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Medien

(via BoingBoing) David Boardman, Präsident der American Society of News Editors, ärgert sich schwarz über den Optimismus, den amerikanische Verleger mit ihren Zahlen verbreiten. Klar, die verbliebenen Leser sind treu, aber: "I recently learned from internal sources that for one major newspaper, the average age of its daily readers moved from 55 to 60 in just 18 months. What will it be by 2020?" Boardman sieht wenig Hoffnung für Tageszeitungen, aber für ein Wochenblatt! Sein Vorschlag: "So, I say to publishers: Invest in a superb, in-depth, last-all-week Sunday (or better yet, Saturday) paper, a publication so big and rich and engaging that readers will devour it piece by piece over many days, and pay a good price for that pleasure. ... Then turn your attention and your resources where they belong now: Creating meaningful, engaging and sustainable news products for emerging technologies, where most of you are already woefully behind such innovative rivals as Vox and Vice."
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Geschichte

Das GULag-Museum "Perm 36", das einzige als Gedenkstätte erhaltene Straflager für politische Gefangene in Russland, soll zerstört werden, berichtet Ann-Dorit Boy in der FAZ. Außerdem druckt die FAZ auf einer Seite die Rede des Historikers Jürgen Osterhammel auf dem Geburtstagsempfang für Angela Merkel: "Vergangenheiten - Über die Zeithorizonte der Geschichte".
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Gesellschaft

Klaus Theweleit fühlt sich "schamlos betrogen" von ARD und DFB, die die Feier der Fußball-Nationalelf auf der Berliner Fanmeile inszeniert haben. Und wieso hat kein Journalist dies bemerkt: "EM 2008, 30. 6., "Deutschland Elf Empfang auf der Fanmeile". Die deutschen Spieler werden aufgerufen nach Gruppen; zuerst die drei Torhüter: Lehmann, Adler, Enke. Sie tragen weiße Trikots; und was steht da groß auf der Brust: So gehen die Deutschen. Auch alle folgenden tragen das. Und sie springen hoch dazu, als Homo-sapiens-Ausweis, wie jetzt die Deppen in Berlin. Der "Affengang" (damals) wird den Spaniern angehängt (obwohl die ja die Sieger waren, 2008); und auch noch einigen anderen Nationen, unter tönender Mithilfe des unsäglichen Knallkopfs Oliver Pocher. Und siehe, wer steht da, 2008: Miro Klose; auf der Brust: "So gehen die Deutschen". Und nun der Clou. DFB-Chef Niersbach, seine Feiermasken in Schutz nehmend, teilt der Presse mit, der Gaucho-Walk sei ja nur ein ganz spontan entstandener harmloser Feierspaß. Spontan! Das war die Wiederholung einer Inszenierung von 2008. Die alle doch gesehen haben. Mit dem offiziellen DFB-Slogan: "So gehen die Deutschen!""
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Stichwörter: ARD, Fußball-WM, Theweleit, Klaus, Dfb